Kapitel 12

 

Herz aus Stein

 
 

Taipeh 101, 40. Stock, Kimsitcho-Galerie.

 

Artemis schlenderte durch den Eingangsbereich der Kimsitcho-Galerie, flankiert von Butler und Minerva.

»Wir sind in einer Galerie«, sagte Minerva. »Haben wir jetzt wirklich Zeit für Kunst?«

Überrascht blieb Artemis stehen. »Für Kunst sollte man immer Zeit haben«, sagte er. »Aber wir sind wegen eines ganz besonderen Kunstwerks hier.«

»Und das wäre?«

Artemis deutete auf bemalte Seidenbanner, die in regelmäßigen Abständen an der Decke aufgehängt waren. Jedes von ihnen zeigte eine einzelne, dramatisch geschwungene Rune.

»Ich verfolge den Kunstmarkt mit großer Aufmerksamkeit, und diese Ausstellung interessiert mich ganz besonders. Das Hauptobjekt sind die Überreste einer fantastischen Skulptur. Ein Halbkreis aus seltsamen, tanzenden Figuren, schätzungsweise zehntausend Jahre alt. Sie wurde angeblich vor der irischen Küste gefunden.«

»Artemis, warum sind wir hier? Ich muss nach Hause zu meinem Vater.«

»Erkennst du die Rune nicht? Hast du sie nicht schon mal irgendwo gesehen?«

Minerva fiel es wie Schuppen von den Augen. »Mais oui! Certainement. Das ist die Rune von der Stirn des Dämons.«

Artemis schnippte mit den Fingern und ging weiter. »Genau. Als ich Nummer Eins kennenlernte, kamen mir seine Zeichen sofort bekannt vor. Es dauerte eine Weile, bis mir einfiel, wo ich sie schon mal gesehen hatte, aber als ich es wusste, kam mir der Gedanke, dass diese Skulptur vielleicht gar keine Skulptur ist.«

Minerva kombinierte blitzschnell. »Es ist der Ring der Zauberer. Die den Zeitbann heraufbeschworen haben.«

»Genau. Vielleicht sind sie gar nicht im All verschollen. Vielleicht hatte einer von ihnen die Geistesgegenwart, sie alle mit seiner Berührung zu versteinern.«

»Und wenn Nummer Eins tatsächlich ein Zauberer ist, könnte er sie als Einziger wieder zum Leben erwecken.«

»Sehr gut, Minerva. Du begreifst schnell. Jung, clever und arrogant. Du erinnerst mich an jemanden.«

»An wen wohl...« Butler verdrehte die Augen.

»Aber wie hast du das Ganze eingefädelt?«, fragte das französische Mädchen. »Der Treffpunkt war Kongs Idee. Ich habe gehört, wie er mit dir telefoniert hat.«

Bei dem Gedanken an seinen Geistesblitz schmunzelte Artemis unwillkürlich. »Während er nachdachte, habe ich gesagt: ›Sie wissen ja, bei so etwas zählt jedes Detail. Penibel, wie ich bin, könnte ich Ihnen hundertundeine Örtlichkeit nennen. Ich habe sogar eine Datei. Wann immer ich einen geeigneten Treffpunkt brauche, schaue ich dort nach.‹ Verstehst du?«

Minerva zupfte nachdenklich an einer Haarlocke. »Mon dieu! Du hast die Kraft der Suggestion genutzt: Detail, penibel, hundertundeine, Datei, wann

»Ja, und Kongs Unterbewusstsein hat daraus ›Taipeh 101, Taiwan‹ gemacht.«

»Brillant, Artemis. Wirklich genial. Und wenn ich das sage, will das was heißen.«

»Es war in der Tat brillant«, erwiderte Artemis, bescheiden wie immer. »Und da Taiwan obendrein Kongs zweite Heimat ist, war ich einigermaßen zuversichtlich, dass es funktionieren würde.«

Am Empfangstresen der Galerie saß ein gestresst wirkender Mann. Er trug einen neonblauen Anzug, und sein Kopf war kahl rasiert, bis auf eine Stoppelspirale in Form der Rune, die die Stirn von Nr. 1 zierte. Er sprach in hektischem Taiwanesisch in ein drahtloses Headset.

»Nein, nein. Lachs ist nicht gut genug. Wir haben Tintenfisch und Hummer bestellt. Entweder Sie liefern das Ganze pünktlich um acht, oder ich komme zu Ihnen runter und verarbeite Sie zu Sushi.«

»Ärger mit dem Lieferservice?«, erkundigte Artemis sich freundlich, als der Mann das Gespräch beendet hatte.

»Ja«, erwiderte der Mann. »Heute Abend ist die Ausstellungseröffnung, und...«

Der Mann brach ab. Er hatte aufgeblickt, um zu sehen, mit wem er sprach, und Butler bemerkt. »Wahnsinn, ist der groß. Äh... ich meine, hallo. Ich bin Mister Lin, der Kurator. Kann ich Ihnen helfen?«

»Wir hatten gehofft, dass wir vorab schon mal einen Blick auf die Ausstellung werfen dürften«, sagte Artemis. »Vor allem auf die tanzenden Figuren.«

Mister Lin war so überrascht, dass er ins Stottern geriet. »Was? Wie? Vorab? Nein, nein, nein. Unmöglich, auf keinen Fall. Das hier ist wahre Kunst. Sehen Sie sich meinen Kopf an! So was mache ich doch nicht für jede x-beliebige Ausstellung.«

»Das ist mir klar, aber mein Freund hier, der Große, wäre Ihnen überaus verbunden, wenn Sie uns für einen kurzen Moment hineinließen.«

Mister Lin öffnete den Mund, um zu antworten, doch dann blieb sein Blick an etwas hinter Artemis hängen. »Was ist denn das da in dem komischen Kleid?«

Artemis drehte sich nicht einmal um. »Oh, das ist nur unser außerirdischer Freund, den wir als Kind verkleidet haben.«

Mister Lin runzelte die Stirn, dass die Spirale auf seinem Kopf sich verzog. »Ein Außerirdischer, soso. Wer sind Sie? Sind Sie von Pop Art Today? Ist das einer von Dougie Hemlers postmodernistischen Tricks?«

»Nein. Er ist wirklich ein Außerirdischer. Ein Dämonenzauberer, um genau zu sein. Und die dahinter, die mit den Flügeln, ist eine Elfe.«

»Eine Elfe? Richten Sie Dougie Hemler aus, dass er sich das von der Backe putzen -« In dem Moment erblickte er Holly, die über dem Kopf von Nr. 1 schwebte. »Oh!«

»Ganz recht, oh!«, sagte Artemis. »Können wir jetzt rein? Es ist wirklich sehr wichtig.«

»Werden Sie die Ausstellung ruinieren?«

»Wahrscheinlich«, gab Artemis zu.

