Kapitel 7
Einsatz für Bobo
Château Paradizo, Südfrankreich.
Als Mulch und Doodah Day außerhalb von Tourrettes-sur-Loup ankamen, stand der Zwerg kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
»Der Kerl ist wahnsinnig«, stammelte er, als er mit zitternden Knien aus der winzigen Titankapsel kroch, die punktgenau auf einem freien Fleck von der Größe einer Postkarte gelandet war. »Dieser Wichtel ist lebensmüde! Geben Sie mir Ihre Waffe, Holly, ich erschieße ihn.« Erschöpft ließ Mulch sich ins Gras sinken.
Doodah tauchte in der Luke auf und sprang leichtfüßig zu Boden. »Tolle Kiste«, sagte er auf Gnomisch. »Wo kriegt man so was?«
Sein Grinsen erstarb, als er bemerkte, dass das Ding, das er für einen Baum gehalten hatte, sich bewegte und in einer der primitiven Menschensprachen redete.
»Das ist also Doodah Day, nehme ich an. Er macht einen ganz schönen Lärm.«
»Urks«, sagte Doodah. »Großer Menschenmann.«
»In der Tat«, sagte ein anderer Menschenmann, oder eher Menschenjunge. Er war kleiner, wirkte aber irgendwie noch gefährlicher.
»Sprechen Sie Gnomisch?«, fragte der Wichtel voller Angst, der Große könnte ihn verschlingen, wenn er nicht höflich war.
»Ja«, erwiderte Artemis. »Ich schon, aber Butler nur ein paar Brocken, deshalb bleiben wir lieber bei Englisch, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Natürlich. Kein Problem«, sagte Doodah, froh, dass er noch die paar Funken Magie besaß, die für die Gabe der Sprachen notwendig war.
Doodah und Mulch waren in einer Titankapsel über die niedrigeren Ausläufer der Alpes Maritimes geflogen, einem Fortbewegungsmittel, das eigentlich dafür gebaut war, im Erdinnern auf den Magmawogen zu reiten. Diese Kapseln waren zwar mit einem rudimentären Sichtschild ausgestattet, aber nicht für Reisen an der Oberfläche gedacht. Doodah hatte die Anweisung erhalten, sich auf den Glutwellen bis zu einem kleinen Shuttlehafen in der Nähe von Bern in der Schweiz tragen zu lassen, dort mechanische Flügel anzuschnallen und den Rest des Wegs im Tiefflug zurückzulegen. Doch als Doodah erst einmal am Steuer der Kapsel saß, beschloss er kurzerhand, auch den zweiten Abschnitt in diesem Gerät zurückzulegen.
Holly war beeindruckt. »Für einen Schmuggler fliegen Sie ziemlich gut. Diese Kapsel ist so schwerfällig wie ein dreibeiniges Schwein.«
Doodah tätschelte die Titankapsel zärtlich. »Sie ist ein braves Mädchen. Man muss sie nur richtig behandeln.«
Mulch zitterte immer noch. »Dieser Irre ist geflogen wie eine gesengte Sau! Ich hätte mir fast in die Hose gemacht.«
Doodah kicherte. »Was heißt hier ›fast‹? Da drinnen ist es verdächtig glitschig.«
Holly sah Doodah unverwandt an. Sie plauderten zwar gerade ganz nett, aber schließlich gab es da noch etwas zu klären.
»Sie hätten mich beinahe getötet, Doodah«, sagte Holly ruhig, um dem kleinen Schmuggler Gelegenheit zu einer Erklärung zu geben.
»Ich weiß. Deshalb habe ich beschlossen, aus dem Geschäft auszusteigen. In aller Ruhe über mein Leben nachzudenken, meine Ziele neu zu definieren.«
»Quatsch mit Soße«, sagte Holly. »Ich glaube Ihnen kein Wort.«
»Ich mir auch nicht«, erwiderte Doodah. »Das ist meine Nummer für den Bewährungsantrag. Die Masche mit den Kulleraugen und der zerknirschten Miene funktioniert noch jedes Mal. Aber im Ernst, das mit dem Multimixer tut mir leid, Officer. Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte. Aber Sie waren nie in Gefahr. Diese Hände vollbringen wahre Wunder, sobald sie ein Lenkrad berühren.«
Holly beschloss, es dabei zu belassen. Diese Sache durfte nicht weiter zwischen ihnen stehen, sollte der ohnehin schwierige Einsatz nicht scheitern. Doodah Day hatte jetzt ja die Gelegenheit, seinen Fehler wiedergutzumachen.
Butler half Mulch auf die Beine. »Wie geht es Ihnen, Mulch?«
Mulch warf Doodah einen finsteren Blick zu. »Gut, wenn nur mein Kopf endlich aufhören würde zu brummen. Die Kapsel ist eigentlich nur für eine Person gebaut. Ich hatte diesen kleinen Affen die letzten paar Stunden auf dem Schoß, und bei jedem Glutloch hat er mir den Schädel unters Kinn geknallt.«
Butler zwinkerte seinem Zwergenfreund zu. »Nun, sehen Sie es doch mal so: Gerade war er in seinem Element, und jetzt muss er Sie in Ihres begleiten.«
Doodah hatte das Ende des Satzes aufgeschnappt. »Wer muss wen wohin begleiten?«
Mulch rieb sich grinsend die Hände. »So hatte ich es noch gar nicht betrachtet.«
Sie kauerten sich in einen flachen Graben oberhalb des Herrenhauses. Das mit knorrigen alten Olivenbäumen bestandene Gelände vor ihnen fiel sanft ab. Die oberste Bodenkrume war trocken und locker und nach Mulchs Auskunft durchaus schmackhaft.
