Kapitel 3
Fauler Zauber
Insel Hybras, Zeitmeer.
Eines Nachts träumte Knirps Nr. 1, er wäre ein Dämon. Er träumte, er hätte gebogene, spitze Hörner. Seine Schuppenhaut war hart und gepanzert, und die Krallen waren scharf genug, um einem Wildschwein das Fell vom Rücken zu reißen. Er träumte, dass die anderen Dämonen sich vor ihm duckten und davonliefen, aus Angst, er könne sie in seiner Rage verletzen.
Doch als er aus seinem wunderbaren Traum aufwachte, war er immer noch bloß ein Knirps. Genau genommen hatte er diesen Traum natürlich nicht in der Nacht. Der Himmel über Hybras glüht für alle Zeiten im roten Licht der Morgendämmerung. Aber Nr. 1 betrachtete seine Schlafzeit als Nacht, auch wenn er noch nie eine erlebt hatte.
Knirps Nr. 1 zog sich hastig an und rannte in den Flur, um einen Blick in den Spiegel zu werfen. Womöglich hatte er im Schlaf tatsächlich gekrampft. Doch alles war beim Alten. Immer noch dasselbe langweilige Knirpsgesicht.
»Grrr«, knurrte er sein Spiegelbild an. Doch nicht einmal der gespiegelte Nr. 1 nahm ihm das ab. Und wenn er es nicht mal schaffte, sich selbst Angst einzujagen, dann konnte er sich auch gleich zum Babywickeldienst einteilen lassen.
Dabei hatte er ja durchaus brauchbare Anlagen. Knirps Nr. 1 verfügte über den Körperbau eines richtigen Dämons. Er war ungefähr so groß wie ein Schaf, das auf den Hinterbeinen sitzt. Seine Haut war grau wie Mondstaub und mit Panzerschuppen besetzt. Rote Runen ringelten sich rund um seine Brust, den Hals hinauf und über die Stirn. Die Augen leuchteten in einem strahlenden Orange, und sein Kinn hatte einen edlen Schwung. Zumindest fand er das, auch wenn andere behaupteten, es würde vorstehen. Er hatte zwei Arme, kaum länger als bei einem zehnjährigen Menschenwesen, und zwei Beine, die etwas kürzer waren. Acht Finger, acht Zehen. Der Schwanz an seiner Rückseite war zwar eigentlich eher ein Stummel, doch sehr nützlich, wenn man nach Maden grub. Kurzum: Er war ein ganz normaler Knirps. Allerdings mit vierzehn Jahren der älteste Knirps auf Hybras. Na ja, mit ungefähr vierzehn. Genau ließ sich das nicht sagen, da immer Morgendämmerung war. Die magische Stunde hatten die Zauberer sie früher genannt, bevor Hybras in die Tiefen des eisigen Alls gesogen wurde. Klang vielversprechend.
Hadley Shrivelington Basset, der eigentlich ein halbes Jahr jünger war als Nr. 1, hatte den Krampf bereits hinter sich und schlenderte, ganz stolzer Dämon, über den gefliesten Flur zum Waschraum. Die Hörner wanden sich eindrucksvoll zu Korkenziehern, und an den Ohren saßen mindestens vier Stacheln. Hadley genoss es, seine neue Dämonengestalt vor den Knirpsen zur Schau zu stellen. Eigentlich hatten Dämonen im Knirpshaus nichts mehr zu suchen, aber Basset ließ sich Zeit mit dem Umzug.
»He, Knirps«, sagte er und klatschte Nr. 1 sein Handtuch auf den Hintern. »Wird's noch was mit deinem Krampf? Soll ich dir helfen, richtig wütend zu werden?«
Das Handtuch tat weh, aber Nr. 1 wurde nicht wütend. Nur nervös. Alles machte ihn nervös. Das war sein Problem.
Ein schneller Themenwechsel schien angesagt. »Morgen, Basset. Tolle Ohren.«
»Ja, nicht?«, sagte Hadley und berührte die Stacheln, einen nach dem anderen. »Schon vier Stück, und ich glaube, da wächst noch ein fünfter. Selbst Abbot hat nur sechs.«
Leon Abbot, der Held von Hybras. Der selbst ernannte Retter der Dämonen.
Hadley schlug erneut mit dem Handtuch nach Nr. 1. »Kriegst du keine Zahnschmerzen, wenn du in den Spiegel siehst? Ich krieg nämlich welche, wenn ich dich nur ansehe.«
Er stemmte die Hände in die Hüften, warf den Kopf zurück und lachte. Sehr eindrucksvoll. Der Kerl führte sich auf wie bei einem Filmcasting.
»He, Basset. Du trägst gar kein Silber.«
Das Lachen erstarb in einem froschähnlichen Gurgeln. Shrivelington Basset vergaß ganz, dass er zum Piesacken hier war, und stürzte davon. Nr. 1 wusste, dass es ihm keine Befriedigung verschaffen sollte, andere halb zu Tode zu erschrecken, aber bei Basset machte er eine Ausnahme. Ob Dämon oder Knirps, es war weit mehr als ein modischer Missgriff, kein Silber am Körper zu tragen. Es konnte tödlich sein, oder noch schlimmer: in alle Ewigkeit schmerzhaft. Diese Regel galt zwar normalerweise nur in der Nähe des Vulkankraters, aber zum Glück hatte Basset zu viel Schiss gehabt, um daran zu denken.
Leise schlich Nr. 1 zurück in den Schlafsaal der älteren Knirpse, in der Hoffnung, dass die anderen noch schliefen. Doch er hatte Pech. Sie rieben sich bereits die Augen und hielten Ausschau nach dem Opfer ihrer täglichen Hänseleien - und das war natürlich er. Er war mit Abstand der Älteste in der Gruppe. Keiner außer ihm war je vierzehn geworden, ohne zu krampfen. Mittlerweile gehörte er quasi schon zum Inventar. Nachts hingen seine Füße über den Bettrand, und die Decke reichte ihm kaum über die gekringelten Mondzeichnungen auf der Brust.
»He, Weichei«, rief einer. »Krampfst du heute? Oder wachsen dir rosa Blümchen unter den Achseln?«
»Heb mal die Arme, vielleicht sieht man schon die Knospen«, spöttelte ein anderer.
Immer diese Gemeinheiten. Die beiden zwölfjährigen Knirpse waren so aufgepeitscht, dass sie wahrscheinlich noch vor dem Unterricht krampfen würden. Aber sie hatten recht. Er hätte auch eher auf die rosa Blümchen getippt.
Weichei war sein Spitzname. Richtige Namen bekamen sie erst nach dem Krampf. Dann wurde ihnen einer aus der heiligen Schrift zugeteilt. Doch bis dahin musste er sich mit Nr. 1 oder Weichei begnügen.