Mister Lins Lippen zitterten. »Dann kann ich Sie nicht reinlassen.«

Holly schoss vor und öffnete das Visier ihres Helms. »Doch, ich denke, das können Sie«, sagte sie mit der betörenden Stimme des Blicks. »Denn diese drei Menschen sind Ihre ältesten Freunde. Sie haben sie zu einer privaten Vorabbesichtigung eingeladen.«

»Und was ist mit euch beiden?«

»Machen Sie sich um uns keine Sorgen. Wir sind gar nicht hier. Wir sind nur eine Inspiration für Ihre nächste Ausstellung. Lassen Sie uns einfach durch.«

Mister Lin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Warum sollte ich mir Gedanken um euch machen? Ihr seid ja gar nicht wirklich hier. Nur eine alberne Idee, die mir durch den Kopf schwirrt. Und was euch drei betrifft, ich bin ja so froh, dass ihr gekommen seid.«

»Sie brauchen uns nicht auf Video aufzuzeichnen«, soufflierte Holly. »Stellen Sie die Überwachungskameras doch einfach ab.«

»Ich mache die Überwachungskameras besser aus, dann seid ihr ungestört.«

»Gute Idee.«

Der Kurator beschäftigte sich bereits wieder mit den Postern auf seinem Schreibtisch, als die Sicherheitstür hinter Artemis und seinen Freunden ins Schloss fiel.

 
* * *
 

Der Ausstellungssaal war ultramodern, mit dunklem Parkett und Sonnenblenden aus Edelstahl. An den Wänden waren Fotografien aufgehängt, großformatige Aufnahmen der tanzenden Figuren, die in der Mitte des Raumes standen. Sie waren auf einem Podest ausgestellt, damit man die Einzelheiten besser studieren konnte. Es waren so viele Strahler darauf gerichtet, dass auf den Figuren fast kein Schatten lag.

Nr. 1 zog sich die Haube vom Kopf und ging auf die Steinfiguren zu. Er bewegte sich wie in Trance, als wäre er mit dem Blick hypnotisiert worden, und nicht der Kurator.

Er kletterte auf das Podest und strich über die steinerne Haut der ersten Figur. »Zauberer«, flüsterte er. »Brüder.«

Die Skulptur war wundervoll gestaltet, doch schrecklich in ihrer Thematik. Sie bestand aus vier Figuren, die wie in einem Kreissegment nebeneinanderstanden und aussahen, als ob sie tanzten oder vor etwas zurückwichen. Es waren kleine, untersetzte Gestalten wie Nr. 1, mit kantigem Kinn, breiter Brust und Stummelschwanz. Die Körper waren von oben bis unten mit wirbelnden Runen bedeckt. Die Dämonen hielten sich an den Händen gefasst, und der vierte umklammerte noch die abgebrochene Hand des Nächsten.

»Der Kreis ist durchbrochen«, sagte Nr. 1. »Etwas ist schiefgegangen.«

Artemis kletterte zu ihm aufs Podest. »Kannst du sie zurückholen?«

»Zurückholen?«, fragte Nr. 1 verdattert.

»Nach allem, was ich über die Gabe der versteinernden Hand weiß, kann sie Lebendiges in Stein verwandeln und umgekehrt. Du besitzt die Gabe - kannst du sie anwenden?«

Nr. 1 rieb sich nervös die Hände. »Es könnte sein, dass ich die Gabe besitze. Könnte, wohlgemerkt. Ich habe einen hölzernen Spieß in Stein verwandelt, zumindest sah es so aus. Vielleicht war er auch nur mit Asche überzogen. Ich stand wahnsinnig unter Druck. Alle haben mich beobachtet. Du weißt ja, wie das ist - na ja, oder auch nicht. Wer von euch war denn schon in einer Knirpsschule? Keiner, stimmt's?«

Artemis packte ihn an der Schulter. »Hör auf mit dem Gefasel, Nummer Eins. Du musst dich konzentrieren.«

»Ja, natürlich. Konzentrieren. Sammeln. Nachdenken.«

»Genau. Und jetzt versuch, ob du sie zurückholen kannst. Das ist die einzige Möglichkeit, Hybras zu retten.«

Minerva umkreiste vollkommen fasziniert die Skulptur. »Diese Statuen sind tatsächlich echte Dämonen. Sie waren die ganze Zeit unter uns. Ich hätte es erkennen müssen, aber Abbot sah so anders aus.«

Holly landete neben dem Mädchen. »Es gibt noch mehr Arten, von denen du nichts weißt. Eine davon wäre dank deiner Einmischung beinahe ausgelöscht worden. Du hast Glück gehabt - wenn das passiert wäre, hätte ein Dutzend Artemis Fowls nicht ausgereicht, um dich vor der Polizei der Unterirdischen zu retten.«

»Schon klar. Ich habe mich bereits entschuldigt. Können wir das nicht abhaken?«

Holly musterte sie mit gerunzelter Stirn. »Freut mich, dass du dir so schnell verzeihst.«

»Schuldgefühle mit sich herumzutragen kann die geistige Gesundheit beeinträchtigen.«

»Diese Kindergenies«, grummelte Holly.

Auf dem Podest berührte Nr. 1 einen der versteinerten Zauberer mit den Händen. »Also, neulich auf Hybras stand ich nur da und hatte den Spieß in der Hand. Ich war ziemlich aufgeregt. Und dann fing es einfach an. Ich hatte nicht vor, ihn in Stein zu verwandeln.«

»Könntest du jetzt nicht genauso aufgeregt sein?«, fragte Artemis.