»Das Wasser hier in den Alpen ist einfach gut«, erklärte er und spuckte eine Ladung Kieselsteine aus. »Und die Oliven geben dem Lehm ein interessantes Aroma.«
»Schön«, sagte Artemis geduldig. »Aber was mich vor allem interessiert, ist, ob Sie es bis zum Deckel der Klärgrube schaffen.«
»Klärgrube?«, sagte Doodah Day nervös. »Was soll das denn heißen? Ich gehe in keine Klärgrube, kommt überhaupt nicht in die Tüte.«
»Nicht in die Grube«, korrigierte Artemis. »Dahinter. Der Auffangbehälter bietet in der Nähe des Herrenhauses die einzige Deckung.«
Holly überprüfte das Gelände durch ihr Visier. »Die Klärgrube ist so nah wie möglich beim Haus angelegt. Dahinter kommt nur noch Felsen. Aber bis dorthin haben Sie eine schöne, dicke Schicht Erde. Mulch, Sie müssen den kleinen Jungen mit dem Cowboyhut nur mit einem Schokoriegel hinter den Auffangbehälter locken, und dann nimmt Doodah seinen Platz ein.«
»Ja, und weiter? Mit diesem Spielzeugauto kriegt man doch kein Tempo drauf.«
»Brauchen Sie auch nicht, Doodah. Sie sollen damit nur ins Haus fahren und das hier um das erstbeste Kamerakabel legen, das Ihnen unter die Nase kommt.« Holly gab Doodah ein kurzes, mit kleinen Stacheln gespicktes Kabel. »Das ist eine Videoklemme. Sobald sie angeschlossen ist, können wir uns in ihre Überwachungsanlage einhacken.«
»Was ist mit dem Schokoriegel?«, fragte Mulch. »Wo sollen wir den herkriegen?«
»Hier«, sagte Artemis und gab ihm eine flache, grüne Verpackung. »Den hat Butler unten im Dorf gekauft. Schlechte Qualität, keine siebzig Prozent Kakao und auch nicht aus fairem Handel, aber es muss reichen.«
»Und was ist, wenn der Kleine den Schokoriegel verputzt hat?«, fragte Mulch. »Was soll ich dann mit ihm machen?«
»Ihm darf nichts passieren«, erwiderte Holly. »Lenken Sie ihn einfach ein paar Minuten ab.«
»Ablenken? Wie denn?«
»Denken Sie an Ihre besonderen Fähigkeiten«, schlug Artemis vor. »Kleine Kinder sind neugierig. Essen Sie ein paar Steine. Lassen Sie einen fahren. Der kleine Beau wird begeistert sein.«
»Kann ich ihn nicht einfach abschießen?«
»Mulch!«, rief Holly entsetzt.
»Ich meine ja nicht umbringen. Nur ein paar Minuten ruhigstellen. Kinder schlafen doch gern. Im Grunde würde ich ihm sogar einen Gefallen tun.«
»Das wäre ideal«, gab Holly zu. »Allerdings habe ich nichts Ungefährliches dabei, also werden Sie ihn beschäftigen müssen, aber bestimmt nicht länger als fünf Minuten.«
»Tja, da werde ich wohl meinen Charme spielen lassen müssen«, sagte Mulch. »Schlimmstenfalls kann ich ihn immer noch verputzen.« Er grinste breit über Hollys fassungslose Miene. »War nur ein Scherz. Ehrlich. Ich würde nie ein Menschenkind essen. Viel zu knochig.«
Holly stieß Artemis an, der neben ihr hockte. »Bist du sicher, dass wir das machen sollen?«
»Das Ganze war Ihre Idee«, erwiderte Artemis. »Aber ja, ich bin sicher. Es gäbe noch andere Möglichkeiten, aber dafür reicht die Zeit nicht. Mulch war schon immer zu allen Schandtaten bereit, er wird uns auch diesmal nicht im Stich lassen. Und Mister Day winkt die Freiheit, ein starker Ansporn, sich ins Zeug zu legen.«
»Genug geplaudert«, sagte Mulch. »Ich bin schon halb verbrannt. Ihr wisst ja, wie empfindlich Zwergenhaut ist.« Er stand auf und knöpfte die Poklappe seiner Hose auf. »Okay, Wichtel. Spring auf.«
Doodah Day sah ihn entgeistert an. »Ist das dein Ernst?«
Mulch seufzte. »Klar ist das mein Ernst. Wovor hast du Angst? Ist doch bloß ein Hintern.«
»Mag sein. Aber er grinst mich so an.«
»Vielleicht freut er sich, dich zu sehen. Sei froh, dass er keine schlechte Laune hat.«
Holly knuffte Mulch in die Schulter.
»Das ist wirklich eine blöde Angewohnheit«, maulte Mulch und rieb sich den Oberarm. »Sie sollten mal einen Lehrgang besuchen, wie man seine Aggressionen angemessen abbaut.«
»Schluss jetzt mit dem Geplänkel. Uns läuft die Zeit davon!«
»Okay. Steig auf, Wichtel. Der beißt nicht. Versprochen.«
Butler hob den kleinen Wichtel auf Mulchs Rücken. »Sehen Sie nicht nach unten«, riet der Leibwächter ihm. »Dann ist es gar nicht so wild.«
»Sie haben gut reden«, brummte Doodah. »Sie müssen ja nicht auf dieser Tunnelkanone reiten. Davon war im Restaurant nicht die Rede, Diggums.«
Artemis deutete auf den Rucksack des Wichtels. »Brauchen Sie den unbedingt, Mister Day? Er ist nicht gerade stromlinienförmig.«
Doodah hielt den Tragegurt fest. »Meine Spezialausrüstung, Menschenjunge. Wo die ist, bin auch ich.«
»Wie Sie meinen«, sagte Artemis. »Aber einen Rat noch: Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich rein- und wieder rauskommen.«
Doodah verdrehte die Augen. »Toller Rat. Sie sollten ein Buch schreiben.«
Mulch gluckste. »Gute Idee.«
»Und gehen Sie der Familie möglichst aus dem Weg«, fuhr Artemis fort. »Vor allem dem Mädchen, Minerva.«
»Familie. Minerva. Verstanden. Und jetzt los, bevor ich's mir anders überlege.«
Mit einem markerschütternden Knacken hakte der Zwerg die Kinnlade aus und verschwand, den Kopf voran, in der Erde. Es war ein denkwürdiger Anblick, wie die sensenartigen Kiefer sich durch den Lehm fraßen und einen Tunnel für den Zwerg und seinen Passagier gruben.
Doodah hielt die Augen fest zusammengekniffen, und in sein Gesicht stand nacktes Entsetzen geschrieben. »Oh Götter«, stöhnte er. »Lass mich runter. Lass mich -«
Dann verschwanden die beiden unter einem Wirbel vibrierender Erde.
