Kapitel 13

 

Auszeit

 
 

Die Reise zwischen den Dimensionen war turbulenter, als Artemis in Erinnerung hatte. Es blieb kaum Zeit, die wechselnden Umgebungen zu betrachten oder Geräusche, Gerüche und Temperaturschwankungen wahrzunehmen. Sie wurden aus ihrer Dimension gerissen und durch enge Raum- und Zeittunnel gesogen, und das Einzige, was dabei ganz blieb, war ihr Bewusstsein. Nur ein einziges Mal landeten sie für einen winzigen Augenblick.

Die Landschaft war grau, trist und voller Krater, und in der Ferne konnte Artemis einen halb von Wolken verdeckten blauen Planeten erkennen.

Ich bin auf dem Mond, dachte Artemis, dann wurden sie schon wieder von der Anziehungskraft der Insel Hybras fortgerissen.

Es war ein bizarres Gefühl, diese körperlose Reise durch Zeit und Raum. Wieso bin ich bei Bewusstsein?, fragte sich Artemis. Wie ist das alles überhaupt möglich?

Und was noch seltsamer war: Wenn er sich konzentrierte, konnte er die Gedanken der anderen spüren, die um ihn herumwirbelten. Das meiste waren nur Fetzen, Gefühlseindrücke wie Angst oder Erregung, aber nachdem er ein bisschen an der Feineinstellung gearbeitet hatte, nahm er auch spezifischere Gedanken wahr.

Holly zum Beispiel fragte sich gerade, ob ihre Waffe wohl intakt ankommen würde. Typisch Soldat. Und Nr. 1 war furchtbar nervös, nicht wegen der Reise selbst, sondern wegen jemandem, der ihn in Hybras erwartete. Abbot. Ein Dämon namens Abbot.

Artemis wandte sich Qwan zu, der neben ihm durch den Äther schwebte. Sein Verstand war hellwach und arbeitete an komplexen Berechnungen und philosophischen Rätseln.

Du bist ein wirklich aufgeweckter junger Mann.

Artemis' Bewusstsein registrierte, dass dieser Gedanke an ihn gerichtet war. Dem Zauberer war sein unbeholfenes Sondieren nicht entgangen.

Artemis spürte, dass es einen Unterschied gab zwischen seinem Bewusstsein und dem der anderen. Sie besaßen etwas, das ihm fehlte. Eine fremdartige Energie. Es war schwierig, ein Gefühl zu beschreiben, wenn einem der passende Sinn dazu gar nicht zur Verfügung stand, aber aus irgendeinem Grund schien ihm diese Energie blau zu sein. Eine Art blaues Plasma, elektrisierend und lebendig. Artemis öffnete sich für diese Energie, und schlagartig durchströmte ihn ihre Macht.

Magie, dachte er. Die Magie liegt im Bewusstsein. Was für eine spannende Erkenntnis. Artemis zog sich wieder in seine eigenen Gedanken zurück, aber er nahm ein wenig von dem blauen Plasma mit. Wer weiß, vielleicht konnte er ja mal einen Schuss Magie gebrauchen.

Sie landeten auf Hybras, im Innern des Kraters. Ihre Ankunft war begleitet von einem Blitz fehlgeleiteter Energie. Die vier lagen keuchend und dampfend auf dem rußgeschwärzten Abhang. Der Boden unter ihnen fühlte sich warm an, und beißender Schwefelgeruch stieg ihnen in die Nase. Die Materialisierungseuphorie verpuffte schnell.

Artemis holte tief Luft. Der Atem, den er ausstieß, wirbelte kleine Staubwolken auf. Vulkanische Gase trieben ihm die Tränen in die Augen, und jeder Quadratzentimeter freiliegender Haut war mit dünnen Ascheflocken bedeckt.

»Das könnte die Hölle sein«, sagte er.

»Hybras ist die Hölle«, sagte Nr. 1 und erhob sich auf die Knie. »Ich habe solche Asche schon mal auf meine Schuluniform gekriegt. Die geht nie wieder raus.«

Auch Holly hatte sich aufgerappelt und überprüfte ihre Ausrüstung. »Meine Neutrino funktioniert. Aber ich bekomme kein Funksignal. Wir sind auf uns allein gestellt. Und wie's aussieht, habe ich die Bombe verloren.«

Artemis versuchte sich aufzurichten. Seine Knie brachen durch die Aschekruste und setzten Hitzeschwaden frei. Er sah auf die Uhr und erblickte dabei sein Spiegelbild. Das Haar war grau von Asche, und er dachte einen Moment, er hätte seinen Vater vor sich.