»Was? Einfach so? Ich weiß nicht. Mir ist ein bisschen komisch, um ehrlich zu sein. Ich glaube, es liegt an dem Kleid. Von dem Muster wird einem ganz blümerant.«

»Und wenn Butler dir Angst einjagt?«

»Das ist nicht dasselbe. Ich brauche echten Druck. Ich weiß, dass Mister Butler mir nichts tun würde.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher.«

»Haha. Sehr witzig, Artemis. Ich sehe schon, vor dir muss ich mich in Acht nehmen.«

Butler überprüfte gerade seine Sig Sauer, als er Geräusche auf dem Flur hörte. Er lief zur Sicherheitstür und spähte durch das kleine Fenster aus Panzerglas. »Wir kriegen Gesellschaft«, verkündete er und entsicherte die Waffe. »Kong hat uns gefunden.« Er feuerte eine Salve auf den elektronischen Schließmechanismus, sodass der Chip durchbrannte und die Tür verriegelte. »Sie werden nicht lange brauchen, um die Tür aufzukriegen. Wir müssen die Zauberer aufwecken und von hier verschwinden, und zwar sofort!«

Artemis sah Nr. 1 an und deutete mit dem Kopf auf die Sicherheitstür. »Reicht der Druck?«

 
* * *
 

Auf der anderen Seite der Tür standen Kong und seine Leute vor einer qualmenden Nummerntastatur.

»Verdammt«, fluchte Kong. »Er hat das Schloss gekillt. Wir müssen uns reinschießen. Wir haben keine Zeit für Fisimatenten. Don, hast du die Kiste?«

Der Angesprochene hielt den Metallkoffer hoch. »Hier.«

»Gut. Falls da drinnen durch irgendein Wunder ein Dämon sein sollte, schnall ihm das Ding ans Handgelenk, und zwar fest. Ich will nicht, dass er mir noch mal entwischt.«

»Alles klar. Wir haben Granaten dabei, Boss. Sollen wir die Tür aufsprengen?«

»Nein«, entgegnete Kong barsch. »Ich brauche Minerva, und ich will sie unverletzt. Wer ihr auch nur ein Haar krümmt, kriegt es mit mir zu tun, verstanden?«

Alle nickten. War ja auch nicht kompliziert.

 
* * *
 

Im Ausstellungsraum wurde Artemis ein wenig nervös. Er hatte gehofft, Kong würde das Hochhaus sofort verlassen, aber der Killer musste im Aufzug das Ausstellungsplakat gesehen haben und zu dem gleichen Schluss gekommen sein wie er selbst.

»Tut sich schon was?«, fragte er Nr. 1, der zaghaft über den Arm einer Statue rieb.

»Noch nicht. Ich geb mir ja Mühe.«

Artemis klopfte ihm auf die Schulter. »Streng dich an. Ich habe keine Lust, in einem Wolkenkratzer in eine Schießerei zu geraten. Im günstigsten Fall landen wir alle in einem taiwanesischen Gefängnis.«

Okay, dachte Nr. 1. Konzentrier dich. Reich hinein in den Stein.

Er ergriff die Hand des steinernen Zauberers und bemühte sich, etwas zu fühlen. Nach dem bisschen, was er aus dem Geschichtsunterricht wusste, musste das hier Qwan sein, der Oberste Zauberer. Um den Kopf der Steinfigur zog sich ein einfacher Strich mit einem Spiralmotiv auf der Stirn - das Zeichen des Anführers.

Das muss ja schrecklich gewesen sein, dachte Nr. 1. Zuzusehen, wie die eigene Heimat verschwindet, und allein zurückzubleiben. Und obendrein zu wissen, dass man selber schuld daran ist.

Es war nicht meine Schuld!, schimpfte eine Stimme im Kopf des Knirpses. Das war dieser dämliche Dämon N'zall. Was ist jetzt, holst du mich hier raus oder nicht?

Nr. 1 wäre beinahe ohnmächtig geworden. Er schnappte mühsam nach Luft, und das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Komm schon, junger Zauberer. Befreie mich endlich! Ich habe verdammt lange gewartet.

Diese Stimme, diese Gedanken kamen aus der Skulptur. Es war Qwan.

Natürlich bin ich es. Du hältst meine Hand. Was hast du denn geglaubt, wer ich bin? Du bist doch kein Dummkopf, oder? Das wäre mal wieder typisch. Erst steckt man zehntausend Jahre fest, und dann taucht ausgerechnet ein Dummkopf auf.

»Ich bin kein Dummkopf!«, protestierte Nr. 1.

»Natürlich nicht«, beruhigte Artemis ihn. »Tu einfach, was du kannst. Ich werde Butler bitten, Kong so lange wie möglich aufzuhalten.«

Nr. 1 biss sich auf die Lippen und nickte. Wenn er laut dachte, könnte es verwirrend werden. Und die Situation war ohnehin schon verwirrend genug.

Er würde es mit der Kraft der Gedanken versuchen.

Qwan sprach in Gedanken mit ihm, vielleicht funktionierte es ja auch andersherum.

Natürlich funktioniert das!, sendete Qwan. Und was soll dieser Unsinn über gekochtes Essen? Sieh zu, dass du mich aus diesem Gefängnis befreist.

Nr. 1 zuckte zusammen und bemühte sich, den Traum von einem Bankett aus richtig zubereiteten Leckereien beiseitezuschieben. Ich weiß nicht, wie ich Sie befreien soll, dachte er. Ich weiß nicht, ob ich das kann.

Natürlich kannst du das, entgegnete Qwan. Du hast genug Magie in dir, um einem Troll das Flötespielen beizubringen. Lass sie einfach heraus.

Wie? Ich weiß nicht, wie das geht.

Qwan schwieg einen Moment, während er kurz in den Erinnerungen von Nr. 1 stöberte. Oh, ich verstehe. Du bist ein absoluter Anfänger, ohne jede Vorkenntnisse. Na, ist eigentlich auch ganz gut so. Ohne die richtige Anleitung hättest du halb Hybras in die Luft jagen können. Gut, ich werde dir einen kleinen Schubs in die richtige Richtung geben. Von hier aus kann ich nicht viel tun, aber vielleicht schaffe ich es, deine Magie in Fluss zu bringen. Danach geht alles einfacher. Sobald du mit einem Zauberer in Kontakt kommst, geht ein Teil seines Wissens auf dich über.