Holly robbte bäuchlings zur Hügelkuppe vor und verfolgte ihre Fraßlinie durch das Röntgenvisier. »Diggums ist verdammt schnell«, sagte sie. »Erstaunlich, dass wir ihn überhaupt je geschnappt haben.«
Artemis schob sich neben sie. »Ich hoffe, er ist schnell genug. Das Letzte, was wir jetzt brauchen können, ist, dass Minerva Paradizo ihre Sammlung um einen Zwerg und einen Wichtel erweitert.«
Im Erdreich fühlte Mulch sich wohl. Das war der natürliche Lebensraum eines Zwergs. Seine Finger nahmen die Schwingungen der Erde auf, und die beruhigten ihn. Seine drahtigen Barthaare, die wie Sensoren funktionierten, schlängelten sich in jeden Riss im Lehm, sendeten Signale aus und übermittelten Informationen an sein Gehirn. Ein paar Hundert Meter zu seiner Linken nahm Mulch das Graben von Kaninchen wahr. Vielleicht konnte er sich auf dem Rückweg eins schnappen, als kleinen Snack.
Doodah klammerte sich mit aller Kraft fest, das Gesicht starr vor Verzweiflung. Am liebsten hätte er geschrien, aber dazu hätte er den Mund aufmachen müssen. Und daran war nun wirklich nicht zu denken.
Direkt unterhalb von Doodahs Füßen stieß Mulchs Hintern donnernd eine Turbomischung aus Erde und Luft aus, die sie tiefer in den Boden trieb. Doodah spürte, wie ihm die Ausstoßhitze die Beine hinaufkroch. Er musste aufpassen, dass er mit den Stiefeln nicht zu nah an den Auspuff des Zwergs geriet, sonst riskierte er die Zehen.
Mulch brauchte keine Minute bis zu der Klärgrube. Vorsichtig hob er den Kopf aus dem Boden und blinzelte sich mit den dichten, gekräuselten Wimpern die Erdkrümel aus den Augen.
»Volltreffer«, murmelte er und spuckte einen zappelnden Wurm aus.
Doodah kroch über den Kopf des Zwergs nach oben, eine Hand fest auf den Mund gepresst, um nicht zu schreien. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte er sich so weit beruhigt, dass er Mulch anfauchen konnte. »Das hat dir Spaß gemacht, gib's zu!«
Mulch hakte den Kiefer wieder ein und ließ den letzten Rest Tunnelgas ab, was ihn mit einem leisen Plopp aus der Erde katapultierte. »Das ist ein ganz normaler Job für mich, Doodah. Damit sind wir quitt.«
Doodah sah das anders. »Sind wir nicht. Ich hab noch was bei dir gut, wegen der Nummer mit dem Sabber.«
Wahrscheinlich wäre das Geplänkel trotz der Dringlichkeit ihrer Mission noch eine Weile so weitergegangen, wäre nicht ein kleiner Junge mit einem elektrischen Spielzeugauto um den Auffangbehälter gerollt gekommen.
»Hallo. Ich bin Beau Paradizo«, sagte der kleine Mann am Steuer. »Seid ihr richtige Monster?«
Doodah und Mulch hielten starr vor Schreck die Luft an, dann erinnerten sie sich wieder an den Plan.
»Nein, kleiner Junge«, sagte Mulch, dem gerade noch eingefallen war, dass er französisch sprechen musste. Er bemühte sich, freundlich zu lächeln, worin er allerdings wenig Übung hatte. »Wir sind Schokoladenfeen. Und wir haben ein besonderes Geschenk für dich.« Er schwenkte den Schokoriegel durch die Luft, in der Hoffnung, dass die kunstvolle Darbietung das billige Zeug verlockender erscheinen ließ, als es war.
»Schokoladenfeen?«, sagte der Junge und kletterte von seinem Auto. »Hoffentlich ist die Schokolade zuckerfrei. Ich werde nämlich zappelig, wenn ich Zucker esse, und Papa sagt, ich bin auch so schon zappelig genug, aber er hat mich trotzdem lieb.«
Mulch sah auf das Etikett. Achtzehn Prozent Zucker. »Jawoll. Zuckerfrei. Möchtest du ein Stück?«
Beau schnappte sich den ganzen Riegel und verputzte ihn sekundenschnell. »Ihr stinkt. Vor allem du, Zottel. Schlimmer als das verstopfte Klo von Tante Morgana, du Stinkefee.«
Doodah lachte. »Tja, Mulch, was soll ich sagen. Der Kleine hat den Nagel auf den Kopf getroffen.«
»Wohnst du in einem verstopften Klo, Stinkezottelschokofee?«
»He, Kleiner«, sagte Mulch gespielt munter. »Wie wär's mit einem Schläfchen?«
Beau Paradizo boxte Mulch in den Bauch. »Hab doch Mittagsschlaf gemacht, Stinkefee. Mehr Schokolade! Los!«
»Hör auf, mich zu schlagen! Ich habe keine Schokolade mehr.«
Beau boxte ihn erneut. »Ich hab gesagt, mehr Schokolade! Oder ich rufe die Wachen. Und dann steckt Pierre dir die Hand in den Rachen und reißt dir die Eingeweide raus. Das macht er. Hat er mir selbst gesagt.«
Mulch kicherte. »Das möchte ich sehen.«
»Echt?«, fragte Beau strahlend. »Ich hole ihn!« Der kleine Junge rannte los. Er war erstaunlich flink, und bevor Mulchs Verstand sich einschalten konnte, übernahm sein Instinkt die Führung. Der Zwerg setzte dem Jungen mit ausgehaktem Kiefer nach.
»Pierre!«, rief Beau, doch zu mehr kam er nicht, weil Mulch ihn sich geschnappt hatte. Komplett, außer dem Cowboyhut.
»Bloß nicht schlucken!«, zischte Doodah.
Mulch schob den Jungen ein paar Minuten von einer Backe in die andere, dann spuckte er ihn wieder aus. Beau war klatschnass und schlief wie ein Baby.