Er lächelte schicksalsergeben. Es war unklug, sich mit seinen Zimmergenossen anzulegen. Jetzt waren sie zwar noch kleiner als er, aber schon morgen konnten sie ein gutes Stück größer sein. Also sagte er nur: »Ich fühle mich schon total aufgepeitscht«, und spannte seinen Bizeps an. »Heute ist bestimmt mein großer Tag.«
Alle im Schlafsaal waren aufgeregt. Mit etwas Glück konnten sie morgen diesen Raum für immer verlassen. Gleich nachdem der Krampf durchgestanden war, bekamen sie ein eigenes Zimmer, und dann durften sie auf Hybras tun und lassen, was sie wollten.
»Wem hassen wir?«, brüllte einer.
»Die Menschen!«, ertönte die Antwort.
Dann heulten sie ungefähr eine Minute lang die Decke an. Knirps Nr. 1 machte mit, doch überzeugend fühlte es sich nicht gerade an. Es heißt nicht »wem hassen wir«, dachte er bei sich. Es heißt »wen«.
Aber jetzt war wohl nicht der passende Moment, um das richtigzustellen.
Knirpsschule.
Manchmal wünschte Nr. 1, er wüsste, wer seine Mutter war. Doch da das kein sehr dämonenhafter Wunsch war, behielt er ihn für sich. Alle Dämonen waren einander gleichgestellt, und was sie aus sich machten, hing allein von ihren Krallen und Zähnen ab. Sobald das Weibchen ein Ei legte, wurde es zum Reifen in einen Eimer mit mineralienreichem Schlamm getan. So wussten die Knirpse nie, zu welcher Familie sie gehörten, und deshalb waren sie alle eine große Familie.
Nur manchmal, wenn seine Selbstachtung arg angeschlagen war, warf Nr. 1 auf dem Weg zur Schule einen wehmütigen Blick zum Lager der Frauen und fragte sich, welche von ihnen wohl seine Mutter war.
Es gab da eine Dämonin mit roten Runen, genau wie seine, und einem netten Gesicht. Oft lächelte sie ihm über die Mauer hinweg zu. Sie sucht bestimmt nach ihrem Sohn, schoss es Nr. 1 irgendwann durch den Kopf. Und von dem Tag an lächelte er zurück. Sie konnten ja beide so tun, als ob sie einander gefunden hätten.
Nr. 1 hatte noch nie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit verspürt. Er sehnte sich nach der Zeit, wenn er aufwachen und sich auf das freuen würde, was vor ihm lag. Doch der Tag war noch nicht gekommen und würde es vermutlich auch nie, jedenfalls nicht, solange sie im Zeitenmeer lebten. Nichts würde sich ändern. Nichts konnte sich ändern. Nein, das stimmte nicht ganz: Es konnte schließlich noch schlimmer werden.
Die Knirpsschule war ein niedriges Steingebäude, in dem es kaum Luft und noch weniger Licht gab - also für die meisten Knirpse genau das Richtige. Der Mief und das ständig qualmende Feuer gaben ihnen das Gefühl, schlecht behandelt zu werden, und das weckte ihre Kampflust.
Nr. 1 sehnte sich nach Licht und frischer Luft. Er war auf einzigartige Weise anders, ein nagelneuer Punkt auf dem Kompass. Oder vielleicht auch ein alter. Nr. 1 überlegte oft, ob er nicht ein Zauberer war. Gut, seit sie aus der Zeit gelöst worden waren, hatte es im ganzen Dämonenrudel keinen Zauberer mehr gegeben, aber vielleicht war er der erste, und vielleicht war das der Grund, weshalb er in so vielen Dingen anders empfand. Nr. 1 hatte es gewagt, seinem Lehrer Mr. Rawley gegenüber diese Theorie zu erwähnen, doch der hatte ihm nur eine Ohrfeige verpasst und ihn zur Strafe Maden für die anderen ausgraben lassen.
Das war noch so ein Punkt. Warum konnten sie nie was Warmes zu essen kriegen? Was wäre so schlimm an einem Eintopf? Mit ein paar Gewürzen? Was fanden die Knirpse so toll daran, Essen runterzuschlingen, das sich noch bewegte?
Wie immer traf Nr. 1 als Letzter in der Schule ein. Die anderen zehn oder zwölf Knirpse waren bereits im Klassenzimmer. Sie konnten es kaum erwarten, endlich wieder jagen, schlachten und häuten zu dürfen - und wer weiß, vielleicht stand ja der Krampf kurz bevor. Nr. 1 hatte da keine große Hoffnung. Vielleicht war heute wirklich sein großer Tag, aber er glaubte nicht daran. Der Krampf wurde durch Blutdurst ausgelöst, und Nr. 1 hatte noch nie auch nur den leisesten Drang verspürt, einem anderen Wesen wehzutun. Er hatte sogar ein schlechtes Gewissen gegenüber den Kaninchen, die er aß, und manchmal träumte er, dass ihre kleinen Geister ihn verfolgten.
Master Rawley saß an seinem Pult und schärfte ein Krummschwert. Ab und zu hackte er damit ein Stück vom Pult ab und stieß einen zufriedenen Grunzer aus. Auf dem Pult lagen diverse Waffen zum Hacken, Sägen und Schneiden. Und natürlich ein Buch. Eine Ausgabe von Lady Heatherington Smythes Hecke. Das Buch, das Leon Abbot aus der alten Welt mitgebracht hatte. Das Buch, das sie Abbot zufolge alle retten würde.
Als Rawley die Klinge zu einem funkelnden Halbmond geschärft hatte, schlug er mit dem Griff auf das Pult.
»Hinsetzen«, brüllte er die Knirpse an. »Und zwar dalli, ihr stinkenden Kaninchenkötel. Ich habe hier ein neues Schwert, das ich nur zu gerne ausprobieren würde.«
Eilig setzten sich die Knirpse auf ihre Plätze. Rawley würde sie nicht gleich aufschlitzen, aber er war durchaus imstande, ihnen mit der flachen Klinge den Hintern zu versohlen. Und wer weiß, vielleicht würde er sie am Ende doch aufschlitzen.
Nr. 1 rutschte auf den letzten Platz in der vierten Reihe. Vergiss nicht, ihn herausfordernd anzuschauen, ermahnte er sich. Sei ein bisschen arrogant. Du bist schließlich ein Knirps!
Rawley hieb sein Schwert in das Holz und ließ es zitternd dort stecken. Die anderen Knirpse grunzten beeindruckt. Doch Nr. 1 dachte nur: Angeber. Und: Das Pult ist hin.
»So, ihr Schweinedreck«, sagte Rawley. »Ihr wollt also Dämonen werden, ja?«
»Ja, Master Rawley!«, riefen die Knirpse.
