Kapitel 14

 

Dämonendämmerung

 
 

Eigentlich war es Basset gar nicht möglich zu sprechen, doch es gelang ihm, ein einziges Wort hervorzupressen. »Niemals.«

Abbot verstärkte seinen Druck. »Niemals, sagst du? Aber du müsstest doch wissen, dass niemals hier auf Hybras jederzeit sein kann.«

Dann tat Abbot etwas, zu dem eigentlich kein Dämon nach dem Krampf in der Lage sein dürfte: Er aktivierte die Magie in seinem Innern und leitete sie in seine Augen. »Du gehörst mir«, sagte er zu Basset im unwiderstehlichen Tonfall des Blicks.

Die anderen waren so konditioniert, dass bereits eine Andeutung des Blicks genügte, um sie zu unterwerfen, doch für Bassets jungen, wachen Verstand brauchte Abbot jeden einzelnen Funken Magie. Magie, die er gestohlen hatte und die nach dem Gesetz der Unterirdischen niemals dazu verwendet werden durfte, andere Unterirdische mit dem Blick zu beeinflussen.

Bassets Gesicht war dunkelviolett, und die Schuppenschicht auf seiner Stirn knackte hörbar. »Du gehörst mir!«, wiederholte Abbot und starrte unnachgiebig in Bassets gepeinigte Augen. »Du wirst mich nie wieder infrage stellen.«

Zu Bassets Ehrenrettung muss gesagt werden, dass er mehrere Sekunden gegen den Blick ankämpfte, bis die Macht der Magie buchstäblich eine Ader in seinem Auge zum Platzen brachte. Doch als das Blut sich in seinem Augapfel ausbreitete, erlosch Bassets Widerstand, und an seine Stelle trat gefügige Dumpfheit.

»Ich gehöre Ihnen«, leierte er. »Ich werde Sie nie wieder infrage stellen.«

Abbot schloss einen Moment die Augen, um die Magie in sein Inneres zurückzuholen. Als er sie wieder öffnete, lächelte er zuckersüß. »Das ist gut. Freut mich wirklich, das zu hören, Basset. Ich meine, deine einzige andere Option wäre dein augenblicklicher, qualvoller Tod gewesen, da ist es doch viel besser, als hirnloser Schoßhund weiterzuleben, oder?«

Er stand auf und reichte Basset großmütig die Hand. »Sie sind gestürzt«, sagte er mitfühlend, wie ein Arzt zu seinem Patienten, »und ich helfe Ihnen auf.«

Basset blinzelte verträumt. »Ich werde Sie nie wieder infrage stellen.«

»Oh, das ist jetzt nicht mehr wichtig. Setzen Sie sich einfach, und tun Sie, was ich Ihnen sage.«

»Ich gehöre Ihnen«, sagte Basset.

Abbot tätschelte ihm die Wange. »Und die anderen meinten, wir würden uns nicht verstehen.«

Abbot kehrte zu seinem Stuhl am Kopfende des Tisches zurück. Der Stuhl mit der hohen Lehne bestand aus den Körperteilen diverser Tiere. Abbot setzte sich und strich zärtlich über die Armlehnen. »Ich liebe diesen Stuhl«, sagte er. »Das heißt, eigentlich ist es eher ein Thron als ein Stuhl, womit wir beim zentralen Thema dieser Versammlung wären.« Abbot griff unter die Lederschabracke des Stuhls und zog eine derbe Bronzekrone hervor. »Ich denke, es ist an der Zeit, dass der Rat mich zum König auf Lebenszeit erklärt«, sagte er und setzte sich die Krone auf den Kopf.

Dieses neue Konzept eines Königs auf Lebenszeit würde nicht leicht zu verkaufen sein. Ein Dämonenrudel wurde stets vom Stärksten angeführt, und dessen Position als Führer war immer gefährdet. Abbot hatte nur deshalb so lange überlebt, weil er sich jeden, der ihn herausforderte, mit dem Blick gefügig machte.

Die meisten Ratsmitglieder standen schon so lange unter Abbots Bann, dass sie die Erklärung hinnahmen wie einen königlichen Erlass, doch einige von den Jüngeren zuckten unwillkürlich, als ihre wahren Überzeugungen mit dieser neuen, abstoßenden Vorstellung rangen.

Doch ihr Widerstand hielt sich nicht lange. Abbots Erklärung breitete sich wie ein Virus in ihrem Bewusstsein und Unterbewusstsein aus und vernichtete jeglichen Protest im Keim.

Abbot rückte seine Krone zurecht. »Genug debattiert. Wer dafür ist, sage graaargh!«

»GRAAARGH!«, heulten die Dämonen und trommelten mit ihren Schwertern und Eisenhandschuhen auf den Tisch.

»Hoch lebe König Leon«, soufflierte Abbot.

»HOCH LEBE KÖNIG LEON!«, wiederholte der Rat wie ein Käfig voller Papageien.

Die Hochrufe wurden von einem Soldatendämon unterbrochen, der durch die Tür des Versammlungshauses hereingestürzt kam.

»Da ist... da war ein großer...«

Abbot riss sich die Krone vom Kopf. Das gemeine Volk war noch nicht bereit für diese Neuerung. »Ein großer was?«, herrschte er den Eindringling an.

Der Soldat hielt inne und rang nach Luft. Schlagartig wurde ihm klar, dass er gut daran tat, das Ausmaß der Ereignisse beim Vulkan treffend zu schildern, weil Abbot ihn sonst für die Störung der Versammlung schlichtweg köpfen würde.

»Da war ein großer Blitz.« Ein großer Blitz? Das klang zu mickrig. »Äh... noch mal von vorne. Ein riesiger Blitz ist aus dem Vulkan geschossen. Zwei vom Jagdtrupp waren in der Nähe. Sie sagen, da wären ein paar Neulinge angekommen. Vier Wesen.«

Abbot runzelte die Stirn. »Wesen?«

»Zwei sind vermutlich Dämonen. Aber die anderen beiden konnten die Jäger nicht einordnen.«

Abbot erkannte sofort den Ernst der Lage. Diese Wesen konnten Menschen sein oder womöglich sogar überlebende Zauberer. Wenn es Zauberer waren, würden sie ihm garantiert auf die Schliche kommen. Ein Dämon mit echter Magie wäre genug, und es wäre aus mit der Herrschaft über das Rudel. Er musste die Situation dringend unter Kontrolle bringen. »Gut. Der Rat wird sich darum kümmern. Fürs Erste geht niemand dort hinauf.«

Der Adamsapfel des Soldaten hüpfte nervös auf und ab. »Zu spät, Master Abbot. Das gesamte Rudel ist auf dem Weg zum Vulkan.«

Abbot war an der Tür, noch bevor der Soldat den Satz beendet hatte. »Folgt mir!«, befahl er den Dämonen am Tisch. »Und nehmt eure Waffen mit.«

»GRAAARGH!«, brüllte der gesamte ihm hörige Rat.

 
* * *
 

Artemis war überrascht, wie ruhig er war. Man sollte annehmen, dass ein vierzehnjähriger Menschenjunge vollkommen verängstigt reagiert, wenn er ein ganzes Rudel Dämonen auf sich zustürmen sieht, doch bei Artemis war die Neugier größer als die Angst.

Er blickte über die Schulter zurück in den Krater, aus dem sie gerade erst herausgeklettert waren.

»Ich fürchte, mit uns geht's bergab«, sagte er leise und schmunzelte über seinen Scherz.

Holly hatte es gehört. »Welch passender Moment für Artemis Fowl, um zu entdecken, dass er Humor hat.«

»Normalerweise würde ich Pläne schmieden, aber diesmal bin ich nicht zuständig. Qwan hat jetzt das Sagen.«

Nr. 1 führte sie entlang des Kraterrandes zu einem niedrigen Felsvorsprung, neben dem ein Holzpfahl in den Boden gerammt war. An dem Pfahl hingen Dutzende von Silberarmbändern, die meisten davon angelaufen und rußverschmiert. Nr. 1 nahm ein paar davon ab.