Nr. 1 hätte schwören können, dass die steinernen Finger sich ein wenig fester um seine schlossen, doch das war bestimmt nur Einbildung. Keineswegs Einbildung hingegen war das plötzliche, kalte Gefühl des Verlusts, das seinen Arm hinaufschoss. Als würde ihm das Leben aus den Knochen gesogen.

Keine Sorge, junger Zauberer, ich hole mir nur ein bisschen Magie, um den Funken überspringen zu lassen. Es fühlt sich schrecklich an, aber das hört gleich wieder auf.

Es fühlte sich in der Tat schrecklich an. So ähnlich musste es sein, wenn man Stück für Stück starb, dachte Nr. 1, und in gewisser Weise passierte genau das. In so einer Situation versucht der Körper, sich zu wehren. Die Magie, die bis vor Kurzem verborgen in Nr. 1 geruht hatte, explodierte plötzlich in seinem Gehirn und attackierte den Eindringling.

Für Nr. 1 war es, als eröffne sich ihm eine ganz neue Sicht der Dinge. War er zuvor blind gewesen, so konnte er jetzt gleichsam durch Mauern sehen. Natürlich hatte er keinen Röntgenblick bekommen, es war eher ein Erkennen der eigenen Fähigkeiten. Die Magie schoss durch ihn hindurch wie flüssiges Feuer und jagte alle Verunreinigungen aus seinen Poren. Dampf stieg aus Nase, Mund und Ohren, und die Runen auf seinem Körper begannen zu leuchten.

Gut gemacht, sendete Qwan. Jetzt lass sie fließen. Jag mich raus.

Zu seinem Erstaunen stellte Nr. 1 fest, dass er tatsächlich in der Lage war, den Fluss der Magie zu steuern. Er lenkte sie zu der Bahn, die Qwan angezapft hatte, den Arm hinunter und durch seine Finger in die des Obersten Zauberers. An die Stelle des abgestorbenen Gefühls trat kribbelnde Energie. Nr. 1 begann zu vibrieren, und die Statue tat es ihm gleich. Die Steinschicht fing an zu bröckeln. Die Finger des alten Zauberers waren nicht mehr hart und kalt, sondern aus lebender, warmer Haut. Sie ergriffen die des Knirpses fest, um die Verbindung zu halten.

Genau, Junge. Du hast es.

Ich kann's, dachte Nr. 1 ungläubig. Ich kann es wirklich.

Staunend sahen Artemis und Holly zu, wie die Magie in Qwans Körper floss und mit lautem Krachen und hell züngelnden Flammen den Stein von seinen Gliedern sprengte. Zuerst wurde die Hand lebendig, dann der Arm, dann die Brust. Die starre Schicht um den Mund barst, und der Zauberer konnte zum ersten Mal seit zehntausend Jahren wieder Luft holen. Leuchtend blaue Augen blinzelten in das Licht und schlossen sich sofort wieder. Immer weiter floss die Magie, bis auch das letzte Steinbröckchen von Qwans Körper abgefallen war, doch dann war Schluss. Als die Magiefunken von Nr. 1 die Hand des nächsten Zauberers erreichten, verloschen sie knisternd.

»Was ist mit den anderen?«, fragte Nr. 1. Bestimmt konnte er auch sie befreien.

Qwan hustete und spuckte eine Weile, bevor er antworten konnte. »Tot«, sagte er. Dann sank er auf den Schutthaufen.

 
* * *
 

Auf der anderen Seite der Sicherheitstür jagte Kong das dritte Magazin seiner Maschinenpistole in die Zahlentastatur. »Die Tür macht's nicht mehr lange«, sagte Butler. »Gleich sind sie drin.«

»Lassen sie sich irgendwie aufhalten?«

»Ich denke schon. Aber ich will keine Leichen hier zurücklassen, Artemis. Bestimmt ist die Polizei längst auf dem Weg hierher.«

»Vielleicht könnten Sie sie ein bisschen erschrecken?«

Butler grinste. »Mit dem größten Vergnügen.«

Die Schüsse hörten auf. Die Tür hing bereits ein wenig schief in den Angeln. Butler riss sie auf, zerrte Billy Kong herein und warf die Tür wieder zu.

»Hallo, Billy«, sagte er und presste den zierlichen Mann gegen die Wand.

Kong war zu wütend, um Angst zu haben. Er verpasste Butler eine Serie von Schlägen, von denen jeder einzelne für einen normalen Menschen tödlich gewesen wäre. An Butler prallten sie ab wie eine Fliege an einem Panzer. Was nicht hieß, dass es ihm nicht wehtat. Jeder Treffer von Kongs geübten Fäusten fühlte sich an wie ein glühendes Brandeisen.

Doch Butlers einzige Reaktion auf den Schmerz war eine leichte Anspannung in den Mundwinkeln. »Holly?«, sagte er.

»Alles klar«, erwiderte sie und zielte mit der Neutrino auf eine Stelle über den beiden.

Butler warf Billy Kong in die Luft, und Holly verpasste ihm eine kräftige Laserladung. Kong wurde zu Boden geschleudert, die Fäuste zuckten noch ein paarmal, dann war Ruhe.

»Der Kopf der Schlange ist betäubt«, sagte Artemis. »Hoffen wir, dass der Rest dem Beispiel folgt.«

Minerva beschloss, Billy Kongs Betäubung auszunutzen, um sich an ihm zu rächen. Sie marschierte auf ihren Entführer zu, der bäuchlings auf dem Parkett lag. »Sie sind nichts weiter als ein mieser kleiner Gauner, Mister Kong«, sagte sie und verpasste ihm einen Tritt vors Bein.

»Weg da, junge Dame«, sagte Butler scharf. »Es kann sein, dass er nur halb betäubt ist.«

»Wenn Sie meinem Vater auch nur ein Haar gekrümmt haben«, fuhr Minerva fort, ohne Butlers Warnung zu beachten, »werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie lange Jahre hinter Gittern schmoren.«

Kong öffnete vorsichtig ein tränendes Auge. »So redet man nicht mit seinen Angestellten«, krächzte er und umfasste mit stählernen Fingern ihr Fußgelenk.