»Und ihr glaubt, ihr habt das Zeug dazu?«
»Ja, Master Rawley!«
Rawley breitete die muskulösen Arme aus, warf seinen grünen Kopf in den Nacken und brüllte: »Dann beweist es mir!«
Die Knirpse schrien und trampelten, hämmerten mit Waffen auf ihre Tische und schlugen sich rasselnd auf die Schulterschuppen. Nr. 1 beteiligte sich so wenig an dem Bohei wie nur möglich und bemühte sich gleichzeitig, so zu tun, als sei er mit vollem Ernst bei der Sache. Keine leichte Aufgabe.
Schließlich sorgte Rawley wieder für Ruhe. »Nun, wir werden sehen. Für einige von euch wird dies ein bedeutender Tag, für andere nur ein weiterer Tag schmachvollen Madengrabens mit den Weibern.« Er bedachte Nr. 1 mit einem vernichtenden Blick. »Doch wie heißt es so schön: Erst die Arbeit, dann der Krampf.«
Lautes Gestöhne von den Knirpsen.
»Ganz recht, ihr Memmen. Es ist mal wieder Zeit für ein bisschen Geschichte. Kein Töten, kein Essen, nur dröge Worte.« Rawley zuckte mit den massigen Schultern. »Meiner Meinung nach reine Zeitverschwendung, aber ich habe schließlich meine Befehle.«
»Ganz recht, Master Rawley«, tönte eine Stimme von der Tür. »Sie haben Ihre Befehle.«
Die Stimme gehörte Leon Abbot höchstpersönlich, der der Schule mal wieder einen Überraschungsbesuch abstattete. Sofort war Abbot umringt von begeisterten Knirpsen, die lautstark darum bettelten, einen freundschaftlichen Klaps auf die Wange zu bekommen oder sein Schwert berühren zu dürfen.
Abbot ließ die Bewunderung eine Weile über sich ergehen, dann scheuchte er die Knirpse beiseite. Er verdrängte Rawley von dessen Platz am Pult und wartete, bis Ruhe eingekehrt war. Er brauchte nicht lange zu warten. Abbot war eine beeindruckende Erscheinung, selbst wenn man seine Geschichte nicht kannte. Er war fast einen Meter fünfzig groß, und aus seiner Stirn wuchsen mächtige, geschwungene Hörner. Sein Schuppenpanzer schimmerte dunkelrot und bedeckte den gesamten Oberkörper und die Stirn. Sehr eindrucksvoll und natürlich schwer zu durchdringen. Man konnte den ganzen Tag lang mit einer Axt auf Abbots Brust einhacken, ohne auch nur einen Kratzer zu hinterlassen. Er machte sich regelmäßig einen Spaß daraus, die Anwesenden herauszufordern, ihm wehzutun.
Auch heute warf er seinen Fellumhang zurück und schlug sich auf die Brust. »Na los, wer will's versuchen?«
Ein paar von den Knirpsen hätten beinahe auf der Stelle gekrampft.
»Immer schön der Reihe nach, Mädels«, sagte Rawley, als hätte er noch was zu melden.
Die Knirpse stürmten nach vorne und schlugen mit Fäusten, Füßen und Köpfen auf Abbot ein. Sie prallten samt und sonders ab. Abbot grinste amüsiert.
Idioten, dachte Nr. 1. Als ob sie auch nur eine Chance hätten.
Tatsächlich hatte Nr. 1 eine Theorie, was Schuppenpanzer betraf. Vor ein paar Jahren hatte er mit einem abgeworfenen Babypanzer gespielt, und dabei war ihm aufgefallen, dass er aus Dutzenden von Schichten bestand. Von vorne war es also nahezu unmöglich hindurchzudringen, aber wenn man mit etwas Heißem in einem bestimmten Winkel...
»Was ist mit dir, Weichei?«
Das hämische Gelächter seiner Klassenkameraden riss Nr. 1 aus seinen Gedanken.
Ein eisiger Schreck durchfuhr ihn, als ihm klar wurde, dass Leon Abbot ihn nicht nur persönlich angesprochen, sondern dabei auch noch seinen Spitznamen benutzt hatte. »Verzeihung, Sir, wie bitte?«
Abbot schlug sich erneut gegen die Brust. »Glaubst du, dass du die dicksten Schuppen von Hybras durchdringen kannst?«
»Ich glaube kaum, dass es die dicksten sind«, erwiderte der Mund von Nr. 1, bevor sein Verstand es verhindern konnte.
»Roaahhr!«, brüllte Abbot. Na ja, oder etwas in der Art. »Willst du mich etwa beleidigen, Winzknirps?«
Die Bezeichnung Winzknirps war sogar noch schlimmer als Weichei. Winzknirps nannte man normalerweise die frisch Geschlüpften.
»Nein, nein, natürlich nicht, Master Abbot. Ich dachte nur, dass die Schuppenpanzer von älteren Dämonen vermutlich ein paar Schichten mehr haben. Aber Ihrer ist bestimmt härter - keine abgestorbenen Schuppen an der Innenseite.«
Abbot musterte Nr. 1 aus zusammengekniffenen Schlitzaugen. »Du scheinst dich ja gut mit Schuppen auszukennen. Na los, zeig uns, wie man durch die hier durchkommt.«
Nr. 1 versuchte, das Ganze mit einem Lachen abzutun. »Ach, ich weiß nicht...«
Doch Abbot lächelte nicht. »Keine Widerrede, Weichei. Beweg deinen Stummelschwanz hierher, bevor ich Master Rawley gestatte, das zu tun, was er schon seit Langem tun will.«
Mit einem Ruck zog Rawley sein Schwert aus dem Pult und zwinkerte Nr. 1 zu. Es war kein freundschaftliches Wir-beide-haben-ein-Geheimnis-Zwinkern, sondern ein Mal-schauen-welche-Farbe-deine-Innereien-haben-Zwinkern.
Widerstrebend trottete Nr. 1 nach vorne, wobei er an den glühenden Überresten des nächtlichen Feuers vorbeikam. Aus den Kohlen ragten hölzerne Fleischspieße. Nr. 1 hielt einen Moment inne und betrachtete die scharfen Spieße.
Wenn er nur den Mut hätte... Einer von denen würde wahrscheinlich ausreichen.
Abbot folgte seinem Blick. »Was? Glaubst du vielleicht, ein Fleischspieß würde dir helfen?« Der Dämon schnaubte. »Ich war mal unter glühender Lava begraben, Weichei, und ich stehe immer noch hier. Hol dir ruhig einen. Gib dein Schlimmstes.«
»Gib dein Schlimmstes«, wiederholten mehrere Klassenkameraden von Nr. 1 hämisch.
Zögernd fischte Nr. 1 einen der Holzspieße aus der Glut. Der Griff fühlte sich durchaus solide an, aber die Spitze war verkohlt und brüchig. Nr. 1 klopfte mit dem Spieß gegen sein Bein, um die Asche abzulösen.