Ihm schoss ein Gedanke durch den Kopf. Ich sehe aus wie mein Vater - ein Vater, den ich vielleicht nie wiedersehe. Mutter. Butler. Mir ist nur noch ein Freund geblieben.

»Holly«, sagte er. »Sehen Sie mich an.«

Holly blickte konzentriert auf ihren Armbandcomputer. Normalerweise hätte sie die Anzeigen ihres Helmvisiers benutzt, aber ihr Helm war von der Granate ziemlich ramponiert, und außerdem fühlte sie sich noch etwas angeschlagen von der Dimensionenreise. Hinzu kam, dass der ständige Wechsel des Fokus, der für das Ablesen der Visieranzeigen notwendig war, einem schon unter normalen Umständen auf den Magen schlug. »Ich habe jetzt keine Zeit, Artemis«, knurrte sie.

Vorsichtig balancierte Artemis über die dünne Kruste zu ihr.

»Holly, sehen Sie mich an«, sagte er noch einmal und legte ihr die Hände auf die Schultern.

Etwas in seiner Stimme ließ Holly aufhorchen. Diesen Tonfall benutzte Artemis Fowl nur sehr selten. Er hätte fast als zärtlich durchgehen können.

»Ich muss mich nur vergewissern, dass Sie immer noch Sie sind. Zwischen den Dimensionen geht so einiges durcheinander. Beim letzten Mal haben zwei Finger den Platz getauscht.« Er zeigte ihr seine Hand. »Seltsam, ich weiß. Aber bei Ihnen scheint alles da und an der richtigen Stelle zu sein.«

Aus dem Augenwinkel nahm Artemis etwas Glänzendes wahr. Ein Stück oberhalb an der Kraterwand lag ein Metallkoffer, halb in der Asche vergraben.

»Die Bombe«, seufzte Artemis. »Ich dachte, die wären wir los. Als wir ankamen, gab es einen Blitz.«

Qwan kraxelte zu der Bombe. »Nein, das war nur fehlgeleitete Energie. Hauptsächlich meine. Magie ist fast wie ein eigenes Wesen. Sie fließt, wohin sie will. Ein Teil von ihr ist nicht rechtzeitig zu mir zurückgeflossen und hat sich beim Eintritt in diese Dimension entzündet. Aber der Rest meiner Magie ist zum Glück wieder aufgeladen und startklar.«

Artemis war überrascht, wie sehr die Ausdrucksweise dieses prähistorischen Wesens dem NASA-Jargon ähnelte. Kein Wunder, dass wir gegen die Unterirdischen keine Chance haben, dachte er. Die haben schon interdimensionale Gleichungen gelöst, als wir noch versucht haben, mit Steinen Funken zu schlagen.

Artemis half dem Zauberer, die Bombe aus der Asche zu ziehen, und klappte den Koffer auf. Der Timer hatte bei dem Zeitensprung einen mitgekriegt und stand jetzt auf fünftausend Stunden. Immerhin etwas.

Mithilfe von Butlers Dietrichen öffnete Artemis das Gehäuse. Dann widmete er sich dem Mechanismus der Bombe. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, sie zu entschärfen, wenn er ein paar Monate Zeit, mehrere Computer und ein paar Laserwerkzeuge zur Verfügung gehabt hätte. Ohne das war die Wahrscheinlichkeit ungefähr so groß wie die, dass ein Eichhörnchen einen Papierflieger bastelte.

»Die Bombe ist voll funktionsfähig«, sagte er zu Qwan. »Nur der Timer ist verstellt.«

Der Zauberer strich sich über den Bart. »Das überrascht mich nicht. Der Mechanismus ist relativ simpel, verglichen mit dem komplexen Aufbau unserer Körper. Mit dem Timer ist es etwas anderes. Er wird auf jedes Ausfransen der Zeit reagieren, das uns hier begegnet. Die Bombe kann jeden Moment hochgehen oder auch nie.«

Nie bestimmt nicht, dachte Artemis. Ich kann das Ding zwar nicht entschärfen, aber wenn nötig, kann ich es immer noch hochgehen lassen.