Da begriff Minerva, dass sie einen schwerwiegenden Fehler gemacht hatte, und entschied, dass es am besten wäre, einen schrillen Schrei auszustoßen. Was sie auch tat.

Butler war hin- und hergerissen. Es war seine Pflicht, Artemis zu schützen, nicht Minerva, doch im Verlauf der Abenteuer, die er nun schon mit Artemis und Holly durchgestanden hatte, war er, ohne es zu merken, in die Rolle des allgemeinen Beschützers geschlüpft. War jemand in Gefahr, rettete er ihn. Und dieses törichte Mädchen war eindeutig in Gefahr. In Lebensgefahr.

Warum, fragte er sich, halten die Intelligenten sich immer für unbesiegbar?

Und so traf Butler eine Entscheidung, deren Folgen ihn noch jahrelang quälen sollten. Als professioneller Leibwächter wusste er, wie sinnlos es war, eine Handlung im Nachhinein zu hinterfragen, doch er würde noch viele Nächte vor dem Feuer sitzen, den Kopf in den Händen vergraben, würde diesen Moment Revue passieren lassen und sich wünschen, er hätte anders gehandelt. Wie er die Szene auch durchspielte, das Ergebnis war tragisch, doch zumindest hätte es nicht so tragisch für Artemis enden müssen.

Butler handelte. Er entfernte sich vier Schritte von der Tür, um Minerva aus Kongs Griff zu befreien. Eine Kleinigkeit, der Mann war ja kaum bei Bewusstsein. Kong schien von einer Art psychotischer Energie angetrieben zu werden. Butler trat ihm einfach kräftig auf das Handgelenk und verpasste ihm mit dem Knöchel seines Zeigefingers einen Schlag zwischen die Brauen. Kongs Augen rollten weg, und die Finger öffneten sich wie die Beine einer sterbenden Spinne.

Rasch entfernte sich Minerva aus Kongs Reichweite. »Das war sehr dumm. Es tut mir leid«, murmelte sie.

»Dafür ist es ein bisschen spät«, tadelte Butler sie. »Würdest du jetzt bitte in Deckung gehen?«

Die ganze Episode nahm nicht mehr als vier Sekunden in Anspruch, aber in diesen vier Sekunden passierte eine Menge auf der anderen Seite der Sicherheitstür. Don, der immer noch die Bombe trug und der vorhin ohne jeden ersichtlichen Grund von seinem Boss zurückgepfiffen worden war, beschloss, sich bei Kong beliebt zu machen, indem er in den Ausstellungsraum stürmte und sich den Riesen vornahm. Er rammte die Tür genau in dem Moment, als Butler auf der anderen Seite zurückwich, und so purzelte er zu seiner Überraschung kopfüber in den Raum, dicht gefolgt von vier weiteren Handlangern seines Bosses, allesamt bis an die Zähne bewaffnet.

Holly, die ihre Neutrino auf die Tür gerichtet hatte, ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Mit der Ruhe war es erst vorbei, als plötzlich eine Handgranate aus dem Gewirr von Männern herausrollte und an ihren Fuß stieß. Für sie allein wäre es kein Problem gewesen, der Explosion zu entgehen, aber für Artemis und Nr. 1 sah es nicht gut aus.

Denk nach. Schnell!

Es gab eine Lösung, aber die war kostspielig, was die Ausrüstung betraf. Holly schob ihre Waffe zurück ins Halfter, riss sich den Helm vom Kopf und stülpte ihn über die Granate. Dann kauerte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht darauf. Diesen Trick hatte sie schon öfter angewendet, mit unterschiedlichem Ergebnis. Eigentlich hatte sie gehofft, dass es nicht zur Gewohnheit werden würde.

Wie ein Frosch auf einem Giftpilz hockte sie da. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, doch es konnten nur ein paar Sekunden gewesen sein. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie ein Ganove mit einem silberfarbenen Koffer in der Hand dem Mann, der die Granate geworfen hatte, eine Ohrfeige verpasste. Vielleicht verstieß der Einsatz tödlicher Waffen gegen die Befehle.

Die Granate explodierte und schleuderte Holly in steilem Bogen durch die Luft. Der Helm fing den größten Teil der Druckwelle und alle Geschosssplitter ab, aber die Wucht reichte immer noch aus, um Holly beide Schienbeine und einen Oberschenkelknochen zu brechen. Wie ein Sack Steine landete sie auf Artemis' Rücken. »Au«, sagte sie und verlor das Bewusstsein.

 
* * *
 

In der Zwischenzeit waren Artemis und Nr. 1 bemüht, Qwan zu reanimieren.

»Er lebt«, sagte Artemis, die Finger am Handgelenk des Zauberers. »Der Puls ist normal. Er müsste bald zu sich kommen. Lass ihn auf keinen Fall los, sonst verschwindet er womöglich.«

Nr. 1 hielt den Kopf des alten Dämons in seinem Schoß. »Er hat mich einen Zauberer genannt«, sagte er mit Tränen in den Augen. »Ich bin nicht allein.«

»Heb dir die Rührseligkeiten für später auf«, sagte Artemis brüsk. »Wir müssen zusehen, dass wir dich hier rauskriegen.«

Plötzlich drangen Kongs Männer in den Ausstellungsraum ein und schossen um sich. Artemis vertraute darauf, dass Butler und Holly zumindest einen Teil der Ganoven ausschalten würden, doch seine Zuversicht bekam einen Kratzer, als es auf einmal laut knallte und eine offensichtlich mitgenommene Holly auf seinem Rücken landete. Sofort bildete sich um sie herum ein Kokon aus blauem Licht, aus dem sich Funken herauslösten und wie Sternschnuppen auf die verletzten Körperteile zusteuerten.

Artemis kroch unter ihr hervor und legte seine bewusstlose Freundin vorsichtig neben Qwan auf den Boden.

Kongs Männer machten gerade Bekanntschaft mit Butler und bedauerten vermutlich, keinen anderen Beruf gewählt zu haben. Er donnerte in sie hinein wie eine Bowlingkugel in einen Haufen zitternder Kegel.