Abbot schnappte Nr. 1 den Spieß aus der Hand und hielt ihn hoch. »Das ist also deine Waffe«, sagte er spöttisch. »Unser Weichei glaubt wohl, er wäre auf Kaninchenjagd.«
Das höhnische Gejohle schlug wie eine Woge über dem gequält dreinschauenden Nr. 1 zusammen. Er spürte, wie sich eine Migräne in seinem Kopf anbahnte. Die kam mit absoluter Sicherheit, wenn er sie am wenigsten gebrauchen konnte.
»Na ja, ist vielleicht keine so gute Idee«, gab er zu. »Ich sollte wohl besser mit den Fäusten auf Ihren Panzer einschlagen wie die anderen Schwachköpfe... Ich meine, wie meine Klassenkameraden.«
»Nein, nein«, widersprach Abbot und gab ihm den Fleischspieß zurück. »Nur zu, kleine Biene, piks mich mit deinem Stachel.«
Piks mich mit deinem Stachel, quäkte Nr. 1 in einer höchst beleidigenden Imitation des Rudelführers. Natürlich nicht laut. Außer in seinen Gedanken ging Nr. 1 selten auf Konfrontationskurs.
Laut sagte er: »Ich werde mir Mühe geben, Master Abbot.«
»Ich werde mir Mühe geben, Master Abbot«, quäkte Abbot in einer höchst beleidigenden Imitation von Nr. 1, und zwar so laut er konnte.
Nr. 1 spürte, wie ihm der Schweiß über den Stummelschwanz rann. Er hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Wenn er scheiterte, erwartete ihn eine erneute Woge aus Spott und Hohngelächter. Und wenn er erfolgreich war, handelte er sich erst recht Ärger ein.
Abbot versetzte ihm eine Kopfnuss. »Na los, Weichei, mach schon. Hier sind Knirpse, die auf ihren Krampf warten.«
Nr. 1 starrte auf die Spitze des Spießes und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Er legte die rechte Hand flach auf Abbots Brust. Dann schloss er die Finger fest um das Holz und bohrte den Spieß schräg von unten in eine von Abbots Schuppen.
Er drehte die Spitze vorsichtig hin und her. Die Schuppe verfärbte sich leicht gräulich von der Asche, aber er drang nicht durch. Stinkender Rauch stieg von dem Spieß auf.
Abbot kicherte amüsiert. »Versuchst du da Feuer zu machen, Weichei? Soll ich die Feuerwehr rufen?«
Einer der Knirpse warf mit seinem Mittagessen nach Nr. 1. Ein Klumpen aus Fett, Knochen und Knorpel traf ihn am Hinterkopf.
Doch Nr. 1 ließ sich nicht beirren und rollte den Spieß zwischen Daumen und Zeigefinger, immer schneller. Die Spitze hatte Halt gefunden und brannte eine leichte Kuhle in die Schuppe.
Nr. 1 spürte, wie Erregung in ihm aufstieg. Die drohenden Folgen vor Augen, bemühte er sich, sie im Zaum zu halten, aber es gelang ihm nicht. Der Erfolg war zum Greifen nahe. Er war kurz davor, mithilfe seines Hirnschmalzes das zu erreichen, was all die anderen Idioten mit Muskelnschmalz nicht geschafft hatten. Natürlich würden sie über ihn herfallen, und Abbot würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, um seinen Erfolg kleinzureden, aber Nr. 1 würde wissen, dass er es geschafft hatte. Und Abbot auch.
Der Spieß drang durch, nur ein winziges Stück. Nr. 1 spürte, wie die Schuppe nachgab, vielleicht eine einzige Schicht. Der kleine Knirps fühlte etwas, das er noch nie gefühlt hatte: Triumph. Es stieg in ihm auf, unwiderstehlich, unaufhaltsam. Es wurde mehr als ein Gefühl, es verwandelte sich in eine Kraft, die längst vergessene Nervenverbindungen zum Leben erweckte und eine uralte Energie in ihm freisetzte.
Was hat das zu bedeuten?, fragte sich Nr. 1. Soll ich aufhören? Kann ich aufhören?
Die Antworten auf diese Fragen lauteten ja und nein. Ja, er sollte aufhören, aber nein, er konnte nicht. Die Kraft floss durch seine Glieder, und seine Temperatur stieg. Er hörte Stimmen in seinem Kopf, die sangen. Dann bemerkte er, dass er mit ihnen sang. Was waren das für Gesänge? Nr. 1 hatte keine Ahnung, aber sein Gedächtnis schien sie zu kennen.
Die seltsame Kraft pulsierte in seinen Fingern, im gleichen Rhythmus wie sein Herzschlag, dann floss sie aus seinem Körper heraus in den Spieß. Und das Holz wurde zu Stein, direkt vor seinen Augen. Wie eine Welle breitete sich das Versteinerungsvirus über den Schaft aus. In Funkenschnelle bestand der gesamte Spieß aus Granit. Er erweiterte kaum merklich das winzige Loch in Abbots Schuppenpanzer.
Mit einem Knacken riss die Schuppe mehrere Zentimeter weit auf. Abbot hörte es, und alle anderen hörten es auch. Der Rudelführer der Dämonen blickte nach unten und begriff sofort, was los war.
»Magie«, zischte er. Das Wort war heraus, bevor er sich bremsen konnte. Mit einer abrupten Handbewegung fegte er den Spieß von seiner Brust und ins Feuer.
Nr. 1 starrte auf seine pulsierende Hand. Um die Fingerspitzen schimmerte immer noch ein winziges Energiefeld, strahlte Wärme ab. »Magie?«, wiederholte er. »Das bedeutet, ich bin ein -«
»Halt deine dämliche Klappe«, fauchte Abbot und bedeckte die gesprungene Schuppe mit seinem Umhang. »Natürlich meinte ich keine echte Magie. Ich meine Trickserei. Du werkelst mit dem Schaft von dem Spieß herum, bis er knackt, und dann spielst du dich auf, als hättest du was zustande gebracht.«
Nr. 1 zupfte an Abbots Umhang. »Aber Ihre Schuppe?«
Abbot zog den Umhang fester um sich. »Was ist damit? Da ist kein Kratzer, nicht mal ein Fleck. Das wirst du mir doch wohl glauben, oder?«
Nr. 1 seufzte. Das war typisch Leon Abbot: Die Wahrheit zählte nicht. »Ja, Master Abbot, ich glaube Ihnen.«
»Ich höre an deinem frechen Ton, dass du mir keineswegs glaubst. Gut, dann beweise ich es eben.« Abbot riss seinen Umhang auf, und die Schuppe war in der Tat unversehrt. Einen Moment lang meinte Nr. 1, einen blauen Funken über der Stelle zu sehen, an der definitiv ein Riss gewesen war, doch dann erlosch der Funke. Ein blauer Funke - war es möglich, dass Abbot Magie besaß?