Mulch wischte ihm das Gesicht ab, bevor der Zwergenspeichel erstarren konnte. »Da ist ein Betäubungsmittel drin«, erklärte er und hakte seinen Kiefer wieder ein. »Wie bei Raubtieren. Du bist gestern nicht weggetreten, weil dein Kopf noch rausguckte. Wenn der Kleine aufwacht, ist er wieder fit wie ein Turnschuh. Ich pule ihm das Zeug nachher ab, wenn es hart ist.«
Doodah zuckte die Achseln. »Mir doch egal. Ich mochte ihn eh nicht.«
Hinter dem Auffangbehälter erklang eine Stimme. »Beau? Wo bist du?«
»Das ist bestimmt dieser Pierre. Zeit, dich in Bewegung zu setzen. Lock ihn von hier weg.«
Doodah spähte über den Deckel des Auffangbehälters. Ein großer Mann kam auf sie zu. Nicht so groß wie Butler, aber immer noch groß genug, um den Wichtel unter einem seiner Stiefel zu zerquetschen. Der Mann trug eine schwarze Uniform mit passender Schirmmütze, und zwischen den Jackenknöpfen lugte ein Pistolengriff hervor. Aus zusammengekniffenen Augen blickte der Kerl zur Klärgrube hinüber.
»Beau, bist du das?«, rief er auf Französisch.
»Oui, c'est moi«, antwortete Doodah in quäkendem Falsett.
Pierre war nicht überzeugt. Das hatte nicht wie ein Kind geklungen, sondern eher wie ein sprechendes Ferkel. Er ging weiter, die Hand auf den Pistolengriff gelegt.
Doodah rannte zu dem Spielzeugauto, schnappte sich unterwegs Beaus Hut und setzte ihn sich auf den Kopf. Pierre war nur noch ein paar Meter entfernt und beschleunigte seine Schritte. »Beau? Lass das Versteckspiel. Minerva will, dass du ins Haus kommst.«
Da sprang Doodah rittlings auf das Auto, wie ein Cowboy auf einen Bullen. Mit einem Blick war ihm klar, dass dieses Spielzeug höchstens Schrittgeschwindigkeit schaffte, was in einem Notfall wie diesem vollkommen nutzlos war. Blitzschnell holte er eine schwarze Schalttafel aus dem Rucksack und befestigte sie mit den Saugnäpfen am Plastikarmaturenbrett des Miniautos. Das war ein sogenannter Mongocharger - kein Schmuggler, der etwas auf sich hielt, verließ das Haus ohne einen. Der Mongocharger bestand aus Computer, Omnisensor und einer sauberen Nuklearbatterie. Der Omnisensor hackte sich in den Mikrochip des Spielzeugautos ein und übernahm die Führung. Doodah zog ein Andockkabel aus der Unterseite des Mongochargers und bohrte die Spitze in das Stromkabel des Autos unter dem Armaturenbrett. Jetzt hatte die kleine Plastikkiste Nuklearantrieb.
Zufrieden ließ Doodah den Motor aufheulen. »Klingt schon besser.«
Pierre bog um die rechte Seite des Behälters. Das war gut, denn damit waren Mulch und der betäubte Beau außer Sichtweite. Was nicht so gut war: Pierre stand direkt hinter Doodah.
»Beau?«, fragte Pierre. »Stimmt was nicht?« Er hatte die Pistole gezogen, den Lauf auf den Boden gerichtet.
Doodahs Fuß schwebte über dem Gaspedal, aber er konnte schlecht drauftreten, solange dieser Typ ihn belauerte. »Nein, alles in Ordnung... äh... Pierre«, kiekste er, den Cowboyhut tief ins Gesicht gezogen.
»Du klingst irgendwie merkwürdig, Beau. Bist du krank?«
Doodah tippte das Gaspedal an und rollte langsam vorwärts. »Nein. Ich mache nur Stimmen nach, wie Menschenkinder es so tun.«
Pierre war immer noch misstrauisch. »Menschenkinder?«
Doodah setzte auf Risiko. »Ja, Menschenkinder. Ich bin doch gerade ein Außerirdischer, der einen Menschen spielt. Also geh weg. Sonst stecke ich dir die Hand in den Rachen und reiße dir die Eingeweide raus.«
Pierre blieb verdutzt stehen, dann fiel bei ihm der Groschen. »Beau, du kleiner Frechdachs, lass das ja nicht Minerva hören, sonst gibt's keine Schokolade mehr!«
»Ich reiß dir die Eingeweide raus!«, krähte Doodah noch einmal, dann gab er ein wenig mehr Gas und fuhr über den Kiesweg auf die Einfahrt zu.
Verstohlen fischte er einen kleinen Rückspiegel aus seinem Rucksack und befestigte ihn mit dem Saugnapf an der Windschutzscheibe. Erleichtert sah er, dass Pierre die Waffe wieder eingesteckt hatte und auf seinen Posten zurückkehrte.
Obwohl es gegen alle Schmugglerinstinkte verstieß, behielt er die langsame Geschwindigkeit bei. Seine Zähne schlugen aufeinander, als er über das unebene Granitpflaster rollte. Eine Digitalanzeige informierte ihn darüber, dass er lediglich ein Prozent der neu hinzugewonnenen Motorenleistung nutzte. Im letzten Moment dachte der Wichtel daran, den Mongocharger stumm zu schalten. Es hätte ihm gerade noch gefehlt, dass die elektronische Stimme des Computers sich über seinen lausigen Fahrstil beschwerte.
Am Haupteingang standen zwei Wachen, die Doodah jedoch kaum einen Blick schenkten, als er an ihnen vorbeifuhr.
»Tag, Sheriff«, sagte der eine grinsend.
»Schokolade«, quäkte Doodah. Nach dem, was er bisher über Beau wusste, schien es ihm eine passende Entgegnung.
Er tippte kurz das Gaspedal an, um über die Schwelle zu gelangen, und rollte dann langsam über einen edlen Marmorfußboden. Die Reifen rutschten auf dem glatten Untergrund, was ihn ein wenig beunruhigte - falls er abhauen musste, konnte ihn das wertvolle Sekunden kosten. Aber immerhin war der Flur breit genug für eine Kehrtwende, sollte sie nötig werden.