Einer schaffte es, dem Leibwächter zu entgehen. Ein hoch gewachsener Mann mit tätowiertem Hals und einem Aluminiumkoffer. Da der Koffer vermutlich nicht eine Auswahl asiatischer Gewürze enthielt, musste Artemis wohl selbst aktiv werden. Während er noch überlegte, was zu tun war, stieß der Mann ihn derb zu Boden. Als Artemis sich wieder aufgerappelt hatte, war der Koffer bereits mit Handschellen an Hollys Arm befestigt.

Nachdem der Mann den Koffer »abgeliefert« hatte, stürzte er sich in das Handgemenge, aus dem Butler ihn jedoch keine Sekunde später wieder in hohem Bogen hinausbeförderte.

Artemis kniete sich neben Holly, die benommen auf dem Boden saß. »Alles in Ordnung?«

Holly lächelte, aber es bereitete ihr sichtlich Mühe. »So einigermaßen, dank der Magie. Allerdings ist sie jetzt wirklich bis auf den letzten Funken aufgebraucht. Es wäre also gut, wenn ihr alle gesund bleiben würdet, bis ich das Ritual vollziehen kann.« Sie schüttelte ihren Arm, dass die Kette klirrte. »Was ist in dem Koffer?«

Artemis wirkte blasser als sonst. »Ich vermute, nichts Gutes.« Er ließ die Verschlüsse aufschnappen und öffnete den Deckel. »Und meine Vermutung ist richtig. Eine Bombe. Groß und kompliziert. Sie müssen sie irgendwie am Wachpersonal vorbeigeschmuggelt haben. Wahrscheinlich durch einen Gebäudeteil, an dem noch gebaut wird.«

Holly blinzelte, um die Benommenheit loszuwerden, und schüttelte den Kopf, bis sie vor Schmerz zusammenzuckte. »Okay. Eine Bombe. Siehst du irgendwo einen Timer?«

»Acht Minuten, und der Countdown läuft.«

»Kannst du sie entschärfen?«

Artemis schürzte die Lippen. »Vielleicht. Ich muss das Gehäuse öffnen und mir die Innereien ansehen, bevor ich etwas Genaues sagen kann. Es könnte ein einfacher Zünder sein, vielleicht haben sie aber auch einen Haufen Attrappen eingebaut.«

Qwan stützte sich mühsam auf die Ellbogen und hustete ein zähes Gemisch aus Staub und Speichel hervor. »Was? Nach zehntausend Jahren bin ich endlich wieder Fleisch und Blut, und dann erzählst du mir, eine Bombe zerreißt mich gleich in tausend Stücke?«

»Das ist Qwan«, sagte Nr. 1. »Er ist der mächtigste Zauberer des magischen Kreises.«

»Und der einzige«, sagte Qwan. »Ich konnte die anderen nicht retten. Jetzt sind nur noch wir beide übrig, mein Junge.«

»Können Sie die Bombe versteinern?«, fragte Holly.

»Es dauert noch ein paar Minuten, bis meine Magie wieder verfügbar ist. Aber die Versteinerung funktioniert sowieso nur bei lebender Materie. Wenn's wenigstens eine Topfblume wäre, aber eine Bombe... Die besteht aus lauter synthetischen Stoffen.«

Artemis zog die Augenbraue hoch. »Sie kennen sich mit Bomben aus?«

»Ich war versteinert, nicht tot. Ich habe alles mitbekommen, was um mich herum geschah. Ich könnte dir Geschichten erzählen! Du glaubst ja nicht, wo Touristen überall ihre Kaugummis hinkleben.«

Butler stapelte die Bewusstlosen vor der Sicherheitstür auf. »Wir müssen verschwinden!«, rief er. »Die Polizei ist im Anmarsch.«

Artemis stand auf, entfernte sich ein paar Schritte von den anderen und schloss die Augen.

»Artemis, das ist der denkbar ungünstigste Moment, um schlappzumachen«, tadelte Minerva ihn, während sie hinter einer Vitrine hervorkroch. »Wir brauchen einen Plan.«

»Schhh, junge Dame«, sagte Butler. »Er denkt nach.«

Artemis gewährte sich zwanzig Sekunden, um sein Hirn zu durchforsten. Was er dabei zutage förderte, war alles andere als perfekt. »Also gut. Holly, Sie müssen uns hier rausfliegen.«

Holly rechnete einen Moment. »Dazu muss ich mindestens zweimal, wenn nicht sogar dreimal fliegen.«

»Dafür reicht die Zeit nicht. Die Bombe muss als Erstes hier raus. In diesem Gebäude sind jede Menge Leute. Ich muss bei der Bombe bleiben, da ich sie vielleicht entschärfen kann. Und die beiden Dämonen müssen ebenfalls mit. Sie dürfen auf keinen Fall in Gefangenschaft geraten. Dann wäre Hybras verloren.«

»Das kann ich nicht zulassen«, protestierte Butler. »Ich habe eine Verantwortung gegenüber Ihren Eltern.«

Doch Artemis blieb unerbittlich. »Ich gebe Ihnen eine neue Verantwortung«, sagte er. »Passen Sie auf Minerva auf. Sorgen Sie für ihre Sicherheit, bis wir alle wieder zusammenkommen.«

»Holly könnte doch aufs Meer hinausfliegen und die Bombe dort abwerfen«, wandte Butler ein. »Zur Not können wir immer noch einen Rettungstrupp losschicken.«

»Dann ist es zu spät. Wenn wir die Dämonen nicht von hier wegbringen, werden die Augen der ganzen Welt auf Taipeh ruhen. Außerdem wimmelt das Meer hier von Fischerbooten. Ich werde nicht zulassen, dass Menschen oder Unterirdische sterben, solange ich es verhindern kann.«

Butler ließ nicht locker. »Hören Sie sich nur mal an. Sie klingen ja wie ein... wie einer von den Guten! Für Sie ist bei alldem doch nichts zu holen.«

Artemis stand jetzt nicht der Sinn nach philosophischen Erwägungen. »Wie H. P. Woodman schon sagte, alter Freund: Die Zeit bleibt nicht stehn, und so müssen wir gehn. Holly, schnallen Sie uns an Ihren Gürtel, alle außer Butler und Minerva.«