Abbot bohrte dem Knirps seinen Zeigefinger in die Brust. »Mr. Rawley hat mir erzählt, dass er bereits mit dir über dieses Thema gesprochen hat, Nr. 1. Ich weiß, du glaubst, du wärst ein Zauberer. Aber es gibt keine Zauberer mehr, jedenfalls nicht, seitdem wir aus der Zeit gelöst wurden. Du bist kein Zauberer. Vergiss den Quatsch und konzentrier dich auf deinen Krampf. Du bist eine Schande für dein ganzes Volk.«
Nr. 1 wollte gerade einen Widerspruch riskieren, als ihn jemand grob am Arm packte.
»Du hinterhältige kleine Schlange«, brüllte Rawley, dass Nr. 1 der Speichel ins Gesicht spritzte. »Versuchst, den Rudelführer auszutricksen. Setz dich sofort wieder hin. Um dich kümmere ich mich später.«
Nr. 1 blieb nichts anderes übrig, als an seinen Platz zurückzukehren und die Beleidigungen seiner Klassenkameraden über sich ergehen zu lassen. Und davon gab es jede Menge, meist begleitet von einem Wurfgeschoss oder einem Knuff. Doch diesmal prallte das alles an Nr. 1 ab. Er starrte nur hinunter auf seine Hand. Die Hand, die Holz in Stein verwandelt hatte. War es möglich? War er tatsächlich ein Zauberer? Und wenn es wahr wäre, würde es ihm dann besser gehen oder schlechter?
Ein Zahnstocher prallte von seiner Stirn ab und fiel auf den Tisch. An der Spitze hing ein Fetzchen graues Fleisch. Als Nr. 1 aufblickte, stand Rawley grinsend vor ihm.
»Hab seit Wochen versucht, das Zeug rauszukriegen. Wildschwein, glaube ich. Und jetzt spitz die Ohren, Weichei, Master Abbot will euch was erzählen.«
Ach ja, der Geschichtsunterricht. Kaum zu glauben, wie Leon Abbot seine Rolle in der Geschichte der Dämonen aufblies. Man konnte meinen, er hätte die achte Familie ganz allein gerettet, und das gegen den Widerstand der Zauberer.
Abbot war in die Betrachtung der gebogenen Krallen an seinen Fingerspitzen vertieft. Jede einzelne davon konnte ein ausgewachsenes Schwein aufschlitzen. Nach Abbots Erzählungen hatte er bereits im Alter von acht Jahren gekrampft, und zwar beim Kampf mit einem der wilden Hunde, die auf der Insel lebten. Die Fingernägel hatten sich während des Kampfes in Krallen verwandelt, mit denen er schließlich dem Hund das Fell zerfetzt hatte.
Nr. 1 fand diese Geschichte höchst unglaubwürdig. Der Krampf dauerte Stunden, manchmal sogar Tage, aber Abbot behauptete, sein Krampf sei augenblicklich vorbei gewesen. Kompletter Quatsch. Trotzdem sogen die anderen Knirpse diese selbstverherrlichenden Legenden begierig in sich auf.
»Von allen Dämonen, die in der großen Schlacht bei Taillte gekämpft haben«, salbaderte Abbot mit einer Stimme, die er vermutlich für spannend und unterhaltsam hielt - die nach Ansicht von Nr. 1 jedoch so einschläfernd war, dass selbst seine Füße Mühe hatten, wach zu bleiben -, »bin ich, Leon Abbot, der letzte.«
Wie praktisch, dachte Nr. 1. Keiner mehr da, der widersprechen kann. Und dann dachte er noch: Man sieht dir dein Alter an, Leon. Zu viele Fässer Schweinefett - Nr. 1 konnte ein ziemlich unfreundlicher Knirps sein, wenn er schlechte Laune hatte.
Es liegt in der Natur eines Zeitbanns, dass der Alterungsprozess drastisch verlangsamt wird. Abbot war ein junger Mann gewesen, als die Zauberer Hybras aus der Zeit gelöst hatten, und so hatte der Zauberbann, in Verbindung mit einer guten Anlage, ihn und sein gewaltiges Ego seither am Leben gehalten. Ungefähr tausend Jahre. Nach normaler Zeitrechnung natürlich. In der Zeitrechnung von Hybras war ein Jahrtausend so gut wie nichts. Auf der Insel gingen ein paar Jahrhunderte schon mal mit einem Fingerschnippen vorbei. Auch die Evolution konnte über Nacht zuschlagen. So waren vor einiger Zeit sämtliche Dämonen und Knirpse auf Hybras morgens mit einem Stummelschwanz aufgewacht, anstelle des prachtvollen langen Exemplars, das sie noch am Abend zuvor besessen hatten. Danach hörte man auf der Insel eine ganze Weile lautes Plumpsen, wenn ein Dämon umfiel, gefolgt vom Fluchen, mit dem er sich wieder aufrappelte.
»Am Ende dieser großen Schlacht, bei der die Bataillone der Dämonen die mutigsten und stärksten in der Armee des Erdvolks waren«, fuhr Abbot unter dem Jubelgeschrei der Knirpse fort, »wurden wir durch Verrat und Feigheit besiegt. Die Elfen weigerten sich zu kämpfen, und die Zwerge weigerten sich, Fallen zu graben. Uns blieb nichts anderes übrig, als unseren Zauberbann auszuüben und uns zurückzuziehen, bis die Zeit für die Rückkehr gekommen ist.«
Weiteres Gejohle, begleitet von beifälligem Fußstampfen.
Jedes Mal dasselbe, dachte Nr. 1. Müssen wir diesen Mist denn immer wieder durch exerzieren? Diese Knirpse tun so, als hätten sie die Geschichte noch nie gehört. Wann meldet sich endlich jemand und sagt: »Das hatten wir schon. Gibt's vielleicht mal was Neues?«
»Und so vermehrten wir uns und wurden immer stärker. Jetzt zählt unsere Armee über fünftausend Krieger - mehr als genug, um die Menschenwesen zu besiegen. Ich weiß das, denn ich, Leon Abbot, war auf der Erde und bin lebend nach Hybras zurückgekehrt.«
Das war der Ursprung von Abbots Macht. Der Punkt, bei dem jeder, der es mit ihm aufnehmen wollte, klein beigeben musste. Abbot war nicht wie die anderen hilflos durchs Zeitmeer getrieben. Aus irgendeinem Grund war er in die Zukunft der Menschen abgelenkt und erst später nach Hybras zurückgesogen worden. Er hatte die Feldlager der Menschen gesehen und sein Wissen mit nach Hause gebracht. Wie das allerdings genau vor sich gegangen war, ließ sich nicht mehr feststellen. Abbot zufolge war es zu einer großen Schlacht gekommen, bei der er etwa fünfzig Männer niedergestreckt hatte, und dann hatte ein geheimnisvoller Zauberer ihn erneut aus der Zeit gelöst - aber vorher hatte er sich noch ein paar Dinge unter den Nagel gerissen und mitgenommen. Seit die Zauberer gewaltsam von der achten Familie getrennt worden waren, war das Wissen um die Magie fast völlig in Vergessenheit geraten. Normale Dämonen verfügten nicht über Magie. Man hatte angenommen, dass alle Zauberer bei der Verlegung der Insel Hybras von der Erde ins Zeitmeer tief ins All katapultiert worden waren. Doch nach Abbots Berichten hatte einer überlebt. Dieser eine Zauberer hatte sich mit den Menschen verbündet und ihm, dem Anführer der Dämonen, nur unter Androhung von Gewalt geholfen.