»Die legen die Dimensionenspringer hier ab«, erklärte er, während er die Armbänder verteilte. »Für den Fall, dass sie zurückkehren. Bis jetzt hat es keiner geschafft. Außer Leon Abbot natürlich.«

Qwan schob sich ein Armband über das Handgelenk. »Dimensionenspringen ist Selbstmord. Ohne Silber bleibt kein Dämon länger als ein paar Sekunden an einem Ort. Sie treiben zwischen den Zeiten und Dimensionen umher, bis sie von irgend wem erlegt werden oder verhungern. Wir verdanken es nur unserer Magie, dass wir hier gelandet sind. Ich bin erstaunt, dass dieser Abbot zurückgekommen ist. Wie lautet sein Dämonenname?«

Nr. 1 spähte den Hang hinunter. »Sie können ihn selbst fragen. Da drüben kommt er.«

 
* * *
 

Für Nr. 1 war es ein denkwürdiges Wiedersehen. Keine Umarmungen, kein Champagner, kein tränenreicher Austausch von Erinnerungen. Vor allem die Knirpse waren erpicht darauf, die Neuankömmlinge aufzuspießen und sich damit zu beweisen. Artemis war ihr Hauptziel. Wahnsinn, ein echter, lebender Mensch hier auf Hybras. Und so gefährlich sah er gar nicht aus.

Artemis und seine Gefährten waren auf dem Felsvorsprung geblieben und harrten der Dinge, die da auf sie zukamen. Sie brauchten nicht lange zu warten. Als Erste erreichten die Knirpse den Vorsprung, außer Atem vom Anstieg und völlig versessen darauf zu töten. Wäre Qwan nicht gewesen, sie hätten Artemis auf der Stelle in Fetzen gerissen. Wobei auch Holly ihren Teil dazu beitrug, Artemis am Leben zu halten. Sie empfing die ersten Knirpse mit einer Ladung aus ihrer Neutrino, woraufhin der Rest schleunigst auf Abstand ging. Danach lenkte Qwan sie ab, indem er einen bunten, tanzenden Affen in die Luft zauberte.

Kurz darauf hatte jeder Dämon, der noch laufen konnte, den Vulkan erklommen und starrte fasziniert auf den magischen Affen.

Selbst Nr. 1 war hingerissen. »Was ist das?«

Qwan ließ seine Finger flattern, woraufhin der Affe einen Purzelbaum schlug. »Das ist eine ganz einfache magische Konstruktion. Statt die Funken nach Lust und Laune herumfliegen zu lassen, ordne ich sie zu einer erkennbaren Form. Mit etwas Übung wirst du diese Art von Mikrokontrolle auch beherrschen.«

»Nein«, sagte Nr. 1. »Ich meine, was ist das?«

Qwan seufzte. »Ein Affe.«

Je größer das Gedränge wurde, desto aufgepeitschter waren die Dämonen. Die Krieger verkeilten die Hörner ineinander, um ihre Stärke zu demonstrieren. Sie schlugen sich gegenseitig mit der Faust auf den Brustpanzer und schärften unter drohendem Gebrüll die Schwerter an den Felsen.

»Ich vermisse Butler«, seufzte Artemis.

»Ich auch«, sagte Holly, während sie versuchte, die gefährlichsten unter den Dämonen auszumachen. Keine leichte Aufgabe. Jeder in dem Gewühl wirkte, als wollte er sich im nächsten Moment auf die Neuankömmlinge stürzen. Holly hatte natürlich schon dreidimensionale Modelle von Dämonen gesehen, jedoch noch nie ein echtes Exemplar. Die Modelle waren durchaus wirklichkeitsgetreu, aber ihnen fehlte die Mordlust in den Augen und das unheimliche Geheul, das die echten Dämonen im Schlachtfieber ausstießen.

Abbot drängelte sich in die vorderste Reihe, und Holly richtete sofort ihre Waffe auf ihn.

»Qwan!«, rief Abbot überrascht aus. »Sie leben? Ich dachte, die Zauberer wären alle tot.«

»Außer dem, der Ihnen geholfen hat«, entgegnete Nr. 1, bevor er sich bremsen konnte.

Abbot wich einen Schritt zurück. »Ja, natürlich. Außer dem.«

Qwan ballte die Hand zur Faust, und der Affe verschwand. »Ich kenne dich«, sagte er langsam, während er in seinem Gedächtnis kramte. »Du warst in Taillte. Du warst ein Dissident.«

Abbot richtete sich zu voller Größe auf. »Ganz recht. Ich bin Abbot der Dissident. Wir hätten niemals hierherkommen dürfen. Wir hätten gegen die Menschen kämpfen müssen. Die Zauberer haben uns verraten!« Er zielte mit seinem Schwert auf Qwan. »Sie haben uns verraten!«

Die anderen Dämonen knurrten und rasselten mit ihren Waffen.

Abbot sah sich die übrigen Neuankömmlinge genauer an. »Ein Mensch! Das da ist ein Mensch. Sie haben den Feind zu uns geführt. Wie lange wird es dauern, bis der Rest in ihren Metallvögeln folgt?«

»Metallvögel?«, sagte Artemis auf Gnomisch. »Welche Metallvögel? Wir haben doch nur Armbrüste, schon vergessen?«

Ein überraschtes Ooh ertönte, als die Dämonen hörten, dass dieses Menschenwesen ihre Sprache beherrschte, wenn auch mit leichtem Akzent.

Abbot beschloss, das Thema zu wechseln. Dieser Junge machte seine ganze Geschichte kaputt. »Und eine Elfe hast du auch angeschleppt, Zauberer! Noch dazu mit einer magischen Waffe. Die Elfen haben uns in Taillte verraten!«

Qwan hatte allmählich genug von dem Theater. »Ich weiß, alle haben euch in Taillte verraten. Warum gibst du nicht einfach den Befehl, der dir auf den Nägeln brennt? Du willst uns töten. Also gib den Befehl und warte ab, ob deine Gefährten das einzige Wesen angreifen, das sie retten kann.«

Abbot erkannte, dass er sich auf äußerst gefährlichem Boden bewegte. Diese elende kleine Bande musste ausgeschaltet werden. Und zwar bald. »Ihr wollt unbedingt sterben? Nun, das könnt ihr haben.«

Er richtete sein Schwert auf die kleine Gruppe und holte gerade Luft, um »Tötet sie!« zu brüllen, oder vielleicht auch »Tod den Verrätern!«, als Qwan mit den Fingern schnippte. Der Wirkung halber unterlegte er es mit einer kleinen Magie-Explosion.

»Jetzt weiß ich es. Dein Name ist nicht Abbot. Du bist N'zall, der Idiot, der den Zeitbann ruiniert hat. Aber du siehst anders aus als früher. Die roten Runen sind neu.«

Abbot zuckte zusammen, als hätte er eine Ohrfeige verpasst bekommen. Ein paar von den älteren Dämonen kicherten hämisch. Abbot erwähnte seinen Dämonennamen nicht gern, was nicht weiter überraschend war, denn N'zall bedeutete in der alten Dämonensprache »Kleinhorn«.

»Ja, du bist es wirklich. Jetzt fällt mir alles wieder ein. Du und dieser andere Schwachkopf, Bludwin, ihr wart gegen den Zeitbann. Ihr wolltet die Menschen bekämpfen.«

»Das will ich immer noch«, brüllte Abbot, bemüht, nach der Erwähnung seines richtigen Namens Haltung zu bewahren. »Einer von ihnen steht da. Mit ihm können wir anfangen.«

Nun packte Qwan die Wut, zum ersten Mal, seit er ins Leben zurückgekehrt war. »Wir hatten alles berechnet. Wir hatten einen Siebenerkreis im Krater aufgebaut, die Lava kochte, und alles war unter Kontrolle - und dann bist du mit Bludwin hinter einem Felsen hervorgesprungen und hast den Kreis durchbrochen.«

Abbots Lachen klang hohl. »Unsinn. Sie waren zu lange fort. Sie sind ja verrückt.«

Aus Qwans Augen sprühten blaue Funken, und Magie umwaberte seine Arme. »Deinetwegen war ich zehntausend Jahre lang eine Statue.«

»Niemand hier glaubt Ihnen auch nur ein Wort, Zauberer.«

»Doch, ich«, sagte Nr. 1. Und auch unter den Dämonen waren einige, die es glaubten. Man konnte es in ihren Augen lesen.