Holly nickte, noch immer etwas angeschlagen. Sie zog mehrere Enterhaken aus dem Gürtel und wünschte, Foaly hätte ihr einen seiner Moonbelts mitgegeben, die alles, was daran befestigt war, auf ein Fünftel des ursprünglichen Gewichts reduzierten. »Unter den Armen hindurch«, wies sie Nr. 1 an. »Und dann wieder an der Schlaufe einhaken.«

Butler half Artemis mit seinem Seil. »Jetzt reicht's, Artemis. Ich habe endgültig die Nase voll. Wenn wir nach Hause kommen, trete ich in den Ruhestand. Ich bin älter, als ich aussehe, und ich fühle mich älter, als ich bin. Schluss mit Ihren ›Projekten‹. Verstanden?«

Artemis zwang sich zu einem Lächeln. »Ich fliege doch nur bis zum nächsten Gebäude. Wenn ich es nicht schaffe, die Bombe zu entschärfen, kann Holly damit aufs Meer rausfliegen und versuchen, eine sichere Abwurfstelle zu finden.«

Beide wussten, dass Artemis log. Wenn es ihm nicht gelang, die Bombe zu entschärfen, war keine Zeit mehr, einen sicheren Abwurfort zu suchen.

»Hier«, sagte Butler und reichte ihm eine flache Ledertasche. »Die Dietriche. So kommen Sie wenigstens an den Mechanismus heran.«

»Danke, alter Freund.«

Holly war beladen bis unters Kinn. Nr. 1 und Qwan hingen ihr an der Taille, während Artemis an ihre Vorderseite geschnallt war.

»Okay. Sind alle startklar?«

»Ich wünschte, meine Magie käme endlich in Gang«, grummelte Qwan. »Dann würde ich mich wieder in eine Statue zurückverwandeln.«

»Ich habe Angst«, sagte Nr. 1. »Schiss. Muffe. Fracksausen.«

»Umgangssprachliche Ausdrücke«, sagte Artemis. »Sehr gut.«

Butler schloss den Koffer. »Bis zum nächsten Gebäude. Weiter brauchen Sie nicht zu fliegen. Nehmen Sie die Schalttafel ab und kümmern Sie sich direkt um den Sprengsatz. Wenn's nicht anders geht, reißen Sie den Zünder raus.«

»Verstanden.«

»Gut. Ich sage nicht Lebwohl, nur alles Gute. Wir sehen uns, sobald ich uns hier rausmanövriert habe.«

»Also in einer halben Stunde. Spätestens.«

Bis zu diesem Moment hatte Minerva mit betretener Miene danebengestanden. Jetzt trat sie vor. »Es tut mir leid, Artemis. Ich hätte nicht in Mister Kongs Nähe gehen dürfen.«

Butler hob sie einfach hoch. »Nein, hättest du nicht, aber dafür ist es jetzt zu spät. Stell dich bitte neben die Tür und schau unschuldig drein.«

»Aber ich -«

»Unschuldig! Sofort!«

Minerva gehorchte. Ausnahmsweise sah sie ein, dass jetzt nicht der richtige Moment für Diskussionen war.

»Alles klar, Holly«, sagte Artemis. »Heben Sie ab.«

»Testlauf«, sagte Holly und aktivierte die Flügel. Anfangs hatte sie arg mit dem zusätzlichen Gewicht zu kämpfen, und der Motor klang auch nicht gerade vertrauenerweckend, aber nach einigen Sekunden siegte die Ausrüstung über die Schwerkraft und hob alle vier in die Luft.

»Okay«, sagte Holly. »Ich glaube, wir können.«

Butler bugsierte das fliegende Grüppchen auf ein Fenster zu. Das Ganze war so riskant, dass er gar nicht darüber nachdenken durfte. Aber Zaudern half jetzt nicht weiter. Es ging um Leben und Tod.

Mit einem Ruck löste er den Sicherungshebel des Fensters. Die ganze zwei Meter breite Scheibe schwang auf, und der Höhenwind fegte heulend in den Raum. Schlagartig waren sie den Elementen ausgesetzt. Der Lärm war ohrenbetäubend, und es war kaum noch etwas zu erkennen.

Holly stemmte sich gegen den Wind und flog mit ihrer Last nach draußen. Sie wären sofort davongerissen worden, hätte Butler sie nicht noch einen Moment festgehalten.

»Fliegen Sie mit dem Wind«, rief er Holly zu und ließ los. »Und gehen Sie langsam runter.«

Holly nickte. Ihr Flügelmotor geriet ins Stottern, und sie sackten zwei Meter ab.

Artemis wurde flau im Magen. »Butler!« Gegen den Wind klang seine Stimme dünn und kindlich.

»Ja, Artemis? Was ist?«

»Falls etwas schiefgeht, warten Sie auf mich. Egal, wie es aussieht, ich komme wieder. Ich bringe sie alle zurück.«

Butler wäre fast hinter ihm hergesprungen. »Was haben Sie vor, Artemis?«

Artemis rief etwas zurück, doch der Wind riss die Worte mit, und der Leibwächter stand hilflos da, umrahmt von Stahl und Glas, und sah ihnen nach.

 
* * *
 

Sie verloren an Höhe. Und zwar schneller, als Holly lieb war.

Die Flügel schaffen es nicht, dachte sie. Nicht mit dem Gewicht und bei dem Wind. Wir stürzen ab.

Sie klopfte mit dem Finger an Artemis' Kopf. »Artemis!«, rief sie.

»Ich weiß«, rief der irische Junge zurück. »Zu viel Gewicht.«

Wenn sie jetzt abstürzten, würde die Bombe mitten in Taipeh explodieren, und das durfte auf keinen Fall geschehen. Es gab nur eine Lösung. Diese Variante hatte Artemis Butler gegenüber nicht einmal erwähnt, da er wusste, dass der Leibwächter sie nicht akzeptiert hätte, ganz gleich, wie gut seine Argumente auch waren. Noch bevor Artemis seinen Plan B in Gang setzen konnte, begannen Hollys Flügel zu stottern. Sie zuckten noch ein paarmal, dann gaben sie den Geist auf. Die vier stürzten kopfüber in freiem Fall Richtung Boden, gefährlich nah an der Wand des Wolkenkratzers entlang.