Nr. 1 stand dieser Version äußerst skeptisch gegenüber. Zum einen, weil sie von Abbot stammte, und zum anderen, weil sie - wieder einmal - die Zauberer in ein schlechtes Licht rückte. Die Dämonen schienen zu vergessen, dass Hybras ohne die Hilfe der Zauberer von den Menschen eingenommen worden wäre.
An diesem Tag fühlte Nr. 1 sich den Zauberern besonders eng verbunden, und es ging ihm mächtig gegen den Strich, dass die Erinnerung an sie durch dieses Großmaul in den Schmutz gezogen wurde. Es verging kaum ein Tag, an dem Nr. 1 nicht ein Stoßgebet gen Himmel schickte, dass der geheimnisvolle Zauberer zurückkehren möge, der Abbot gerettet hatte. Nun, da er sicher war, dass er selbst Magie im Blut hatte, würde er umso nachdrücklicher beten.
»Der Mond riss mich während der großen Reise fort von der Insel«, fuhr Abbot fort, die Augen halb geschlossen, als versetze die Erinnerung ihn in Trance. »Ich war machtlos, mich seiner Anziehung zu widersetzen. Und so reiste ich durch Raum und Zeit, bis ich in der neuen Welt landete, die jetzt die Welt der Menschen ist. Die Menschenwesen legten mir silberne Fesseln an und versuchten, mich zu unterwerfen, doch ich wehrte mich mit aller Kraft.« Abbot warf sich in die massige Brust und stieß ein wildes Gebrüll aus. »Denn ich bin ein Dämon! Und wir werden uns niemals unterwerfen!«
Wie nicht anders zu erwarten, flippten die Knirpse an diesem Punkt völlig aus. Alle im Raum tobten. Nr. 1 fand Abbots Auftritt eher hölzern, vorsichtig ausgedrückt. Die »Wir werden uns niemals unterwerfen«-Passage war die älteste Kamelle in Abbots Repertoire. Nr. 1 massierte sich die Schläfen, um die Kopfschmerzen ein wenig zu lindern. Er wusste, der Vortrag war noch längst nicht zu Ende. Erst kam noch das mit dem Buch, dann die Armbrust, falls Abbot nicht von seinem Text abwich. Und warum sollte er? Das hatte er in all den Jahren, seit er aus der neuen Welt zurückgekommen war, noch nie getan.
»Und so kämpfte ich!«, brüllte Abbot. »Ich zerriss meine Fesseln, und Hybras rief mich heim, doch bevor ich die verhassten Menschen verließ, stürmte ich zu ihrem Altar und stahl ihnen zwei ihrer Heiligtümer.«
»Das Buch und die Armbrust«, murmelte Nr. 1 und verdrehte die orangefarbenen Augen.
»Sagen Sie uns, was Sie gestohlen haben«, bettelten die anderen prompt, als wüssten sie es nicht längst.
»Das Buch und die Armbrust!«, verkündete Abbot und zog die beiden Gegenstände wie ein Zauberer unter seinem Umhang hervor. Wie ein Zauberer, dachte Nr. 1. Aber Abbot war kein Zauberer, denn er hatte gekrampft, und Zauberer krampften nicht.
»Nun wissen wir, wie die Menschenwesen denken«, sagte Abbot und schwenkte das Buch. »Und wie sie kämpfen«, fuhr er fort, die Armbrust hochhaltend.
Ich glaube diesen ganzen Humbug nicht eine Sekunde, dachte Nr. 1. Nicht mal, wenn wir hier im Zeitmeer überhaupt Sekunden hätten. Ach, wäre ich doch nur bei dem letzten Zauberer, auf der Erde. Dann wären wir zu zweit, und ich würde herausfinden, was wirklich passiert ist, als Abbot dort war.
»Und sobald der Zeitbann nachlässt, werden wir, mit diesem Wissen gerüstet, das alte Land zurückerobern.«
»Wann?«, riefen die Knirpse. »Wann?«
»Bald«, erwiderte Abbot. »Und es wird genügend Menschenwesen für uns alle geben. Wir werden sie zertrampeln wie das Gras unter unseren Füßen. Wir werden ihnen die Köpfe abreißen, als wären sie Löwenzahn.«
Lieber Himmel, dachte Nr. 1. Es reicht jetzt mit den Pflanzenmetaphern.
Es war gut möglich, dass Nr. 1 das einzige Wesen auf Hybras war, das je das Menschenwort »Metapher« benutzt hatte - wenn auch nur in Gedanken. Es laut auszusprechen hätte ihm sicher eine Tracht Prügel eingehandelt. Hätten die anderen Knirpse gewusst, dass sein Wortschatz auch noch Begriffe wie »Eleganz« oder »Dekoration« umfasste, hätten sie ihn wahrscheinlich aufgeknüpft. Ironischerweise hatte er diese Wörter aus Lady Heatherington Smythes Hecke, das als Schullektüre vorgeschrieben war.
»Kopf ab, Kopf ab«, rief einer der Knirpse, und alsbald fielen die anderen ein, bis der ganze Raum dröhnte.
»Ja, Kopf ab«, sagte Nr. 1 versuchsweise, aber es klang wenig überzeugend. Warum auch?, fragte er sich. Ich kenne die Menschenwesen doch nicht einmal.
Die Knirpse kletterten auf ihre Tische und hüpften in primitivem Rhythmus auf und ab.
»Kopf ab! Kopf ab! Kopf ab!«
Abbot und Rawley feuerten sie an, zeigten ihnen die Krallen und heulten. Ein widerlich süßer Geruch breitete sich aus. Krampfschleim. Jemand trat in die Krampfphase ein, ausgelöst durch die allgemeine Erregung.
Nr. 1 fühlte gar nichts. Nicht einmal ein Ziepen. Er gab sich redlich Mühe, kniff die Augen zu, ließ den Druck in seinem Kopf ansteigen und versuchte, blutrünstig zu sein. Doch seine wahren Gefühle löschten die künstlichen Bilder von Blut und Gewalt aus.