Doodah fuhr den Flur entlang, an einer Reihe von hoch gewachsenen Topfpflanzen und mehreren abstrakten Bildern vorbei, bis er zu einem bogenförmigen Durchgang gelangte. Oben in der Mitte hing eine Kamera, die auf den Eingangsbereich gerichtet war. Ein Kabel schlängelte sich aus dem Gehäuse und verschwand in einem Schutzkanal, der bis zum Boden reichte.
Doodah hielt an und sprang aus dem Auto. Bisher hatte er Glück. Niemand hatte ihn angesprochen. Die Überwachungsanlage dieser Menschenwesen war ein Witz. In jedem unterirdischen Gebäude wäre er bereits ein Dutzend Mal von Laserstrahlen abgetastet worden. Der Wichtel riss ein Stück des Schutzkanals ab, sodass das Kabel darunter zum Vorschein kam. Innerhalb von Sekunden hatte er die Videoklemme daran befestigt. Das war's. Zufrieden grinsend stieg er wieder in sein gestohlenes Auto. Ein netter Deal: Straferlass für fünf Minuten Arbeit. Jetzt konnte er nach Hause fahren und seine Freiheit genießen - zumindest bis er das nächste Mal gegen das Gesetz verstieß.
»Beau Paradizo, du verzogener Bengel. Komm her, aber sofort!«
Doodah schrak zusammen, dann blickte er in den Rückspiegel. Hinter ihm stand ein Mädchen, die Hände in die Hüften gestemmt, und funkelte ihn wütend an. Das, überlegte er, musste wohl Minerva sein. Und wenn sein Gedächtnis ihn nicht täuschte, sollte er ihr tunlichst aus dem Weg gehen.
»Du musst dein Antibiotikum nehmen. Oder willst du ewig mit deiner Bronchitis herumlaufen?«
Doodah startete das Auto. Er würde durch den Bogengang flüchten, außer Sichtweite dieses Menschenmädchens. Sobald er um die Ecke war, konnte er das Gaspedal durchtreten.
»Bleib gefälligst hier, Bobo.«
Bobo? Noch ein Grund mehr, sich vom Acker zu machen, dachte Doodah. Wer wollte schon Bobo genannt werden?
»Äh... Schokolade?«, sagte der Wichtel hoffnungsvoll.
Ein Fehler. Diese Minerva kannte die Stimme ihres Bruders, und das hier war sie nicht.
»Bobo? Ist was mit deiner Stimme?«
Doodah fluchte lautlos. »Braunschietis?«, sagte er.
Doch Minerva war misstrauisch geworden. Sie nahm ein Walkie-Talkie aus der Tasche und bewegte sich mit energischen Schritten auf das Spielzeugauto zu. »Pierre, würden Sie bitte herkommen? Bringen Sie André und Louis mit.« Dann, zu Doodah gewandt: »Bleib schön da, Bobo. Ich habe eine leckere Tafel Schokolade für dich.«
Klar, dachte Doodah. Schokolade und eine Betonzelle.
Er überlegte einen Moment, welche Möglichkeiten er hatte. Sicher war es besser, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, als eingekerkert und womöglich zu Tode gequält zu werden.
Nichts wie raus hier, dachte Doodah und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Mehrere Hundert PS jagten bebend durch die schmale Antriebswelle. In spätestens einer Minute würde die Karre auseinanderfallen, aber bis dahin war er weit weg von dieser Oberirdischen und ihren falschen Schokoladenversprechungen.
Das Auto schoss so rasant davon, dass dort, wo es gestanden hatte, ein Abbild in der Luft zu schweben schien.
Minerva blieb verdutzt stehen. »Was...?«
Vor ihm war die Ecke. Doodah schlug das Lenkrad ein, so weit er konnte, doch der Wendekreis des Autos war zu groß.
»Dann eben mit Billardeffekt«, knurrte Doodah mit zusammengebissenen Zähnen.
Er beugte sich weit nach links, ging vom Gas und ließ den Wagen seitwärts gegen die Wand krachen. Im Moment des Aufpralls verlagerte er sein Gewicht und trat aufs Gas. Das Auto verlor zwar eine Tür, aber es flog um die Ecke wie ein Stein aus einer Schleuder.
Nicht übel, dachte Doodah, als das Dröhnen in seinem Kopf nachließ. Noch ein paar Sekunden, dann wäre er wieder in Sichtweite des Mädchens, und wer weiß, wie viele Wachen zwischen ihm und der Freiheit standen.
Er befand sich in einem langen, geraden Flur, der in ein Wohnzimmer mündete. Doodah konnte einen an der Wand befestigten Fernseher und die Lehne eines roten Samtsofas erkennen. Offenbar lag der Raum einige Treppenstufen tiefer. Nicht gut. Das Spielzeugauto verkraftete bestimmt nur noch einen Aufprall.
»Wo ist Bobo?«, rief das Mädchen. »Was hast du mit ihm gemacht?«
Für ausgefeilte Manöver war keine Zeit mehr. Mal schauen, was in dieser Karre steckte. Doodah gab Vollgas und jagte auf das Fenster hinter dem Samtsofa zu. Er tätschelte das Armaturenbrett. »Du kannst das, kleine Klapperkiste. Ein Sprung. Zeig, was du draufhast.«
Das Auto antwortete nicht. Das taten sie nie. Obgleich Doodah, wenn er unter extremem Stress und Sauerstoffmangel litt, sich bisweilen einbildete, dass sie seine Liebe zu waghalsigen Stunts teilten.
Minerva kam in vollem Lauf um die Ecke und brüllte in ihr Walkie-Talkie. Doodah hörte die Worte ergreifen, notfalls mit Gewalt und Verhör. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Die Räder des Autos rutschten über den langen Teppichläufer, dann griffen sie. Der Läufer wurde nach hinten geschleudert wie Klopapier von der Rolle.
Minerva verlor das Gleichgewicht, hörte aber nicht auf zu brüllen, während sie fiel. »Er ist gleich in der Bibliothek. Schnappt ihn euch! Wenn es sein muss, schießt.«
Doodah hielt grimmig das Lenkrad fest, um nicht aus der Bahn zu geraten. Er würde durch dieses Fenster jagen, ob es offen war oder nicht. Mit hundertundzehn Stundenkilometern passierte er die Schwelle und hob von der obersten Stufe ab. Ganz ordentliche Beschleunigung für ein Spielzeugauto. In dem Raum waren zwei Wachmänner. Sie zogen die Waffe. Dann zögerten sie. War das nicht ein Kind da in dem Auto?