»Du hast versucht, uns Zauberer umzubringen!«, fuhr Qwan aufgebracht fort. »Es gab ein Gerangel, und Bludwin fiel in den Krater. Seine Energie hat den Bann verfälscht. Und dann hast du meinen Lehrling Qweffor in die Lava gezerrt. Ihr seid beide darin versunken, das habe ich gesehen.« Mit gerunzelter Stirn versuchte Qwan, sich an alle Einzelheiten zu erinnern. »Du bist nicht gestorben, weil der Bann bereits begonnen hatte zu wirken. Aber wohin seid ihr verschwunden, Qweffor und du?«

Nr. 1 kannte die Antwort darauf. »Er ist in der Zukunft gelandet. Er hat den Menschen unsere Geheimnisse verraten, im Austausch gegen ein Buch und eine alte Waffe aus dem Museum.«

Abbot richtete das Schwert auf ihn. »Eigentlich hatte ich vor, dich am Leben zu lassen, Winzknirps.«

Nr. 1 spürte, wie sich die Wut in seinem Bauch zusammenballte. »So wie beim letzten Mal, ja? Sie haben mir befohlen, in den Krater zu springen. Sie haben mich mit dem Blick betäubt!«

Abbot war in einer schwierigen Lage. Natürlich konnte er den Befehl zum Angriff geben, aber dann würde er hinterher eine Menge Fragen beantworten müssen, und er konnte schließlich nicht alle mit dem Blick betäuben. Aber wenn er Qwan weiterreden ließ, würden womöglich mehr Geheimnisse aufgedeckt werden, als ihm lieb war. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, nur hatte er die dummerweise nicht. Er würde auf Verstand und Waffen setzen müssen, um aus dieser vertrackten Situation herauszukommen.

»Ich soll dich mit dem Blick betäubt haben? Red doch keinen Unsinn. Dämonen verfügen nicht über Magie. Wir verabscheuen Magie.« Abbot schüttelte ungläubig den Kopf. »Wie komme ich überhaupt dazu, mich diesem Weichei gegenüber zu rechtfertigen? Halt den Mund, Nummer Eins, oder ich nähe ihn dir zu und werfe dich in den Krater.«

Qwan schätzte es gar nicht, dass sein neuer Lehrling so abfällig behandelt wurde. »Jetzt habe ich aber genug von dir, N'zall. Du wagst es, Zauberer zu bedrohen? Nummer Eins, wie du ihn nennst, besitzt mehr Kraft, als du jemals haben wirst.«

Abbot lachte. »Wenn du damit Magie meinst, hast du ausnahmsweise mal recht, alter Zauberer. Ich habe in der Tat keinen Funken Magie in mir. Aber dafür habe ich die Kraft meiner Faust und die Unterstützung des Rudels.«

Artemis riss allmählich der Geduldsfaden. »Schluss jetzt mit dem Gezanke«, sagte er und trat neben Qwan. »Der Zeitbann ist dabei, sich aufzulösen, und wir müssen die Rückkehr vorbereiten. Für diese Reise brauchen wir alle Magie, die wir kriegen können. Auch Ihre, N'zall oder Abbot oder wie immer Sie heißen.«

»Ich spreche nicht mit Menschenwesen«, knurrte Abbot. »Und wenn, würde ich wiederholen, dass ich über keine Magie verfüge.«

»Ach, kommen Sie«, schnaubte Artemis. »Ich kenne die Nebenwirkungen des Blicks. Zum Beispiel ausgefranste Pupillen und blutunterlaufene Augen. Einige von Ihren Freunden hier sind schon so oft mit dem Blick bearbeitet worden, dass ihre Pupillen kaum noch zu erkennen sind.«

»Und woher soll ich die Magie haben?«

»Die haben Sie im Zeittunnel gestohlen. Ich nehme an, Sie und Qweffor sind durch die Kombination von Lava und Magie regelrecht miteinander verschmolzen. Als Sie schließlich in der jüngeren Vergangenheit der Erde landeten, haben Sie es geschafft, einen Teil der Zauberermagie in sich zu behalten.«

Das klang selbst für die Intelligenteren unter den Anwesenden ziemlich weit hergeholt. Abbot erkannte, dass er den Blick gar nicht benötigen würde, um die anderen von der Lächerlichkeit dieser Theorie zu überzeugen.

Abbot machte sich demonstrativ über Artemis lustig. Er plusterte sich auf, fuhr sich mit den Krallen über die geschwungenen Hörner und stieß lautes Hohngelächter aus. Bald darauf lachte fast das gesamte Rudel.

»Was du nicht sagst, Kleiner«, sagte Abbot, als das Gejohle verklungen war. »Ich habe die Magie also im Zeittunnel gestohlen. Du scheinst den Verstand verloren zu haben, Menschenjunge. Vielleicht liegt das daran, dass ich meinen Knirpsen gleich befehlen werde, dir die Knochen aus dem Leib zu reißen und das Mark herauszusaugen. Und selbst wenn deine Behauptung wahr wäre, woher willst du das wissen? Woher sollte ein Menschenwesen so etwas wissen?«

Abbot grinste selbstgefällig, überzeugt, dass darauf unmöglich eine befriedigende Antwort kommen konnte.

Artemis Fowl grinste zurück und hielt den Zeigefinger in die Luft. Genau genommen war es sein Mittelfinger, da die beiden ja im Zeittunnel vertauscht worden waren. Von der Fingerspitze löste sich ein blauer Funke, der in einem winzigen Feuerwerk explodierte. »Ich weiß, dass man Magie stehlen kann«, sagte er, »weil ich selbst welche gestohlen habe.«

Auf diese Eröffnung folgte verdutztes Schweigen, dann brach Qwan in lautes Gelächter aus. »Ich habe dir gesagt, du wärst klug, Menschenjunge. Aber ich habe mich geirrt, du bist unglaublich. Selbst im Zeittunnel hast du noch Pläne geschmiedet. Du hast also etwas von der Magie mitgehen lassen?«

Artemis zuckte die Achseln und ließ die Funken verlöschen. »Sie trieb einfach so herum. Ich war neugierig, was passieren würde, wenn ich sie aufnehme.«

Qwan musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Jetzt weißt du es. Du bist verwandelt. Ein magiebegabtes Wesen wie wir. Ich hoffe, du wirst diese Gabe weise verwenden.«

»Das hat uns gerade noch gefehlt«, stöhnte Holly. »Artemis Fowl mit magischen Fähigkeiten.«

»Nun, wenn wir Mister N'zall mitzählen, dann hätten wir fünf magiebegabte Wesen beisammen. Genug, um den Zeitbann rückgängig zu machen.«

Abbot war erledigt, und das wusste er. Die anderen Dämonen musterten ihn befremdet. Sie fragten sich offensichtlich, ob er sie mithilfe seiner Magie manipuliert hatte. Einige der mit dem Blick bearbeiteten Ratsmitglieder begannen sogar, gegen ihre geistigen Ketten anzukämpfen. Es war nur eine Frage von Minuten, bis sein Traum vom Königtum sich für immer auflösen würde.

Ihm blieb nur noch eine Chance.

»Tötet sie! Alle!«, brüllte er. Leider kam es nicht ganz so kriegerisch heraus, wie er es sich gewünscht hätte. »Knirpse, ihr habt freie Bahn.«

Die noch unter seinem Einfluss stehenden Ratsmitglieder zogen ihre Schwerter, allerdings nicht ganz so enthusiastisch wie erhofft. Die Knirpse waren derart begeistert, endlich etwas töten zu dürfen, das nur zwei Beine hatte, dass sie mit ungebremster Kampflust vorwärtsstürmten.