Es hat keinen Zweck, seufzte er bei sich. Ich bin einfach nicht wie die anderen Dämonen.
Nr. 1 hörte mit den Schlachtrufen auf, setzte sich und ließ den Kopf in die Hände sinken. Es hatte keinen Zweck, so zu tun als ob - auch dieser Krampf würde ohne ihn stattfinden.
Doch die anderen Knirpse waren voll in ihrem Element. Abbots Auftritt hatte eine wahre Flut von Blutdurst, Testosteron und Schleim ausgelöst. Einer nach dem anderen wurde vom Krampf gepackt. Grüner Schleim trat ihnen aus den Poren, erst langsam, dann quoll er blubbernd hervor. Alle gingen zu Boden, jeder Einzelne von ihnen. Das war bestimmt ein Rekord, so viele Knirpse, die gleichzeitig krampften. Natürlich würde Abbot sich das als Verdienst anrechnen.
Der Anblick des Schleims löste erneutes Geheul aus. Und je mehr die Knirpse heulten, desto üppiger floss der Schleim. Nr. 1 hatte gehört, dass Menschenwesen mehrere Jahre brauchten, um vom Kind zum Erwachsenen zu werden. Knirpse brachten das in ein paar Stunden hinter sich. Und so eine Verwandlung tat weh.
Aus den Jubelrufen wurde gequältes Stöhnen, als Knochen sich dehnten, gewundene Hörner austraten und schleimbedeckte Glieder länger wurden. Der süßliche Gestank wurde so stark, dass es Nr. 1 würgte.
Überall wanden sich Knirpse in Zuckungen, dann wurden sie von den eigenen Körperflüssigkeiten quasi mumifiziert. Der Schleim verhärtete sich und umschloss sie wie ein riesiger, grüner Kokon. Plötzlich herrschte im Klassenzimmer Stille, abgesehen vom Knacken des trocknenden Nährschleims und dem Knistern des Feuers im Kamin.
Abbot strahlte von einem stachelbewehrten Ohr zum anderen. »Gute Arbeit, was, Rawley? Ich habe sie alle zum Krämpfen gebracht.«
Rawley grunzte zustimmend, dann bemerkte er Nr. 1. »Außer dem Weichei.«
»Na ja, logisch«, begann Abbot, fing sich aber sofort wieder. »Ja, stimmt. Außer dem Weichei.«
Nr. 1 duckte sich unter den bohrenden Blicken von Rawley und Abbot.
»Ich will ja krampfen«, sagte er, ohne aufzusehen. »Wirklich. Aber das mit dem Hassen kriege ich einfach nicht hin. Und dann dieser eklige Schleim. Allein bei dem Gedanken, das Zeug überall am Körper zu haben, wird mir blümerant.«
»Was?«, fragte Rawley misstrauisch.
Nr. 1 begriff, dass sein Lehrer ihm nicht folgen konnte. »Übel. Mir wird übel.«
»Oh.« Rawley schüttelte abschätzig den Kopf. »Von Schleim wird dir übel? Was bist denn du für ein Knirps? Die anderen sind ganz verrückt danach.«
Nr. 1 holte tief Luft, dann sprach er laut aus, was er schon seit Langem ahnte. »Ich bin nicht wie die anderen.« Seine Stimme zitterte. Er war kurz davor, in Tränen auszubrechen.
»Fängst du jetzt etwa an zu heulen?«, fragte Rawley fassungslos. »Das ist zu viel, Leon. Der Kerl flennt wie ein Weib. Ich geb's auf.«
Abbot kratzte sich am Kinn. »Ich probier mal was.«
Er kramte in einer Tasche seines Umhangs und schob sich verstohlen etwas über die Hand.
Oh nein, dachte Nr. 1. Bitte nicht. Nicht Stony.
Abbot hob den Unterarm und hielt den Umhang mit der anderen Hand davor. Eine Mini-Bühne. Über dem Fellumhang tauchte eine Menschenpuppe auf. Der Kopf war eine groteske Kugel aus bemaltem Lehm, mit klobiger Stirn und derben Zügen. Nr. 1 bezweifelte, dass Menschenwesen im richtigen Leben so hässlich waren, aber Dämonen waren nicht gerade für ihre künstlerischen Fähigkeiten berühmt. Abbot setzte Stony häufig als visuellen Anreiz für die Knirpse ein, die Schwierigkeiten mit ihrem Krampf hatten. Wie sich jeder leicht denken kann, hatte Nr. 1 bereits Bekanntschaft mit der Puppe gemacht.
»Grrr«, sagte die Puppe, beziehungsweise Abbot sagte es, während er die Puppe hin und her schwenkte. »Grrr, ich bin Stony, der Menschenmann.«
»Hallo, Stony«, sagte Nr. 1 schwach. »Wie geht es dir?«
Die Puppe hielt ein kleines hölzernes Schwert in der Hand.
»Ist doch scheißegal. Und mir ist auch scheißegal, wie's dir geht, denn ich hasse alle Unterirdischen«, sagte Abbot mit Quäkstimme. »Ich habe sie aus ihrer Heimat vertrieben. Und falls sie je versuchen sollten zurückzukommen, bringe ich sie alle um.«
Abbot ließ die Puppe sinken. »Na, was für ein Gefühl hast du jetzt?«
Ich habe das Gefühl, dass der falsche Dämon Rudelführer ist, dachte Nr. 1, doch laut sagte er: »Äh... Zorn?«
Abbot blinzelte. »Zorn? Wirklich?«
»Nein«, gestand Nr. 1 nervös. »Ich fühle gar nichts. Es ist eine Puppe. Ich kann Ihre Hände durch den Stoff sehen.«
Abbot stopfte Stony zurück in seine Tasche. »Jetzt reicht's. Ich hab die Nase voll von dir, Nr. 1. Du wirst dir niemals einen Namen aus dem Buch verdienen.«
Nach dem Krampf bekamen Dämonen einen Menschennamen aus Lady Heatherington Smythes Hecke. Dahinter stand der Gedanke, dass die Soldaten der Dämonenarmee, wenn sie einen Menschennamen hatten und die Sprache der Menschenwesen erlernten, sich besser in ihre Feinde hineinversetzen und sie so besiegen könnten. Abbot hasste die Menschenwesen zwar, aber er konnte nicht leugnen, dass er sie trotzdem bewunderte. Außerdem war es politisch nicht unklug, wenn alle Dämonen auf Hybras einander mit Namen ansprachen, die Leon Abbot persönlich ihnen gegeben hatte.
Rawley packte Nr. 1 am Ohr und schleifte ihn von seinem Tisch zur Rückwand des Klassenzimmers. Dort befand sich eine flache, stinkende Dunggrube, die mit einem Metallgitter abgedeckt war.