Pappnasen, dachte Doodah - dann knallte die erste Kugel ins Chassis. Okay, sie schossen doch, aber nur auf das Auto.
Doodah segelte in sanftem Bogen auf das Fenster zu. Zwei weitere Kugeln rissen Löcher in die Plastikkarosserie, aber es war zu spät, um das kleine Fahrzeug aufzuhalten. Es streifte den Fensterrahmen, verlor einen Kotflügel und trudelte durch das offen stehende Fenster nach draußen.
Schade, dass das keiner filmt, dachte Doodah und biss in Erwartung des Aufpralls die Zähne zusammen.
Der Stoß schüttelte ihn durch, von den Zehen bis zur Schädeldecke. Einen Moment lang tanzten ihm Sterne vor den Augen, dann fasste er sich wieder und bretterte auf die Klärgrube zu.
Mulch wartete schon, die wilde Haarmähne gesträubt vor Ungeduld. »Wo warst du denn? Mir geht die Sonnencreme aus.«
Doodah verschwendete keine Zeit mit einer Antwort, sondern sprang aus dem demolierten Auto und riss Mongocharger und Spiegel ab.
Mulch bohrte ihm seinen Stummelfinger in die Brust. »Ich hab da noch ein paar Fragen.«
Eine Kugel aus Richtung des offenen Fensters knallte gegen den Auffangbehälter, dass ihnen die Betonsplitter um die Ohren flogen.
»Aber die können warten. Spring auf.« Mulch drehte Doodah den Rücken zu, samt blanker Verlängerung.
Der Wichtel sprang auf und hielt sich an zwei dicken Bartbüscheln fest. »Los!«, rief er. »Sie sind direkt hinter mir!«
Mulch hakte den Kiefer aus und bohrte sich in den Lehm wie ein behaarter Torpedo.
Doch so schnell er auch war, fast hätten sie es nicht geschafft. Weitere bewaffnete Wachmänner waren nur noch Schritte entfernt. Sekunden später hätten sie den sanft schnarchenden Beau entdeckt und die Tunnelöffnung mit Kugeln durchsiebt. Wahrscheinlich hätten sie sogar noch ein paar Granaten hinterhergeworfen. Doch all das taten sie nicht, weil genau in dem Moment im Innern des Herrenhauses die Hölle losbrach.
Kaum hatte Doodah die Videoklemme an dem Kabel befestigt, bohrten sich Hunderte winziger Dornen durch die Gummiummantelung und schlossen Kontakt mit den Drähten im Innern.
Nur Augenblicke später flossen die Informationen in Foalys Computer im Hauptquartier der Abteilung Acht. Die Daten sämtlicher Überwachungskameras, Alarmsysteme, Störsender und Kommunikationseinrichtungen erschienen in separaten Fenstern auf seinem Bildschirm.
Foaly wieherte vergnügt und ließ die Fingerknöchel knacken. Er liebte seine guten alten Videoklemmen. Nicht so schick wie die neuen organischen Wanzen, aber dafür wesentlich zuverlässiger.
»Okay«, sagte er in ein bleistiftdünnes Mikro auf seinem Schreibtisch. »Ich habe alles unter Kontrolle. Was für Albträume soll ich den Paradizos bereiten?«
In Südfrankreich antwortete Captain Holly Short in ihr Helmmikrofon: »Das ganze Repertoire. Schick ihnen Sturmtruppen und Hubschrauber auf den Hals, überlaste ihr Kommunikationssystem, schalte die Störsender ab, lass die Alarmsirenen losgehen. Sie sollen glauben, dass sie angegriffen werden.«
Foaly rief mehrere Phantomdateien auf. Die Phantomdateien zu pflegen war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Er kopierte Ausschnitte aus Filmen der Oberirdischen - Soldaten, Explosionen und dergleichen -, die sich in einen beliebigen Hintergrund einbauen ließen. Diesmal speiste er den Paradizos ein Spezialkommando der französischen Armee ins Überwachungssystem. Das war doch schon mal ein netter Anfang.
Im Château Paradizo stand Juan Soto, der Chef des Sicherheitsdienstes, vor einem kleinen Problem: Im Haus fielen mehrere Schüsse. Ein wirklich kleines Problem im Vergleich zu dem extrem großen Problem, das Foaly für ihn in petto hatte.
Soto sprach ins Funkgerät. »Ja, Mademoiselle Paradizo«, sagte er mit bemüht ruhiger Stimme. »Mir ist bewusst, dass Ihr kleiner Bruder verschwunden sein könnte. Ich sage könnte, weil es auch möglich wäre, dass er in dem Spielzeugauto sitzt. Für mich sieht es jedenfalls ganz danach aus... Schon gut, schon gut, ich verstehe. Es ist in der Tat ungewöhnlich, dass ein Spielzeugauto so weit fliegt. Möglicherweise liegt ein Funktionsfehler vor.«
Soto beschloss, sich die zwei Idioten zur Brust zu nehmen, die auf Minervas Anordnung hin tatsächlich auf das Spielzeugauto geschossen hatten. Egal, wie klug die Kleine war, solange er hier das Sagen hatte, gab kein Kind seinen Männern Befehle.
Obwohl Minerva sich nicht einmal in der Nähe der Sicherheitszentrale befand und noch viel weniger sein Gesicht sehen konnte, setzte Soto die passende Miene für eine Strafpredigt auf. »Mademoiselle Paradizo, jetzt hören Sie mal gut zu«, begann er, doch dann entglitten ihm die Gesichtszüge, als das gesamte Überwachungssystem plötzlich verrückt spielte.
»Ja, Soto, ich höre«, kam es von Minerva.
