Kapitel 6

 

Bargeflüster

 
 

Haven City, Erdland.

 

Mulch Diggums schlenderte durch Havens Marktviertel, und mit jedem Schritt fühlte er sich wohler. Das Marktviertel war eine zwielichtige Gegend - sofern eine Gegend bei zweihundert Überwachungskameras pro Straße und einer rund um die Uhr besetzten Wachkabine der ZUP überhaupt zwielichtig sein konnte. Dennoch kamen hier acht Kriminelle auf einen braven Bürger.

Das ist meine Welt, dachte Mulch. Oder zumindest war sie es, bis ich mich mit Holly zusammengetan habe.

Nicht, dass Mulch diese Entscheidung bedauerte, aber manchmal fehlten ihm die alten Zeiten doch. Das Dasein als Dieb hatte etwas, das sein Herz schneller schlagen ließ. Der Kick des Klauens, die Euphorie des leicht verdienten Geldes.

Vergiss die Verzweiflung des Knasts nicht, meldete sich seine nüchterne Seite zu Wort. Und die Einsamkeit eines Lebens auf der Flucht.

Das stimmte. Verbrecher zu sein war nicht immer nur Zuckerschlecken. Es hatte auch ein paar kleine Nachteile, zum Beispiel Angst, Schmerz und vorzeitigen Tod. Mulch hatte diese Nachteile lange Zeit erfolgreich ignoriert, bis Commander Julius Root von einem Verbrecher getötet worden war. Bis dahin war alles nur ein Spiel gewesen. Julius war die Katze und er die gewitzte Maus. Doch nun, da Julius nicht mehr lebte, hätte er es als Beleidigung des Andenkens des Commanders empfunden, wieder zu seinem alten Verbrecherdasein zurückzukehren.

Und deshalb gefällt mir mein neuer Job so gut, überlegte Mulch zufrieden. Ich kann hinter dem Rücken der ZUP herumschleichen und mich unter berüchtigte Verbrecher mischen.

Er hatte sich im Foyer von Abteilung Acht gerade Talkshows angesehen, als Foaly hereingetrabt gekommen war. Wenn Mulch ehrlich war, mochte er Foaly. Sobald sie aufeinandertrafen, sprühten die Funken, aber letzten Endes genossen sie beide das Geplänkel.

Diesmal jedoch war keine Zeit für Wortklaubereien gewesen, und Foaly hatte ihm ohne Umschweife die Situation an der Oberfläche geschildert. Es gab zwar einen Plan, aber alles hing davon ab, dass es Mulch gelang, den Schmugglerwichtel Doodah Day aufzuspüren und in die Abteilung Acht zu bringen.

»Das dürfte nicht ganz einfach werden«, bemerkte Mulch. »Als ich Doodah das letzte Mal gesehen habe, kratzte er sich Zwergenspeichel von den Stiefeln. Er mag mich nicht besonders. Da werde ich ein paar gute Argumente vorbringen müssen.«

»Sagen Sie dem Wichtel, wenn er uns hilft, ist er ein freier Mann. Ich werde mich persönlich ins System einhacken und sein Vorstrafenregister löschen.«

Mulch zog die buschigen Brauen in die Höhe. »So ernst ist es?«

»Allerdings.«

»Ich habe diese Stadt gerettet«, grummelte der Zwerg. »Zweimal sogar! Und keiner hat mein Vorstrafenregister gelöscht. Dieser Wichtel schiebt einen Einsatz, und - zack - spaziert er davon. Was kriege ich denn, wo wir gerade dabei sind?«

Ungeduldig stampfte Foaly mit dem Huf auf. »Sie kriegen Ihr unverschämt hohes Beraterhonorar. Ist das nicht genug? Und jetzt zur Sache. Schaffen Sie es, Mister Day zu finden?«

Mulch stieß einen Pfiff aus. »Das wird höllisch schwer. Nach der Aktion heute Morgen ist der Wichtel natürlich untergetaucht. Aber ich verfüge über gewisse Fähigkeiten. Ich schaffe das schon.«

Foaly sah ihn finster an. »Dafür bezahlen wir Sie ja schließlich.«

In Wirklichkeit würde es gar nicht so höllisch schwierig sein, Doodah zu finden, wie Mulch behauptet hatte. Bevor Doodah abgehauen war, hatte Mulch ihm nämlich einen Minisender in Pillenform in den Stiefel geschmuggelt.