»Blut und Knochen!«, heulte einer, und alle anderen fielen ein. Nicht besonders geistreich, aber die Botschaft kam an.

Holly war nicht sonderlich beunruhigt. Ihre Neutrino schoss so schnell, wie sie zielen konnte, und wenn sie auf Fächerstrahl schaltete, konnte sie sämtliche Dämonen und Knirpse betäuben, bevor sie Schaden anrichteten. Zumindest theoretisch.

Sie schob Artemis beiseite, stellte sich breitbeinig hin und feuerte los. Die Laserladungen schossen in einem fächerförmigen Strahl aus der Mündung der Waffe und schleuderten die Dämonen zu Boden, wo sie mindestens zehn Minuten liegen bleiben würden. Nur dass sie das nicht taten. Fast alle standen sofort wieder auf. Sogar die Knirpse schüttelten die Strahlen ab, als wären es lediglich leichte Windstöße.

Holly runzelte die Stirn. Das konnte doch nicht sein. Aber sie wagte nicht, die Ladung zu verstärken, da sie niemandem dauerhaften Schaden zufügen wollte. »Qwan?«, rief sie. »Die Laserstrahlen scheinen nicht zu wirken. Fällt Ihnen etwas anderes ein?«

Holly wusste, dass Zauberer in Kampfsituationen ziemlich nutzlos waren. Es widersprach ihrer Grundauffassung, anderen Lebewesen etwas Böses zu tun, und sie setzten ihre Macht nur in der äußersten Not in dieser Weise ein. Bis Qwan seine pazifistische Natur überwunden hätte, wäre es zu spät.

Während Qwan sich am Kinn kratzte, feuerte Holly weiter. Jede Ladung brachte ein paar Dämonen zu Fall, doch innerhalb von Sekunden waren sie wieder auf den Beinen.

»Die Ratsmitglieder, die unter dem Einfluss des Blicks stehen, kann ich heilen«, sagte Qwan. »Aber das Gehirn ist empfindlich. Ich brauche direkten Kontakt.«

»Dafür ist keine Zeit«, erwiderte Holly und drückte erneut auf den Abzug. »Artemis, hast du eine Idee?«

Artemis hielt sich den Bauch. »Ich muss mal ganz dringend aufs Klo. Eben ging's mir noch gut, aber jetzt...«

Holly wünschte, ihre Flügel würden funktionieren. Von oben wäre es viel einfacher zu zielen. »Aufs Klo? Das ist doch nicht dein Ernst, oder?«

Ein Dämon schaffte es, trotz des Laserfeuers durchzubrechen. Er kam so nah, dass Holly ihn riechen konnte. Sie wich seinem Streitkolben aus und versetzte ihm einen Tritt gegen die Brust, dass ihm die Luft wegblieb und er japsend zu Boden ging.

»Ich muss aufs Klo, und Ihre Neutrino wirkt kaum noch, Holly. Die Zeit beschleunigt sich. Wir befinden uns in einem Sog.« Artemis packte Holly an der Schulter - und jagte ihre nächste Salve in hohem Bogen in die Luft.

»Ich muss zu der Bombe. Sie kann jeden Moment hochgehen.«

Holly schüttelte ihn ab. »Kleiner Sicherheitstipp, Artemis: Lenk mich nicht ab, während ich schieße. Qwan, können Sie irgendwas tun, damit wir Zeit gewinnen?«

»Zeit.« Qwan lächelte. »Wissen Sie, eigentlich ist es paradox, dass wir Zeit gewinnen müssen, denn...«

Holly knirschte mit den Zähnen. Warum nur musste sie immer diese Denker am Hals haben?

Nr. 1 reagierte auf den Angriff zugleich ängstlich und nachdenklich. Die Gründe für die Angst lagen auf der Hand: drohende Verstümmelung, schmerzhafter Tod und so weiter. Aber andererseits war er ein Zauberer, und da musste er doch etwas tun können. Vor dem Dimensionensprung wäre er angesichts dieses plötzlichen und wüsten Angriffs vollkommen gelähmt gewesen. Mittlerweile waren die Dämonen jedoch nicht mehr das Schlimmste, was er erlebt hatte. Wenn er an die Wachen in dem Herrenhaus dachte, diese riesigen Kerle mit den Anzügen und den Feuerstäben... Er sah sie noch ganz deutlich vor sich.

Statt die Funken nach Lust und Laune herumfliegen zu lassen, ordne ich sie zu einer erkennbaren Form.

Nr. 1 konzentrierte sich auf die Menschen in seiner Erinnerung, umhüllte sie mit seiner Magie und holte sie hervor. Er spürte, wie sie Gestalt annahmen. Es war ein Gefühl, als würde das Blut in seiner Stirn zu Eis erstarren. Als der Druck zu groß wurde, stieß er sie hinaus in die Wirklichkeit. Wie aus dem Nichts erschienen geisterhafte Abbilder von einem Dutzend menschlicher Söldner, die mit Automatikpistolen um sich ballerten. Es war ein spektakulärer Anblick. Selbst Abbot wich erschrocken zurück. Die anderen machten direkt kehrt und rannten davon.

»Nette Idee, Qwan«, sagte Artemis.

Qwan war verwirrt. »Du kannst meine Gedanken lesen? Oh, du meinst die Menschenwesen. Das war ich nicht. Nummer Eins ist ein sehr mächtiger kleiner Zauberer. Noch zehn Jahre, und er könnte diese Insel ganz allein durch Zeit und Raum bewegen.«

Abbot stand einsam und verlassen wenige Meter vor Artemis und seinen Gefährten, das Schwert in der Hand, umschwirrt von einem blauen Kugelhagel. Eins musste man dem Rudelführer lassen, er bewahrte Haltung und sah dem sicheren Tod auf dämonenhafte Weise entgegen - mit gezückter Waffe und kriegerischer Miene.

Qwan schüttelte den Kopf. »Seht euch das an. Genau diese Art idiotischer Starrköpfigkeit hat uns überhaupt erst den Schlamassel eingebrockt.«

Abbot hatte genug Erfahrung mit Magie, um schnell zu begreifen, dass diese neuen Menschenwesen und ihre Geschosse nur Illusion waren. »Kommt zurück, ihr Trottel«, rief er seinen Soldaten hinterher. »Die können euch nichts tun.«

Artemis tippte Holly auf die Schulter. »Tut mir leid, wenn ich Sie nochmals ablenke, aber wir müssen zurück zu der Bombe. Alle zusammen. Und wenn es irgendwie geht, locken Sie Abbot auch dorthin.«

Holly verpasste Abbot ein paar Ladungen, um Zeit zu gewinnen. Der Rudelführer flog hintenüber, als hätte ein Riese ihm mit dem Holzhammer vor die Brust geschlagen.

»Okay, wir können los. Artemis, du übernimmst die Führung. Ich bilde die Nachhut und versuche, sie uns vom Leib zu halten.«

Sie liefen zurück in den Krater und rutschten auf den Fersen über die Aschekruste. Der Weg nach unten ging schneller als der Aufstieg, war jedoch genauso tückisch. Holly hatte es am schwersten, weil sie sich rückwärts bewegte, die Neutrino im Anschlag, um jeden abzuschrecken, der es wagte, auch nur ein Haar über den Kraterrand zu strecken.

Es war eine Szene wie aus dem Albtraum eines Fünfjährigen: stechender Gestank, der in Augen und Kehle brannte, ein Untergrund, der die Füße verschlang, ein rot glühender Himmel, keuchender Atem und wummernder Herzschlag. Ganz zu schweigen von der ständigen Angst, dass die Dämonen ihnen folgten.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Die Explosion von Qwans fehlgeleiteter Magie hatte die Auflösung des Zeittunnels beschleunigt, und er war kurz davor, endgültig zusammenzubrechen. Unglücklicherweise würde der Zusammenbruch in umgekehrter Richtung erfolgen und somit auf Hybras beginnen. Das wusste Artemis, doch er hatte keine Zeit für genauere Berechnungen gehabt. Er vermutete, dass es bald passieren würde. Aber wer wusste schon, wann bald war, wenn man sich in einem Zeitsog befand?