Soto hielt mit der einen Hand das Funkgerät umklammert und betätigte mit der anderen hektisch die Schalter auf seiner Konsole. Hoffentlich war das nur ein Systemfehler. »Es sieht so aus, als würde ein Spezialkommando auf das Gelände vordringen. Mein Gott, Soldaten sind im Haus! Und Hubschrauber, die Kamera auf dem Dach zeigt Hubschrauber.« Auf einmal tönten Funksprüche aus dem Lautsprecher. »Jetzt kann ich sie auch hören. Sie sind hinter Ihnen her, Mademoiselle Paradizo, und hinter Ihrem Gefangenen. Verdammt, jetzt geht auch noch der Alarm los. Überall. Wir sind umzingelt! Wir müssen evakuieren. Sie stehen am Waldrand. Sie haben einen Panzer! Wie haben die denn einen Panzer hier raufgekriegt?«
Vom Graben aus beobachteten Artemis und Butler das von Foaly erzeugte Chaos. Alarmsirenen heulten durch die Alpenluft, und Wachleute rannten auf ihre Posten.
Butler warf ein paar Rauchgranaten, um die Wirkung zu verstärken.
»Ein Panzer?«, sagte Artemis amüsiert. »Sie haben ihnen einen Panzer geschickt?«
»Du hörst die Funkverbindung ab?«, entgegnete Foaly scharf. »Was kann dein Telefon denn noch alles?«
»Solitär und Minesweeper spielen«, erwiderte Artemis mit Unschuldsmiene.
Foaly schaubte ungläubig. »Darüber unterhalten wir uns noch, Menschenjunge. Aber jetzt konzentrieren wir uns erst mal auf den Plan.«
»Ausgezeichneter Vorschlag. Haben Sie in Ihrem Phantomarsenal auch Lenkflugkörper?«
Der Chef des Sicherheitsdienstes fiel fast in Ohnmacht. Der Radar zeigte zwei Objekte an, die aus dem Bauch eines Hubschraubers glitten und Kurs auf das Herrenhaus nahmen.
»Mon dieu! Lenkflugkörper. Sie werfen Bomben auf uns. Wir müssen hier raus, und zwar sofort.«
Er öffnete eine Plexiglasklappe, unter der ein orangefarbener Knopf saß. Er zögerte nur einen winzigen Moment, bevor er ihn drückte. Die Alarmsirenen verstummten, und ein einziges, fortwährendes Heulen ertönte. Das Signal zur Evakuierung.
Sobald dieser Ton erklang, änderten die Wachmänner ihren Kurs und liefen zu den ihnen zugeteilten Fahrzeugen oder zu ihren Schützlingen, während die übrigen Bewohner des Herrenhauses zusammenrafften, was immer ihnen besonders am Herzen lag.
An der Ostseite des Hauses öffneten sich mehrere Garagentore, und sechs schwarze BMW-Geländewagen sprangen wie Pumas in den Innenhof. Einer von ihnen hatte dunkel getönte Fenster.
Artemis verfolgte alles durch sein Fernglas. »Behalten Sie das Mädchen im Auge«, sagte er in sein kleines Handtelefon. »Sie ist die Schlüsselfigur. Ich nehme an, der abgedunkelte Wagen ist ihrer.«
Minerva erschien in der Terrassentür und sprach ruhig in ein Walkie-Talkie. Ihr Vater ging neben ihr, den quengelnden Beau an der Hand. Als Letzter tauchte Billy Kong auf, leicht gebeugt unter dem Gewicht der großen Golftasche.
»Da sind Sie, Holly. Alles bereit?«
»Artemis! Ich leite hier den Einsatz«, kam die gereizte Antwort. »Halte dich aus meiner Frequenz raus, solange du nichts Wesentliches beizutragen hast.«
»Ich dachte nur...«
»Und ich denke, du bist ein elender Kontrollfreak.«
Artemis sah Butler an, der neben ihm am Rand des Abhangs lag und den Wortwechsel zwangsläufig mitgehört hatte. »Kontrollfreak? Wie kommt sie nur darauf?«
»Kann ich mir nicht erklären«, erwiderte der Leibwächter, ohne den Blick vom Herrenhaus zu wenden.
Links von ihnen begann eine Stelle des Erdreichs zu vibrieren. Dann schoss eine Fontäne aus Erde, Gras und Insekten hoch, gefolgt von zwei Köpfen: ein Zwerg und ein Wichtel.
Doodah kletterte von Mulchs Schultern und ließ sich auf den Boden fallen. »Ihr seid ja alle wahnsinnig«, keuchte er und pflückte einen Käfer von der Hemdtasche. »Dafür hätte ich mehr verdient als Straferlass. Zum Beispiel eine Pension.«
»Still, kleiner Mann«, sagte Butler ernst. »Jetzt beginnt Phase zwei des Plans, und die möchte ich nicht Ihretwegen verpassen.«
Doodah erbleichte. »Ich... ich auch nicht. Das heißt, ich möchte auch nicht, dass Sie die verpassen. Schon gar nicht meinetwegen.«
Drüben bei den Garagen öffnete Billy Kong den Kofferraum eines der BMWs und hievte die Golftasche hinein. Es war der Wagen mit den getönten Scheiben.
Artemis öffnete den Mund, um einen Befehl auszusprechen, schloss ihn jedoch wieder. Vermutlich wusste Holly, was sie zu tun hatte.
Sie wusste es. Die Fahrertür öffnete sich einen Spalt, augenscheinlich von allein, und schloss sich wieder. Bevor Billy oder Minerva wussten, wie ihnen geschah, heulte der Motor des Geländewagens auf und schoss mit quietschenden Reifen Richtung Haupttor davon.
»Perfekt«, murmelte Artemis. »Jetzt wollen wir doch mal sehen, wie klug dieses vermeintliche Verbrechergenie wirklich ist. Ich jedenfalls wüsste, was ich in dieser Situation tun würde.«
Minerva Paradizos Reaktion war nicht ganz so, wie man es von einem Kind erwarten würde, dem gerade das Lieblingsspielzeug gestohlen wurde. Kein wütendes Geheule und kein Fußstampfen. Auch Billy Kong enttäuschte die Erwartungen. Er zog nicht mal seine Waffe. Stattdessen ging er in die Hocke, fuhr sich mit der Hand durch die Manga-Frisur und zündete sich eine Zigarette an, die Minerva ihm prompt aus dem Mund riss und mit dem Fuß zertrat.