»An die Arbeit, Weichei«, knurrte er. »Du weißt ja, was du zu tun hast.«
Nr. 1 seufzte. Das wusste er nur allzu gut. Schließlich war es nicht das erste Mal, dass er diese widerwärtige Arbeit erledigen musste. Er nahm einen langen Haken von der Wand und zog das schwere Gitter von der Grube. Der Gestank war abstoßend, aber nicht unerträglich, da sich auf der Oberfläche des Dungs eine Kruste gebildet hatte. Käfer krabbelten über die furchige, eingetrocknete Masse, und ihre Beinchen klickten bei jedem Schritt wie winzige Klauen auf Holz.
Nr. 1 öffnete die Grube ganz, dann ging er zu dem Klassenkameraden, der ihm am nächsten lag. Wegen des Schleimkokons war es unmöglich festzustellen, wer es war. Das Einzige, was sich bewegte, waren kleine Luftblasen um Mund und Nase. Zumindest hoffte er, dass es Mund und Nase waren.
Nr. 1 bückte sich und rollte den Kokon über den Boden, bis er in die Grube plumpste. Der verpuppte Knirps krachte durch die Kruste und riss dabei ein Dutzend Käfer mit in den Schlamm darunter. Eine Woge von Dunggestank schlug Nr. 1 entgegen, und er wusste, dass seine Haut noch tagelang danach stinken würde. Die anderen würden ihren Gestank voller Stolz tragen, aber für Nr. 1 bedeutete es nur eine weitere Schande.
Es war harte Arbeit. Nicht alle krampfenden Knirpse lagen still. Einige zappelten in ihren Kokons, und zweimal durchstach eine Dämonenklaue die grüne Puppe und hätte Nr. 1 fast die Haut aufgeschlitzt.
Er stöhnte hörbar, während er sich abrackerte, in der Hoffnung, dass Rawley oder Leon Abbot ihm zur Hand gehen würden. Vergeblich. Die beiden Dämonen hockten vorne am Pult, ganz in Lady Heatherington Smythes Hecke vertieft.
Schließlich rollte Nr. 1 seinen letzten Klassenkameraden in die Dunggrube. Sie lagen dicht an dicht, wie Fleischbrocken in einem zähen Eintopf. Der nährstoffreiche Dung würde ihren Krampf beschleunigen und dafür sorgen, dass sie sich nach bestem Vermögen entwickelten. Nr. 1 saß auf dem Boden und rang nach Atem.
Ihr Glückspilze, dachte Nr. 1. In Dung getunkt.
Er versuchte, Neid zu empfinden. Doch allein der Geruch der Grube brachte ihn zum Würgen. Bei der Vorstellung, mitten in dem Zeug zu liegen, umgeben von verpuppten Knirpsen, drehte sich ihm der Magen um.
Ein Schatten fiel auf die Steinfliesen vor ihm und zuckte im Feuerschein.
»Ah, Nr. 1«, sagte Abbot. »Der ewige Knirps. Was mache ich nur mit dir?«
Nr. 1 starrte auf seine Füße und tappte mit den Babykrallen auf den Boden. »Master Abbot, Sir, glauben Sie nicht, es gibt vielleicht doch eine winzige Chance?« Er holte tief Luft und blickte Abbot in die Augen. »Könnte es nicht sein, dass ich ein Zauberer bin? Sie haben doch gesehen, was mit dem Spieß passiert ist. Ich will Sie nicht in Verlegenheit bringen, aber ich weiß, dass Sie es gesehen haben.«
Sofort veränderte sich Abbots Gesichtsausdruck. Verschwunden war der wohlmeinende Lehrmeister, jetzt zeigte er sein wahres Wesen.
»Gar nichts habe ich gesehen«, zischte er und zerrte Nr. 1 vom Boden hoch. »Es ist überhaupt nichts passiert, du dämliche kleine Missgeburt. Der Spieß war mit Asche bedeckt, weiter nichts. Es gab keine Verwandlung und keine Magie.«
Abbot zog Nr. 1 so dicht zu sich heran, dass dieser die Fleischfetzen zwischen seinen vergilbten Zähnen sehen konnte. Als Abbot das nächste Mal sprach, klang seine Stimme irgendwie anders. Vielschichtig. Als ob ein ganzer Chor mehrstimmig sang. Es war eine Stimme, die man nicht ignorieren konnte. Eine magische Stimme?
»Wenn du wirklich ein Zauberer bist, solltest du auf der anderen Seite sein, bei deinesgleichen. Wäre das nicht das Beste? Ein kleiner Sprung, mehr braucht es nicht. Verstehst du, was ich dir sage, Weichei?«
Nr. 1 nickte benommen. Was für eine wunderbare Stimme. Wo kam die her? Von der anderen Seite natürlich. Von dort, wo er hingehen sollte. Ein kleiner Schritt für einen Knirps.
»Ja, ich verstehe, Sir.«
»Gut. Dann wäre das ja geklärt. Wie Lady Heatherington Smythe sagen würde: ›Wohlan denn, junger Mann, die große, weite Welt ist dein.‹«
Nr. 1 nickte, weil er wusste, dass Abbot es von ihm erwartete, doch in ihm sträubte sich alles. Sollte das sein Leben sein? Auf ewig verspottet, auf ewig anders. Kein Lichtblick. Es sei denn, er wechselte auf die andere Seite.
Abbots Vorschlag war seine einzige Hoffnung. Die Seite wechseln. Bisher hatte die Vorstellung, in einen Vulkankrater zu springen, für Nr. 1 nie den geringsten Reiz gehabt, doch jetzt erschien sie ihm geradezu unwiderstehlich. Er war ein Zauberer, daran konnte es keinen Zweifel geben. Und irgendwo da draußen, in der Welt der Menschen, gab es jemanden, der wie er war. Ein Bruder, der ihn seine Künste lehren würde.
Nr. 1 sah Abbot nach, der den Raum verließ, auf dem Weg zur nächsten Gelegenheit, die eigene Macht auszuspielen. Wahrscheinlich würde er die Frauen in ihrem Lager schikanieren - eine weitere von seinen Lieblingsbeschäftigungen. Andererseits, so schlecht konnte Abbot auch wieder nicht sein, schließlich hatte er Nr. 1 diese wunderbare Idee eingegeben.
Ich kann nicht hierbleiben, dachte Nr. 1. Ich muss zum Vulkan gehen.
Der Gedanke setzte sich in seinem Hirn fest und hatte innerhalb weniger Minuten alle anderen Gedanken überlagert.
Geh zum Vulkan.
Es dröhnte durch seinen Schädel wie Wellen, die sich am Ufer brachen. Tu, was Abbot gesagt hat. Geh zum Vulkan.
Nr. 1 wischte sich den Staub von den Knien. »Gar keine schlechte Idee«, sagte er zu sich selbst, gerade laut genug, dass Rawley ihn hören konnte. »Ich glaube, ich gehe zum Vulkan.«