Plötzlich merkte Artemis, dass es mehr als nur eine Vermutung war. Er wusste, dass der Zusammenbruch des Tunnels unmittelbar bevorstand. Er spürte es, denn er hatte jetzt die Verbindung zur Magie. Er war Teil von ihr, und sie war Teil von ihm.

Artemis legte sich Qwans Arm um die Schultern und half dem Zauberer, vorwärtszukommen. »Schnell. Wir müssen uns beeilen.«

Der alte Zauberer nickte. »Spürst du es auch? Chaos liegt in der Luft. Sieh dir Nummer Eins an.«

Artemis wandte sich um. Nr. 1 folgte ihnen, so schnell er konnte, aber sein Gesicht war schmerzverzerrt, und er massierte sich die Stirn.

»Er ist sensibel«, keuchte Qwan. »Das liegt an der Pubertät.«

Auf einmal erschien Artemis die menschliche Pubertät gar nicht mehr so schlimm.

 
* * *
 

Holly war gestresst. Ihre jahrelange Ausbildung und Berufserfahrung hatten sie nicht darauf vorbereitet, gemeinsam mit einem Menschenwesen und zwei Angehörigen einer angeblich ausgestorbenen Spezies, die unter ihrem Schutz standen, den Rückzug in einen Vulkankrater anzutreten, und das Ganze noch dazu während eines Zeitsogs.

Der Zeitsog stellte nicht nur ihre Körperfunktionen auf den Kopf, er beinflusste auch die Schüsse. Sie feuerte eine Salve Richtung Kraterrand, doch ein Teil der Strahlen verschwand einfach auf halbem Weg. Wohin gehen diese Schüsse?, fragte Holly sich flüchtig. In die Vergangenheit?

Gruppen von Geisterbildern tauchten vorübergehend auf und vermittelten den Eindruck, es wären doppelt so viele Dämonen da wie zuvor. Obendrein krampfte sich plötzlich ihr Magen vor Hunger zusammen, und sie hätte schwören können, dass sie ihre Fingernägel wachsen spürte.

Abbots Dämonen näherten sich rasant, und nicht in einem dichten Pulk, wie Holly gehofft hatte. Sie hatten sich rund um den Krater verteilt und griffen in einer geordneten Welle an. Es war ein Furcht einflößender Anblick: Scharen von Kriegern, deren Runen in dem rötlichen Licht glühten, sprangen mit gefletschten Zähnen, die Hörner schüttelnd, über den Rand, und ihr markerschütterndes Schlachtgeheul hallte von den Kraterwänden wider. Das hier war anders als die Kämpfe mit den Trollen. Trolle besaßen ein paar grundlegende Jagdinstinkte, aber diese Dämonen waren organisiert und kampferprobt. Sie hatten bereits erkannt, dass sie sich verteilen mussten, um den Laserladungen auszuweichen.

Holly zielte auf den Rudelführer. Hallo, Abbot, dachte sie. Egal, was hier weiter passiert, du gehst mit Kopfschmerzen nach Hause.

Sie schoss drei Ladungen auf ihn ab. Zwei gingen buchstäblich ins Nichts, aber eine traf und schleuderte Abbot auf die Aschekruste.

Holly tat, was sie konnte, vergrößerte den Radius bis zum Anschlag und schaltete die Neutrino auf Automatik. Wenn sie ihre komplette Kampfausrüstung dabeigehabt hätte, wäre das Ganze kein Problem gewesen. Ein paar Blitzgranaten im richtigen Moment hätten das gesamte Dämonenrudel betäubt, und mit dem Impulssturmgewehr hätte sie die Bande ein paar Jahrhunderte zurückhalten können. Doch sie hatte nur eine Handlaserwaffe, keinerlei Verstärkung, und zu allem Überfluss befand sie sich in einem Zeitsog, der die Hälfte ihrer Salven verschluckte. Wie sollte sie Abbot und seinen Anhang so lange zurückhalten, bis Artemis bei der Bombe war? Und selbst wenn es ihr gelang, was dann?

Die Dämonen rückten immer weiter vor, geduckt und ständig in Bewegung. Im Laufen schossen sie mit ihren Armbrüsten Bolzen ab, die nicht vom Zeitsog weggeschnappt wurden. Natürlich nicht. Die Laserstrahlen von Hollys Neutrino waren bewusst so eingestellt, dass sie kurzlebig waren: Sobald sie Kontakt mit der Luft hatten, lösten sie sich nach fünf Sekunden auf, sofern sie nicht extra darauf programmiert wurden, länger stabil zu bleiben.

Zum Glück war die Reichweite der Bolzen nicht groß genug, aber sie trafen nicht mehr so kurz wie noch wenige Minuten zuvor. Die Zeit lief ihnen davon - in mehr als einer Hinsicht.

Ein Trio besonders waghalsiger Knirpse durchbrach Hollys Deckung. Die Art ihrer Fortbewegung war verrückt und selbstmörderisch. Nur schieres Glück bewahrte sie davor, sich den Schädel einzuschlagen: Die drei benutzten einen ledernen Schild als Schlitten und rutschten darauf den Innenhang des Kraters runter, hin und her geworfen über Steilhänge und Felsvorsprünge.

Im einen Augenblick waren sie noch fünfzig Meter entfernt, im nächsten konnte Holly bereits den Schweiß auf ihren Stirnschuppen riechen. Sie schwenkte den Lauf ihrer Pistole, um sie ins Visier zu nehmen, doch es war zu spät. Und natürlich nutzten die anderen Jungdämonen die Ablenkung, um an Boden zu gewinnen.

Die drei Knirpse starrten sie gierig und mit gefletschten Zähnen an. Einer von ihnen wirkte besonders wild, und aus seinen Poren drang ein zäher Schleim.

Einen endlosen Moment lang schienen die drei still in der Luft zu verharren, dann geschah etwas Seltsames. Die Luft flimmerte, und die Wirklichkeit zerfiel vorübergehend in einzelne Pixel wie auf einem fehlerhaften Bildschirm. Holly wurde von heftiger Übelkeit gepackt, und die Knirpse verschwanden schlagartig, mitsamt einem Kraterstück von zwei Metern Durchmesser.

Holly wich von dem Wurmloch zurück, das sich vor ihren Füßen aufgetan hatte und sofort wieder kollabierte.

Nr. 1 fiel auf die Knie und übergab sich, »Der Bann«, keuchte er. »Er löst sich auf. Die Anziehung des Mondes ist jetzt stärker als das Silber. Niemand ist mehr sicher.«

Artemis und Qwan ging es da noch ein wenig besser. Noch.

»Ich bin älter und nicht mehr so leicht zu beeindrucken«, sagte Qwan. »Deshalb ist mir nicht übel.« Er hatte kaum ausgesprochen, da übergab er sich ebenfalls.

Artemis ließ dem alten Zauberer keine Zeit, sich zu erholen, denn die Zeit gab es nicht mehr. Sie verdichtete sich und löste sich gleichzeitig auf. »Los«, drängte er. »Vorwärts.«

Holly erhob sich mühsam und half Nr. 1 auf die Beine. Über ihnen auf dem Abhang waren die Dämonen angesichts der verschwundenen Knirpse erstarrt, setzten sich nun jedoch mit noch grimmigerer Entschlossenheit in Bewegung. Zweifellos glaubten sie, Holly sei für das Verschwinden ihrer kleinen Brüder verantwortlich.