Derweil jagte der Geländewagen auf das Tor zu. Vielleicht war Minerva überzeugt, dass das verstärkte Stahlgitter den BMW schon zum Halten bringen würde. Doch da irrte sie. Holly hatte die Riegel bereits mit ihrer Neutrino angeschmort. Ein leichter Druck der Stoßstange würde ausreichen, um das Tor auffliegen zu lassen - falls der Wagen so weit kam. Was er nicht tat.
Nachdem Minerva Kongs Zigarette zertreten hatte, nahm sie eine Fernbedienung aus der Tasche, tippte einen kurzen Code ein und drückte auf Senden. Im Belüftungssystem des BMWs detonierte eine kleine Sprengladung, die eine Wolke Sevofluran freisetzte, ein starkes Betäubungsgas. Sekunden später begann der Wagen zu schlingern, durchbrach die Büsche entlang der Einfahrt und pflügte eine Schneise in den manikürten Rasen.
»Das sieht nicht gut aus«, sagte Butler.
»Hmm«, sagte Artemis. »Ein Gas, nehme ich an. Schnell wirkend. Wahrscheinlich Cyclopropan oder Sevofluran.«
Butler erhob sich auf die Knie und zog die Waffe. »Soll ich rübergehen und sie mir schnappen?«
»Nein, sollen Sie nicht.«
Der BMW hüpfte jetzt wild über das unebene Gelände. Er verwüstete eine Minigolfanlage, zerstörte eine Gartenlaube und enthauptete die Statue eines Zentauren.
Ein paar Tausend Kilometer tiefer verzog Foaly schmerzlich das Gesicht.
Schließlich kam der Wagen auf dem Dach in einem Lavendelbeet zum Halten. Die Hinterräder rotierten weiter, dass Lehmbrocken und Blütenrispen wie Geschosse durch die Luft flogen.
Echt filmreif, dachte Mulch, behielt es jedoch für sich. Jetzt war vielleicht nicht der richtige Moment, um Butlers Geduld zu strapazieren.
Alles in Butler drängte danach, loszulaufen. Die Pistole lag in seiner Hand, und sämtliche Sehnen an seinem Hals waren gespannt, doch Artemis legte ihm sanft die Hand auf den Arm.
»Nein«, sagte er. »Nicht jetzt. Ich weiß, Sie wollen helfen, aber jetzt ist nicht der richtige Moment.«
Mit angespannter Miene schob der Leibwächter die Sig Sauer zurück ins Halfter. »Sind Sie sicher, Artemis?«
»Vertrauen Sie mir, alter Freund.«
Und das tat Butler natürlich, auch wenn der Instinkt ihm etwas anderes sagte.
Drüben im Park näherten sich ein knappes Dutzend Wachmänner vorsichtig dem Wagen, angeführt von Billy Kong. Der Mann bewegte sich auf den Zehenspitzen, wie eine Katze. Selbst sein Gesicht hatte etwas Katzenhaftes: Schlitzaugen und ein selbstgefälliges Grinsen.
Auf sein Zeichen stürmten die Männer den BMW, hievten die Golftasche aus dem Kofferraum und zerrten die bewusstlose Holly vom Fahrersitz. Die Elfe wurde mit Handschellen aus Kunststoff gefesselt und zu Minerva Paradizo und ihrem Vater gebracht, die am Rand der Auffahrt warteten.
Minerva nahm Holly den Helm ab und kniete sich hin, um die spitzen Ohren der Elfe zu betrachten. Ihr zufriedenes Lächeln entging Artemis nicht, der sie durchs Fernglas genau beobachtete.
Das Ganze war eine Falle. Von Anfang an.
Minerva klemmte sich den Helm unter den Arm und marschierte zurück zum Haus. Auf halbem Weg blieb sie stehen und drehte sich um. Die Hand schützend über die Augen gelegt, ließ sie den Blick über die Schatten und Anhöhen der umliegenden Hügel wandern.
»Wonach sie wohl sucht?«, fragte sich Butler laut.
Artemis brauchte nicht lange zu überlegen. Er wusste genau, wonach dieses erstaunliche Mädchen Ausschau hielt. »Nach uns, alter Freund. Wenn das Herrenhaus Ihnen gehörte, hätten Sie sich bestimmt längst gefragt, wo ein Spion sich verstecken würde.«
»Natürlich. Deshalb habe ich ja diese Stelle ausgewählt. Der ideale Platz wäre ein Stück weiter oben gewesen, bei der Ansammlung von Felsbrocken, aber das wäre auch der erste Ort gewesen, an dem jeder halbwegs vernünftige Wachmann eine Falle errichten würde. Der Platz hier wäre meine zweite Wahl gewesen, und somit meine erste.«
Minervas Blick wanderte von den Felsbrocken zu der Böschung, hinter der sie kauerten. Sie konnte sie unmöglich sehen, aber offenbar sagte ihr der Verstand, dass sie dort waren.
Artemis betrachtete das hübsche Gesicht des Mädchens. Er war verblüfft, dass er imstande war, Minerva wohlgefällig zu betrachten, obwohl sie gerade seine Freundin Holly gefangen genommen hatte. Die Pubertät war eine mächtige Kraft.
Minerva lächelte. Die funkelnden Augen schienen Artemis über den Hang hinweg herauszufordern. Dann sagte sie etwas auf Englisch.
Artemis und Butler, beide erfahrene Lippenleser, hatten keine Schwierigkeiten, die kurze Botschaft zu entziffern.
»Haben Sie das mitgekriegt, Artemis?«, fragte Butler.
»Ja, habe ich.«
»Jetzt bist du dran, Artemis Fowl«, hatte Minerva gesagt.
Butler ließ sich in den Graben sinken und klopfte sich die Erde von den Ellbogen. »Ich dachte immer, Sie wären der Einzige Ihres Kalibers, Artemis, aber das Mädchen hat was auf dem Kasten.«
»Ja«, sagte Artemis nachdenklich. »Sie ist unzweifelhaft ein junges Verbrechergenie.«
Unten im Hauptquartier von Abteilung Acht stöhnte Foaly ins Mikro. »Na toll, jetzt gibt's auch noch zwei von euch.«