Holly musterte die tödliche Maschinerie. »Gibt es keine Möglichkeit, die Bombe loszuwerden?«

Qwan schüttelte den Kopf. »Unbelebte Objekte können nicht unbegleitet durch den Zeittunnel reisen. Wir hingegen können jeden Moment wieder weggesogen werden. Wir müssen so schnell wie möglich etwas aus Silber anlegen.«

Holly sah Artemis an. »Vielleicht wollen einige von uns wieder weggesogen werden.«

»Mag sein«, sagte Qwan. »Aber das klappt nur unter bestimmten Voraussetzungen. Wenn ihr euch einfach wegsaugen lasst, weiß niemand, wo und in welcher Zeit ihr landet. Eure natürliche Dimension wird euch anziehen, aber da der Bann zusehends schwächer wird, könnt ihr genauso gut in einem Felsen einen Kilometer unter der Erdoberfläche landen oder auf dem Mond.«

Das war ein ernüchternder Gedanke. Es hatte ja was, mal als Tourist auf dem Mond vorbeizuschauen, aber für immer dorthin verbannt zu sein war nicht so verlockend. Auch wenn man nach der ersten Minute garantiert nichts mehr davon mitbekam.

»Wir sitzen also hier fest?«, fragte Holly. »Komm schon, Artemis, du hast doch bestimmt einen Plan. Du hast immer einen Plan.«

Alle drei sahen Artemis an. Er hatte etwas an sich, das ihn als Anführer auswies. Vielleicht war es die Tatsache, dass er sich selbst als Anführer betrachtete. Außerdem war er in diesem Fall der Größte in der Gruppe. Er musste lächeln. So fühlt Butler sich also die ganze Zeit.

»Wir haben alle unsere Gründe, warum wir zurückwollen«, begann er. »Holly und ich haben Freunde und Familie, die wir gerne wiedersehen würden, und Nummer Eins und Qwan müssen ihr Volk aus dieser Dimension herausholen. Der Bann löst sich immer weiter auf, und bald wird es auf der ganzen Insel keinen sicheren Ort mehr geben. Sofern meine Berechnungen stimmen - und ich bin überzeugt, dass sie stimmen -, wird euch auch das Silber nicht mehr lange hier verankern. Ihr könnt also entweder gehen, wenn der Bann euch dazu zwingt, oder wir entscheiden selbst, wann wir die Reise antreten wollen.«

Qwan rechnete kurz. »Unmöglich. Wir haben sieben Zauberer und einen Vulkan gebraucht, um die Insel hierherzuverfrachten. Um uns zurückzubringen, brauchte ich ebenfalls sieben magiebegabte Wesen, am besten Zauberer. Und natürlich einen aktiven Vulkan, den wir aber nicht haben.«

»Muss es unbedingt ein Vulkan sein? Oder täte es auch eine beliebige andere Energiequelle?«

»Theoretisch schon«, sagte Qwan. »Du willst also die Bombe benutzen?«

»Es wäre einen Versuch wert.«

»Mag sein, aber ich brauche trotzdem sieben magiebegabte Wesen.«

»Aber der Bann existiert ja bereits«, wandte Artemis ein. »Die Infrastruktur ist vorhanden. Ginge es nicht auch mit weniger?«

Qwan wedelte mit dem Zeigefinger. »Du bist ein intelligentes Kerlchen. Ja, vielleicht geht es auch mit weniger. Aber sicher wissen wir es erst, wenn wir ankommen.«

»Wie viele?«

»Fünf. Fünf sind das absolute Minimum.«

Holly knirschte mit den Zähnen. »Wir sind nur zu dritt, und Nummer Eins ist Anfänger. Also müssen wir noch zwei Dämonen finden, die über eigene Magie verfügen.«

»Unmöglich«, konterte Qwan. »Sobald ein Knirps gekrampft hat, verliert er jede Magie, falls er überhaupt je welche hatte. Nur Zauberer wie ich und Nummer Eins krampfen erst gar nicht. Deshalb behalten wir unsere Magie.«