Mit donnerndem Getöse wurden immer öfter ganze Stücke von Hybras in den Zeittunnel gesogen. Einige würden auf der Erde wieder auftauchen, andere irgendwo im All. Von den Dämonen, die das Pech hatten, mitgerissen zu werden, würde vermutlich keiner überleben. Nicht ohne konzentrierte Magie, die ihnen den Weg wies. Artemis kämpfte sich die letzten Meter bis zu der Bombe und kniete sich davor. Mit dem Ärmel wischte er die Asche von der Anzeige und beobachtete den Zähler eine Weile, wobei er immer wieder leise nickte.

Allem Anschein nach verhielten sich die Zahlen vollkommen beliebig: Mal jagten sie vor, dann wieder verlangsamten sie sich oder liefen sogar rückwärts. Doch Artemis war überzeugt, dass das Ganze nach einem Muster ablief. Magie war nichts anderes als eine besondere Form von Energie, und Energie gehorchte bestimmten Regeln. Er musste nur den Zähler beobachten und den Rhythmus herausfinden. Es dauerte ein wenig länger, als sie es sich eigentlich leisten konnten, doch schließlich hatte er das Muster erkannt. Blitzschnell rechnete er alles im Kopf durch.

»Ich hab's«, rief er Qwan zu, der neben ihm kauerte. »Es geht hauptsächlich vorwärts. Eine Stunde pro Sekunde über vierzig Zähleinheiten, gefolgt von einer Verlangsamung auf dreißig Minuten pro Sekunde über achtzehn Zähleinheiten, dann ein kleiner Sprung rückwärts, eine Minute pro Sekunde über zwei Zähleinheiten. Dann geht es wieder von vorne los.«

Qwan lächelte schwach. »Wie war das?«

Artemis stand auf und hievte die Bombe hoch. »Nicht so wichtig. Sie müssen jetzt den Transport der Insel vorbereiten. Ich bringe die Bombe, wohin Sie wollen.«

»Wie du meinst, kluger Menschenjunge. Aber wir sind bisher nur vier magiebegabte Wesen. Wir brauchen N'zall.«

Holly näherte sich rückwärts, die Waffe immer noch im Anschlag. »Ich sehe mal, was ich tun kann.«

Qwan nickte. »Ich vertraue Ihnen, Captain. Obwohl man ja sieht, wie weit mich meine Vertrauensseligkeit gebracht hat.«

»Wo soll die Bombe hin?«

Qwan überlegte. »Wir müssen einen Kreis darum bilden, also möglichst auf eine ebene Fläche. Zum Beispiel da drüben.«

Artemis machte sich daran, die Bombe zu der angegebenen Stelle zu schleppen. Es war nicht sehr weit. Und dann konnten sie sich alle drum herum stellen und zusehen, wie sie explodierte.

Dass ihre Bemühungen von Erfolg gekrönt sein würden, war immerhin kaum unwahrscheinlicher, als dass ein Schrat eine Zwergin heiratete - nur dass ein Schrat eher die eigenen Füße essen würde, als eine Zwergin zu heiraten.

Jeder hatte jetzt seine Aufgabe. Artemis musste die Bombe positionieren. Nr. 1 und Qwan waren für die Umkehrung des Zeitbanns zuständig, und Holly durfte dafür sorgen, dass sie alle am Leben blieben und Abbot sich dazu herabließ, ihre Runde zu verstärken. Und das alles, während sich die Insel um sie herum auflöste.

Der Vulkan wurde nun buchstäblich auseinandergerissen. Riesige Brocken verschwanden im Nichts wie Teile eines dreidimensionalen Puzzles. In ein paar Minuten würde nichts mehr übrig sein, das transportiert werden konnte.

Qwan nahm Nr. 1 an die Hand und führte ihn zu dem kleinen Felsplateau.

»So, junger Mann. Das, was du da oben gemacht hast, mit den schießenden Menschenwesen, das war gut. Ich war wirklich beeindruckt. Doch nun wird es ernst. Ich weiß, du hast Schmerzen. Eine ganz normale Reaktion auf die Auflösung des Banns. Aber die darfst du jetzt nicht beachten. Wir müssen diese Insel aus dem Zeitmeer herausholen.«

Nr. 1 merkte, wie sein Stummelschwanz zu zittern begann. »Die ganze Insel?«

Qwan zwinkerte. »Und alle, die darauf sind. Aber lass dich davon nicht beeindrucken.«

»Und wie geht das?«

»Du brauchst nur eins zu tun: Aktiviere deine Magie, und zwar bis auf den letzten Funken, und schick sie zu mir herüber. Um den Rest kümmere ich mich.«

Das klang ganz einfach. Aber die eigene Magie zu aktivieren, während einem Armbrustbolzen um die Nase schwirrten und ganze Stücke der Umgebung sich in Luft auflösten, war ungefähr so, als müsste man auf Befehl zum Klo gehen, während einem alle möglichen Leute dabei zusahen. Leute, die einen nicht ausstehen konnten.

Nr. 1 schloss die Augen und dachte magische Gedanken.

Magie. Komm schon, Magie.

Er versuchte, in seinem Geist dieselben Türen zu öffnen wie vorhin, als er die menschlichen Soldaten heraufbeschworen hatte. Zu seiner Überraschung reagierte die Magie jetzt schneller, als warte sie nur darauf herauszukommen. Der Käfig war offen und das wilde Tier frei. Nr. 1 spürte, wie die Kraft in seine Arme schoss und sich regelrecht verselbstständigte.

»He, langsam, junger Freund«, sagte Qwan. »Du musst mir ja nicht gleich den Kopf wegpusten. Leg sie an die Leine, bis der Zeitpunkt gekommen ist.« Der alte Zauberer drehte sich zu Artemis um. Seine dünne Stimme ging in dem lauten Getöse fast unter. »Wie lange noch?«, rief er.

Artemis mühte sich weiter mit der Bombe ab, stemmte die Fersen in den Boden und zerrte aus Leibeskräften. Er konnte sich den Gedanken nicht verkneifen, dass Butler sich den Koffer einfach unter den Arm geklemmt hätte und damit zu dem kleinen Felsplateau marschiert wäre.

»Zählen Sie bis dreihundert. Oder zweihundertneunundneunzig. Das müsste hinkommen, sofern die Auflösung konstant voranschreitet, was eigentlich der Fall sein sollte.«

Nach dem Wort dreihundert hörte Qwan nicht weiter zu.

Er ergriff die Hände von Nr. 1. »Noch fünf Minuten, dann kehren wir heim. Wir müssen mit dem Mantra beginnen.« Qwan schloss die Augen, wiegte den Kopf hin und her und murmelte etwas auf Altdämonisch.

Nr. 1 spürte die Macht der Worte, und die Magie formte sich um sie zu einem wirbelnden blauen Feuerkreis. Er hielt die Hände seines neuen Mentors fest und fiel in das Mantra ein, als hinge sein Leben davon ab. Was es ja auch tat.

 
* * *
 

Holly wandte sich zuerst der zweiten Aufgabe zu. Irgendwie musste sie Abbot zu ihrem kleinen Grüppchen locken und ihn dazu überreden, sich dem magischen Kreis anzuschließen. Und so, wie er mit seinem reich verzierten Schwert herumfuchtelte, sah es nicht danach aus, als würde er das freiwillig tun.

Der Angriff der Dämonen war durch das Ausfransen ihrer Umgebung mehr oder weniger ins Stocken geraten, doch Abbot und die Mitglieder des Rats stürmten unbeirrt weiter, ohne sich groß darum zu scheren, dass einige von ihnen in eine andere Dimension gerissen wurden.

Holly hielt das Feuer aufrecht, während sie überlegte, wie sie am besten mit dem Rudelführer Kontakt aufnehmen sollte. Sie war eine ausgebildete Verhandlerin, und nach dem, was sie beobachtet und von Nr. 1 erfahren hatte, vermutete sie, dass Abbot unter erworbenem situationsbedingtem Narzissmus litt. Er war restlos vernarrt in sich selbst und die eigene Wichtigkeit. Narzissten riskierten häufig lieber den Tod, als etwas hinzunehmen, das sie als Herabsetzung empfanden. Aus Abbots Sicht bedrohte Holly seine Position als Rudelführer, und mit so jemandem musste man kurzen Prozess machen.