Die Pillensender waren ursprünglich ein Geschenk von Foaly gewesen. Er schob Holly öfters überschüssige Ausrüstung zu, um die Detektei im Geschäft zu halten. Die Pillen bestanden aus einem gebackenen Spezialgel, das zu schmelzen begann, sobald man es aus der Packung drückte. Das Gel klebte an jeder Oberfläche fest, mit der es in Berührung kam, und nahm deren Farbe an. Im Innern steckte ein Minisender, der bis zu fünf Jahre lang eine harmlose Strahlung aussandte. Das Suchsystem war im Grunde ganz simpel: Jede Pille hinterließ in ihrem Packungsfach eine Signatur, und das Fach leuchtete, sobald es die Strahlung der Signatur wahrnahm. Je stärker das Leuchten, desto näher die Pille.

Idiotensicher, hatte Holly spöttisch gesagt, als sie Mulch die Pillen in die Hand gedrückt hatte.

Und sie erwiesen sich in der Tat als idiotensicher. Kaum zehn Minuten nachdem Mulch Abteilung Acht verlassen hatte, spürte er Doodah Day im Marktviertel auf. Nach Einschätzung des Zwergs befand sich sein Zielobjekt irgendwo im Umkreis von zwanzig Metern. Der wahrscheinlichste Ort war die Fischbar auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Wichtel liebten Meeresfrüchte. Besonders Schalentiere. Und ganz besonders geschützte Schalentiere wie zum Beispiel Hummer. Deshalb waren Doodah Days Schmuggeltalente so gefragt.

Mulch überquerte die Straße, setzte eine Furchteinflößende Miene auf und marschierte durch die Tür der Fröhlichen Auster, als gehöre der Laden ihm.

Die Bar war ein ziemlich heruntergekommener Schuppen. Der Fußboden bestand aus kargen Holzdielen, und es stank nach wochenaltem Hering. Die Speisekarte war mit etwas an die Wand gemalt, das aussah wie Fischblut, und der einzige Kunde schien über seinem Teller mit abgegessenen Gräten eingeschlafen zu sein.

Hinter dem kniehohen Tresen stand ein Wichtelkellner und starrte Mulch abweisend an. »Ein paar Häuser weiter ist eine Zwergenbar«, sagte er.

Mulch grinste breit und bleckte dabei die Zähne. »Das ist aber nicht sehr gastfreundlich. Immerhin könnte ich ein Kunde sein.«

»Unwahrscheinlich«, entgegnete der Kellner. »Ich habe noch nie erlebt, dass ein Zwerg für sein Essen bezahlt hätte.«

Das stimmte. Zwerge waren von Natur aus geizig.

»Also schön«, sagte Mulch. »Ich bin in der Tat kein Kunde. Ich suche jemanden.«

Der Kellner deutete auf das nahezu verlassene Restaurant. »Wenn Sie ihn hier nicht sehen, ist er nicht da.«

Mulch hielt ihm eine blitzblanke ZUP-Marke für Spezialeinsätze unter die Nase, die Foaly dem Zwerg mitgegeben hatte. »Ich glaube, ich schaue mich mal ein bisschen genauer um.«

Der Kellner stürzte hinter seinem Tresen hervor. »Und ich glaube, dazu brauchen Sie einen Durchsuchungsbefehl, Cop.«

Mulch schob ihn beiseite. »Ich bin keiner von diesen Cops, Wichtel.«

Mulch folgte dem Peilsignal durch das Restaurant, einen schmuddeligen Flur entlang zu den noch schmuddeligeren Toiletten. Selbst Mulch, der sich von Berufs wegen durch alles Mögliche grub, verzog angewidert das Gesicht.

An einer Toilettentür hing ein Schild mit der Aufschrift »Außer Betrieb«. Mulch zwängte sich in die auf Wichtelgröße zugeschnittene Kabine und entdeckte sehr schnell die Geheimtür. Der Raum dahinter wirkte deutlich einladender als der, den er gerade verlassen hatte. Die Wände der Garderobe waren mit Samt bezogen, und eine Wichtelin in einem rosa Kleid sah ihn ziemlich überrascht an.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragte sie zögernd.

»Allerdings«, erwiderte Mulch. »Wie wär's, wenn Sie den Geheimeingang für Ihr illegales Restaurant ein wenig einladender gestalten würden? Das ist ja eine Zumutung für jeden anständigen Ermittler.«

Da die Wichtelin nicht so aussah, als ob ihr eine geistreiche Antwort einfiele, schob er sich an ihr vorbei durch die niedrige Tür. Dahinter lag ein opulenter Speisesaal, in dem sich Dutzende von Wichteln über dampfende Teller mit Schalentieren hermachten. Doodah Day saß allein an einem Tisch für zwei und hieb mit dem Hammer auf einen Hummer ein, als wäre er sein persönlicher Feind.

Mulch ging auf ihn zu, ohne die verdutzten Blicke der übrigen Gäste zu beachten.