Artemis wischte Asche von seinem Jackett. »Das Wichtigste ist erst mal, aus diesem Krater herauszukommen und etwas aus Silber zu finden. Ich schlage vor, wir lassen die Bombe hier. Die Temperatur ist nicht hoch genug, um sie zu zünden, und falls sie dennoch hochgeht, wird der Vulkan einen Teil der Energie aufnehmen. Wenn wir zwei weitere magiebegabte Wesen finden wollen, so dürften die Chancen außerhalb dieses Kraters deutlich höher sein als hier drinnen. Außerdem kriege ich Kopfschmerzen von dem Schwefelgestank.«

Artemis wartete nicht auf Zustimmung, sondern wandte sich um und machte sich an den Anstieg zum Rand des Kraters. Nach kurzem Zögern folgten ihm die anderen. Mühsam kämpften sie sich Schritt für Schritt durch die Asche voran. Das Ganze erinnerte Artemis an eine riesige Sanddüne, die er einmal mit seinem Vater erklommen hatte. Wobei ein Sturz hier unangenehmere Folgen hatte.

Es war eine schwierige und tückische Wanderung. Unter der Asche verbargen sich Unebenheiten und kleine Spalten, durch die warme Luft vom Vulkan austrat. Rund um diese Spalten wucherten bunte Pilze, die im Schatten des Kraters wie phosphoreszierende Nachtleuchten glommen.

Während des Anstiegs sprach kaum jemand. Nr. 1 murmelte ganze Wörterbuchabschnitte vor sich hin, doch die anderen begriffen, dass dies eben seine Art war, sich aufzumuntern.

Ab und zu blickte Artemis nach oben. Der Himmel glühte in der Farbe der Morgenröte und breitete sich über ihnen aus wie ein See aus Blut.

Was für eine aufmunternde Metapher, dachte Artemis. Vielleicht sagt es etwas über meinen Charakter aus, dass ein See aus Blut das einzige ist, was mir dazu einfällt.

Nr. 1 war vom Körperbau her am besten für den steilen Anstieg gerüstet. Er hatte einen niedrigen Schwerpunkt und konnte sich auf seinem Stummelschwanz abstützen, wenn es nötig war. Die plumpen Füße trugen ihn sicher, und der Schuppenpanzer, der seinen Körper bedeckte, schützte ihn vor Funken und Schürfwunden im Fall eines Sturzes.

Qwan litt sichtlich. Der alte Zauberer war während der letzten zehntausend Jahre eine Statue gewesen und hatte noch mit der Steifheit in seinen Knochen zu kämpfen. Die Magie milderte den Schmerz zwar ein wenig, konnte ihn aber nicht völlig auslöschen. Jedes Mal, wenn sein Fuß durch die Aschekruste brach, zuckte er zusammen.

Endlich erreichte die Gruppe den Kraterrand. Falls Zeit vergangen war, so ließ sich nicht feststellen, wie viel. Der Himmel leuchtete noch immer in demselben Rot, und sämtliche Uhren waren stehen geblieben.

Holly lief die letzten Schritte, dann hob sie die Hand, zur Faust geballt.

»Das heißt so viel wie Halt«, erklärte Artemis den anderen. »Ein militärisches Signal. Menschliche Soldaten benutzen genau dasselbe.«

Holly spähte kurz über den Kraterrand, dann kehrte sie zur Gruppe zurück. »Was hat es zu bedeuten, wenn jede Menge Dämonen auf dem Weg hier rauf sind?«

Qwan lächelte. »Das bedeutet, dass unsere Brüder den Blitz bei unserer Ankunft bemerkt haben und kommen, um uns zu begrüßen.«

»Und was bedeutet es, wenn sie alle mit Armbrüsten bewaffnet sind?«

»Hmm«, überlegte Qwan. »Dann könnte es schon um einiges ernster sein.«

»Können die uns wirklich gefährlich werden?«, fragte Artemis. »Immerhin haben wir schon gegen Trolle gekämpft.«

»Keine Sorge«, sagte Holly und schaltete ihre Neutrino ein. »So groß sind sie nicht. Wir schaffen das schon. Glaub mir.«

Artemis runzelte die Stirn. Wenn Holly sich die Mühe machte, ihn zu beruhigen, musste die Lage wirklich ernst sein.

»So schlimm?«

Holly stieß einen Pfiff aus und schüttelte den Kopf. »Du hast ja keine Ahnung.«