Na toll, dachte Holly. Egal, in welcher Dimension man sich befindet, es gibt immer einen größenwahnsinnigen Kerl, der sich zum Weltherrscher aufschwingen will.

Die Dämonen rückten in ungeordneter Linie vor, angeführt von Abbot, der sein protziges Schwert schwenkte und die willenlos ergebene Truppe vorwärtstrieb. Hinter ihm zerriss der rote Himmel in einzelne Streifen. Die Welt, wie Abbot sie kannte, stand vor dem Untergang, und dennoch weigerte er sich, sein Ziel aufzugeben. Lieber riss er alle in den Tod, als sich schmachvoll zu ergeben.

»Rufen Sie Ihre Krieger zurück, Abbot«, brüllte Holly über den Lärm hinweg. »Wir können über alles reden.«

Abbot antwortete nicht. Es sei denn, man interpretierte wildes Geheul und Schwertgefuchtel als Antwort.

Die Dämonen schwärmten weiter aus, um Hollys Feuer auszuweichen und nicht im ganzen Rudel in eine andere Dimension gesogen zu werden. Abbot schlitterte voran, die Fersen in den Boden gestemmt, den Oberkörper nach hinten geneigt, um nicht zu fallen. Er war mittlerweile bis an die Hornspitzen mit Asche bedeckt und zog eine Wolke grauer Flocken hinter sich her.

Es ist zwecklos, dachte Holly. Der Kerl würde nicht mal auf seine eigene Mutter hören. Selbst wenn er wüsste, wer seine Mutter ist.

Ihr blieb keine andere Wahl. Sie würde die Ladung verstärken und ihn für ein paar Stunden ausschalten müssen. Qwan musste ihn bewusstlos in den magischen Kreis einspannen.

»Tut mir leid«, sagte sie und stellte den Schalter ihrer Neutrino mit dem Daumen auf Stufe 3.

Holly zielte mit geübter Präzision. Der Strahl aus dem Waffenlauf leuchtete jetzt in einem gefährlicheren Rot, stark genug, um Abbot ein paar Saltos schlagen zu lassen.

Ich werde mich bemühen, den Anblick nicht zu genießen, dachte Holly.

Doch so weit kam es gar nicht, denn genau in diesem Augenblick wechselte der Zeitsog für zwei Zähleinheiten auf rückwärts. Der Strahl verschwand in der Vergangenheit, und Holly wurde wieder von Übelkeit gepackt, als der Zeitwirrwarr ihre Atome durcheinanderwirbelte. Einen knappen Meter zu ihrer Rechten erblickte sie ein diffuses Vergangenheitsbild von sich selbst. Auch hinter den Dämonen tauchten verschwommene Vergangenheitsversionen auf, wie die Speedlines in einem Comic. Dann verschwanden diese Bilder, und die Zeit lief wieder vorwärts.

Abbot stürmte immer noch auf sie zu. Er war jetzt gefährlich nah, doch Holly schätzte, dass die Zeit für einen weiteren Schuss reichte. Mit etwas Glück würde die grimmige Entschlossenheit der übrigen Dämonen nachlassen, wenn ihr Anführer ausgeschaltet war.

Sie zielte erneut, dann zerbarst die Welt vor ihr wie ein zerschmetterter Spiegel. Ein Erdausschnitt türmte sich vor ihr auf wie eine Flutwelle und verschwand in einem flirrenden Funkenwirbel. Durch die Lücken erblickte Holly Ausschnitte aus anderen Dimensionen. Sie sah die Sonne, das All und riesige Wesen mit zahllosen Tentakeln.

Der unglaublich hohe Magieanteil in der Luft presste Hollys Schädel zusammen wie ein Schraubstock. Benommen hörte sie ein Stöhnen hinter sich, als Artemis und die anderen unter der magischen Überlastung zusammenbrachen.

Doch sie durfte nicht zusammenbrechen. Ein Teil der Dämonen war zwar bereits in den Zeittunnel gesogen worden, aber es konnten immer noch welche herumlaufen. Die Luft flirrte, dann wurde es wieder ruhiger. Staubwolken und Steine rieselten aus dem Nichts. Überall gähnten gewaltige Löcher, und darunter war nichts als rotes All. Mittlerweile gab es mehr Löcher als Land.

Die meisten ihrer Verfolger waren verschwunden. Aber nicht alle. Abbot war als Einziger übrig, ein irres Grinsen im Gesicht, das Schwert im Anschlag.

»Hallo, Elfe«, sagte er und stieß Holly die Klinge in die Brust.

Holly spürte, wie der Stahl ihre dünne Elfenhaut durchdrang und sich zwischen die achte und neunte Rippe bohrte, einen Millimeter unter ihrem Herzen hindurch. Er fühlte sich eiskalt an, und der Schmerz war unbeschreiblich. Sie fiel hintenüber, sodass die Klinge aus ihrem Leib glitt, und stürzte auf den aschebedeckten Boden. Das Blut rann aus der Wunde wie Wasser aus einem kaputten Gefäß. Ihr Herz arbeitete gegen die Schwerkraft an und leerte die Adern Schlag um Schlag.

»Magie«, keuchte sie, halb besinnungslos vor Schmerz.

Abbot triumphierte. »Magie kann dich jetzt nicht mehr retten, Elfe. Ich habe sehr lange an diesem Schwert gearbeitet, für den Fall, dass die Zauberer irgendwann wieder auftauchen sollten. In diesem Stahl steckt genug Gegenzauber, um einen ganzen magischen Kreis zu zerstören.« Während er sprach, schüttelte er Hollys Blut von der Klinge. Sie malte dunkle Linien in die Asche.

Holly musste husten, und es fühlte sich an, als würde sie in zwei Teile zerrissen. Nein, die Magie konnte ihr nicht mehr helfen. Das konnte nur noch einer.

»Artemis«, rief sie mit dünner, schwacher Stimme. »Artemis, hilf mir.«

Artemis Fowl sah kurz zu ihr hinüber, dann wandte er sich wieder dem Zähler der Bombe zu und überließ Holly Short ihrem qualvollen Tod.

 
 

Insel Hybras.

 

Während Artemis und seine Gefährten durch den Zeittunnel gewirbelt waren, hatte Leon Abbot mit den Rudelältesten Rat gehalten. Im Rat wurden alle großen Entscheidungen getroffen. Oder genauer gesagt: Dort traf Abbot alle großen Entscheidungen. Die anderen glaubten zwar, daran beteiligt zu sein, doch Leon Abbot schaffte es auf geschickte Weise, sie auf seinen Kurs zu bringen.

Wenn die wüssten, dachte er und biss sich auf die Innenseite der Wangen, um sich nicht durch ein selbstgefälliges Grinsen zu verraten. Sie würden mich in der Luft zerreißen. Aber sie werden es niemals erfahren, weil keiner mehr da ist, der es ihnen verraten könnte. Dieser dämliche Nr. 1 war der Letzte, und er ist verschwunden. Wie schade.

Abbot hatte große Pläne. An diesem Tag würde eine neue Ära für das Rudel beginnen. Die Ära Leon Abbot.

Er ließ den Blick wandern. Um den Tisch saßen die anderen Ratsmitglieder und saugten an den Knochen der noch warmen Kaninchen, die er als Snack serviert hatte. Er verachtete die anderen Dämonen des Rats. Jeden einzelnen von ihnen. Sie waren schwach und dumm, beherrscht von ihren niederen Instinkten. Was sie brauchten, war ein Anführer, der ihnen sagte, wo es langging, und zwar ohne diese endlosen Diskussionen und Debatten.

Natürlich würden die anderen Dämonen das unter normalen Umständen anders sehen. Wenn er unverhohlen damit herausrückte, würden sie mit ihm vermutlich dasselbe machen wie mit den Kaninchen. Doch dies waren keine normalen Umstände. Und bei den Verhandlungen im Rat hatte er stets ein paar Trümpfe im Ärmel.