»Na, denkst du gerade an jemand Bestimmtes?«, fragte er und ließ sich auf dem winzigen Wichtelstuhl nieder.

Doodah sah auf. Falls er überrascht war, ließ er es sich nicht anmerken.

»Ja, an dich, Zwerg. Ich stelle mir vor, diese Schere wäre deine hässliche Birne.«

Bei diesen Worten ließ Doodah den Hammer niederknallen, dass das weiße Hummerfleisch Mulch ins Gesicht spritzte.

»He, Vorsicht! Das stinkt.«

Doodah platzte fast vor Wut. »Das stinkt?! Das stinkt?! Ich habe drei Mal geduscht. Drei Mal! Und trotzdem kriege ich den Gestank von deinem großen Maul nicht weg. Er umwabert mich wie eine Pestwolke. Wie du siehst, esse ich allein. Normalerweise leisten mir meine Freunde Gesellschaft, aber heute nicht. Nein, heute muss ich ja nach Zwerg stinken.«

Mulch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Jetzt mach mal halblang, Kleiner. Sonst fühle ich mich am Ende noch beleidigt.«

Doodah schwenkte den Hammer. »Meinst du, das interessiert hier irgendwen?«

Mulch atmete tief durch. Das würde nicht so einfach werden.

»Schon gut, Doodah. Ich verstehe. Du bist ein kluger Kerl. Ein stinkend kluger Kerl. Aber ich habe ein Angebot für dich.«

Doodah lachte. »Du hast ein Angebot für mich? Ich habe eins für dich: Sieh zu, dass du deinen dicken Zwergenhintern hier rausbewegst, sonst schlage ich dir mit diesem Hammer die Zähne ein.«

Mulch verdrehte genervt die Augen. »Ja, du bist ein abgebrühter, gefährlicher Typ, und ein Zwerg muss verrückt sein, sich mit dir anzulegen. Normalerweise würde ich mich in aller Gemütsruhe hier hinsetzen und mit dir Beleidigungen austauschen, aber ich habe Wichtigeres zu tun. Ein Freund von mir ist in Schwierigkeiten.«

Doodah grinste breit und hob sein Glas zu einem ironischen Toast. »Na, ich hoffe, es ist diese aalglatte Elfe Holly Short. War mir ein Fest, wenn sie bis zu ihren spitzen Ohren in der Scheiße stecken würde.«

Mulch zeigte die Zähne, diesmal allerdings ohne zu lächeln. »Darüber wollte ich sowieso noch mit dir reden. Du hast meine Freundin mit einem Multimixer angegriffen. Fast hättest du sie getötet.«

»Fast«, sagte Doodah mit erhobenem Zeigefinger. »Ich habe ihr nur einen Schreck eingejagt. Warum musste sie mich auch jagen? Schließlich schmuggle ich bloß ein paar Kisten Shrimps. Ich bringe niemanden um.«

»Du fährst nur.«

»Genau. Ich fahre nur.«

Mulch legte noch ein paar Zähne zu. »Tja, Doodah, wie es der Zufall will, ist dein Talent als Fahrer das Einzige, was mich daran hindert, meinen Kiefer auszuhaken und dich zu verschlingen wie einen von den Shrimpsklößen auf deinem Teller. Und wer weiß, an welchem Ende du dieses Mal rauskämst.«

Schlagartig verlor Doodah sein großspuriges Gehabe. »Ich höre«, sagte er.

Mulch packte seine Zähne wieder ein. »Okay. Du kannst also jedes Fahrzeug fahren, oder?«

»Allerdings. Selbst wenn's vom Mars kommt.«

»Gut, ich habe nämlich einen Deal für dich. Er gefällt mir zwar nicht besonders, aber ich muss ihn dir trotzdem anbieten.«

»Dann leg mal los, Stinky.«

Mulch stöhnte innerlich. Noch so ein Klugscheißer. Das konnte ja heiter werden. »Ich brauche dich für einen Tag, um ein Fahrzeug auf einer bestimmten Tour zu fahren. Wenn du das tust, kriegst du Generalamnestie.«

Doodah war beeindruckt. Es war ja auch ein beeindruckender Deal. »Ich brauche also nur zu fahren, und meine Akte wird gelöscht?«

»Sieht so aus.«

Doodah klopfte sich mit einer Hummerzange an die Stirn. »Das ist zu einfach, da muss doch ein Haken sein.«

Mulch zuckte die Achseln. »Na ja, das Ganze soll sich oberirdisch abspielen, und du wirst einen Haufen bewaffneter Menschenwesen auf den Fersen haben.«

»Tatsächlich?« Doodah grinste, dass ihm der Hummersaft aus den Mundwinkeln lief. »Wo ist da der Haken?«