Am anderen Ende des Tisches erhob sich Hadley Shrivelington Basset, das jüngste Ratsmitglied, und knurrte laut, zum Zeichen, dass er zu sprechen wünschte. Wenn Abbot ehrlich war, behagte ihm dieser Basset gar nicht. Er ließ sich nicht so leicht von Abbots Überredungskünsten einwickeln, und einige der anderen begannen auf ihn zu hören. Um den Jungen würde er sich bald kümmern müssen.

Basset knurrte erneut, beide Hände wie einen Trichter um den Mund gelegt, damit alle es mitbekamen. »Ich möchte das Wort ergreifen, Leon Abbot. Und ich möchte, dass Sie mir zuhören.«

Abbot seufzte genervt und erteilte dem Dämon mit einer Handbewegung das Wort. Dass diese jungen Leute auch immer so viel Wert auf Formalitäten legen mussten.

»Es gibt da einiges, was mir Sorgen macht, Abbot. Mit dem Rudel steht nicht alles zum Besten.«

Rund um den Tisch erhob sich zustimmendes Gemurmel. Das war nicht weiter wild. Die anderen würden nur zu bald die Tonart wechseln. »Wir reden uns mit Menschennamen an. Wir verehren ein Menschenbuch. Ich finde das abstoßend. Sollen wir am Ende ganz zu Menschen werden?«

»Ich habe das alles schon tausendmal erklärt, Basset. Sind Sie so unterbelichtet, dass meine Worte nicht in Ihren Schädel wollen?«

Basset knurrte leise. Das war eine Kampfansage. Und Rudelführer hin oder her, diese Worte würde er Abbot bald in den Rachen stopfen.

»Also gut, ich versuch's noch einmal«, sagte Abbot und legte die Füße auf den Tisch, eine weitere Beleidigung an Bassets Adresse. »Wir ahmen die Menschen nach, damit wir sie besser verstehen und somit leichter besiegen können. Wir lesen das Buch, wir üben mit der Armbrust, wir tragen ihre Namen.«

Doch Basset ließ sich nicht einschüchtern. »Ich habe diese Worte tausendmal gehört, und ich finde sie jedes Mal wieder grotesk. Wir geben uns keine Kaninchennamen, wenn wir Kaninchen jagen. Wir leben nicht in Fuchsbauten, wenn wir Füchse jagen. Wir können von dem Buch und der Armbrust lernen, aber wir sind Dämonen, keine Menschen. Mein Familienname war Gristle. Das ist ein Dämonenname! Nicht dieses alberne Hadley Shrivelington Basset.«

Es war ein gutes Argument und geschickt vorgebracht. Unter anderen Umständen hätte Abbot dem jungen Dämon Beifall gezollt und ihn zu seinem Lieutenant ernannt, aber aus Lieutenants wurden häufig Konkurrenten, und darauf war Abbot nun wirklich nicht scharf.

Abbot stand auf und schritt langsam um den Tisch, wobei er nacheinander jedem Ratsmitglied in die Augen sah. Anfangs loderte noch Herausforderung in ihren Blicken, doch als Abbot zu sprechen begann, erlosch die Flamme, und an ihre Stelle trat dumpfer Gehorsam.

»Sie haben natürlich recht«, sagte Abbot und fuhr sich mit der Kralle über das geschwungene Horn, dass die Funken flogen. »Alles, was Sie sagen, ist absolut richtig. Die Namen, das dämliche Buch, die Armbrust, das Erlernen der englischen Sprache - alles Humbug.«

Basset fletschte die spitzen, weißen Zähne, und seine gelbbraunen Augen verengten sich zu Schlitzen. »Sie geben es zu, Abbot? Habt ihr das gehört?«

Zuvor hatten die anderen die Herausforderung des jungen Dämonen mit zustimmendem Knurren unterstützt, doch nun schien die Kampflust sie verlassen zu haben. Sie starrten auf die hölzerne Tischplatte, als fänden sie dort die Antworten auf die Fragen des Lebens.

»Die Wahrheit ist«, fuhr Abbot fort und kam Basset dabei immer näher, »dass wir niemals zurückkehren werden. Dies ist jetzt unsere Heimat.«

»Aber Sie haben doch gesagt -«

»Ich weiß. Ich habe gesagt, der Bann wäre dabei, sich aufzulösen, und wir würden alle dorthin zurückgesogen, wo wir hergekommen sind. Und wer weiß, vielleicht stimmt es sogar. Aber ich habe keine Ahnung, was tatsächlich passieren wird. Ich weiß nur eins: Solange wir hier sind, werde ich der Boss sein.«

Basset war fassungslos. »Die große Schlacht findet nicht statt? Aber wir üben doch schon so lange.«

»Ein Ablenkungsmanöver«, sagte Abbot und wedelte theatralisch mit den Händen. »Nur Rauch und heiße Luft. Damit die Truppen etwas haben, worauf sie sich konzentrieren können.«

»Konzen-was?«, fragte Basset verwirrt.

»Konzentrieren, Sie Idiot. Nachdenken. Solange es einen Krieg zu planen gibt, sind Dämonen glücklich. Ich habe ihnen einen Krieg geliefert und ihnen gezeigt, wie man ihn gewinnt. Also bin ich ihr Retter.«

»Und die Armbrust?«

Abbot prustete los. Dieser Basset war wirklich ein Obertrottel. Er könnte fast als Gnom durchgehen. »Die Armbrust!«, japste er, als er wieder zu Atem kam. »Die ist ein Witz. Die Menschenwesen haben Waffen, die buchstäblich den Tod verschießen. Sie haben eiserne Vögel, die explodierende Eier abwerfen. Und es gibt Millionen von ihnen. Millionen! Sie brauchten bloß eins ihrer Eier auf unsere kleine Insel werfen, dann wären wir verschwunden. Und diesmal gäbe es keine Rückkehr.«

Basset wusste nicht, ob er angreifen oder fliehen sollte. Diese Enthüllungen überforderten sein Gehirn, und die anderen Ratsmitglieder saßen nur da und glotzten blöd. Fast als stünden sie unter einem Zauberbann...

»Na los«, sagte Abbot spöttelnd. »Enttäuschen Sie mich nicht. Werfen Sie Ihren mickrigen Verstand an.«

»Sie haben den Rat verhext.«

»Volltreffer!«, krähte Abbot. »Gebt diesem Dämonen ein rohes Kaninchen!«

»Aber d-das kann nicht sein«, stammelte Basset. »Dämonen verfügen nicht über Magie, mit Ausnahme der Zauberer. Und Zauberer krampfen nicht.«

Abbot breitete die Arme aus. »Und ich bin unübersehbar ein zu voller Schönheit gekrampftes Wesen. Na, schmerzen die kleinen grauen Zellen? Ist das alles zu hoch für Sie, Basset?«

Basset zog das Langschwert aus der Scheide. »Ich heiße Gristle!«, brüllte er und stürzte sich auf den Rudelführer.

Abbot schlug das Schwert mit dem Unterarm zur Seite und attackierte seinen Gegner. Er war zwar ein Lügner und Ränkeschmied, aber auch ein gefürchteter Krieger. Genauso gut hätte eine Taube einen Adler angreifen können.

Abbot zwang den kleineren Dämonen auf den Steinboden und drückte ihm das Knie auf die Brust, ohne sich um die Schläge zu kümmern, mit denen Basset seinen Schuppenpanzer traktierte. »Ist das alles, was du zu bieten hast, Kleiner? Da hat ja sogar mein Hund mehr drauf.«

Er packte Bassets Kopf mit beiden Händen und presste, bis dem Jüngeren fast die Augen aus den Höhlen traten.

»Ich könnte dich töten«, sagte Abbot, und es war ihm anzusehen, dass ihm die Vorstellung gefiel. »Aber du bist bei den Knirpsen recht beliebt, und sie würden mich mit Fragen bombardieren. Also lasse ich dich leben. Aber nur unter einer Bedingung. Du folgst mir freiwillig.«