Der Wind biss Artemis in die Augen, Arme und Beine wurden bis an die Grenze ihrer Dehnbarkeit nach hinten gedrückt, und seine Wangen blähten sich auf geradezu groteske Weise, obwohl nichts Komisches daran war, Hunderte von Metern tief in den sicheren Tod zu stürzen.

Nein!, protestierte Artemis' eiserner Kern. Das darf nicht das Ende sein. Das lasse ich nicht zu.

Mit einer grimmigen Entschlossenheit, die von Butler auf ihn abgefärbt haben musste, versuchte er, Nr. 1 am Arm zu packen. Das gesuchte Objekt war direkt vor ihm, praktisch vor seiner Nase, und dennoch schien es unmöglich, es zu fassen zu bekommen.

Unmöglich oder nicht, ich muss es schaffen.

Es war, als stemme er sich gegen die Haut eines riesigen Ballons.

Der Boden kam immer näher, und kleinere Wolkenkratzer stachen wie Speere in die Luft. Artemis drückte mit aller Kraft.

Endlich schlossen sich seine Finger um das Silberarmband von Nr. 1.

Lebwohl, Welt, dachte er. So oder so.

Er riss das Armband ab und schleuderte es in die Luft. Nun waren die Dämonen nicht mehr in dieser Dimension verankert. Eine Sekunde lang schien sich gar nichts zu tun, doch dann, als sie gerade zwischen den ersten der niedrigeren Wolkenkratzern eintauchten, öffnete sich ein purpurrotes, kreisendes Trapezoid und verschluckte sie wie ein Kind ein in die Luft geworfenes Smartie.

 
* * *
 

Wie vor den Kopf geschlagen wandte Butler sich vom Fenster ab und versuchte zu begreifen, was er gesehen hatte. Hollys Flügel hatten versagt, so viel war klar, aber dann? Was war dann geschehen?

Plötzlich dämmerte es ihm. Artemis musste einen Ersatzplan gehabt haben, den hatte er immer. Der Junge ging nicht mal zum Klo, ohne einen Plan B zu haben. Also lebten sie noch. Zumindest standen die Chancen dafür nicht schlecht. Sie waren nur in die Dimension der Dämonen verschwunden. Das würde er sich so oft sagen müssen, bis er es glaubte.

Butler bemerkte, dass Minerva weinte.

»Sie sind alle tot, nicht? Und ich bin schuld.«

Butler legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es wäre tatsächlich deine Schuld, wenn sie tot wären, aber sie sind nicht tot - Artemis hat alles unter Kontrolle. Und jetzt Kopf hoch, wir müssen uns hier rausschwindeln, Tochter.«

Minerva sah ihn verdutzt an. »Tochter?«

Butler zwinkerte, obwohl ihm alles andere als heiter zumute war. »Ganz recht, Tochter.«

Sekunden später drängte ein Trupp der taiwanesischen Polizei durch die Tür und überschwemmte den Raum mit blaugrauen Uniformen. Die Läufe von einem Dutzend Dienstwaffen richteten sich auf Butler. Die meisten dieser Läufe zitterten leicht.

»Nein, ihr Dussel!« Mr. Lin drängte sich aufgebracht zwischen den Polizisten hindurch und schlug gegen ihre Waffenarme. »Doch nicht der. Der ist ein guter Freund von mir. Die anderen da, die auf dem Boden liegen. Sie sind hier eingebrochen und haben mich niedergeschlagen. Es ist geradezu ein Wunder, dass mein Freund und seine...«

»Tochter«, half Butler nach.

»... und seine Tochter nicht verletzt sind.«

Dann bemerkte der Kurator die zerstörte Skulptur und tat, als fiele er in Ohnmacht. Als niemand herbeieilte, um ihm zu helfen, stand er wieder auf, verkroch sich in eine Ecke und begann leise vor sich hin zu heulen.

Ein Inspektor, der seine Waffe wie ein Cowboy am Gürtel trug, stiefelte auf Butler zu. »Waren Sie das?«

»Nein. Wir hatten uns hinter einer Kiste versteckt. Sie haben die Skulptur in die Luft gejagt, und dann fingen sie an zu streiten.«

»Haben Sie eine Ahnung, warum diese Männer die Skulptur zerstört haben?«

Butler zuckte die Achseln. »Ich vermute, es sind Anarchisten. Wer weiß schon, was in diesen Leuten vor sich geht.«

»Sie haben keinen Ausweis bei sich«, sagte der Inspektor. »Nicht einer von ihnen. Das finde ich ein wenig seltsam.«

Butler lächelte bitter. Nach allem, was Billy Kong getan hatte, würde er lediglich wegen Beschädigung fremden Eigentums belangt werden. Natürlich könnte er die Entführung erwähnen, aber das würde nur dazu führen, dass man sie wochen-, wenn nicht sogar monatelang bis zum Abschluss der Vernehmungen in Taiwan festhielt. Und Butler war nicht allzu versessen darauf, dass jemand seine Vergangenheit - oder die Sammlung gefälschter Pässe in seiner Jackentasche - genauer unter die Lupe nahm.

Dann fiel ihm etwas ein. Etwas über Kong, das er bei dem Frühstück in Nizza mitbekommen hatte.

Kong hat einen Komplizen mit dem Küchenmesser erstochen, hatte Foaly gesagt. In Taiwan läuft noch immer eine Fahndung auf den Namen Jonah Lee.

Kong wurde also hier wegen Mordes gesucht, und bei Mord gab es in diesem Land keine Verjährung.

»Ich habe gehört, wie sie mit dem hier gesprochen haben«, sagte Butler und deutete auf den bewusstlosen Billy Kong. »Sie nannten ihn Mister Lee, oder Jonah. Er war der Boss.«

Das schien den Inspektor zu interessieren. »Tatsächlich? Haben Sie sonst noch etwas gehört? Manchmal kann das kleinste Detail von Bedeutung sein.«

Butler zog die Stirn kraus und überlegte. »Einer von ihnen hat etwas gesagt, aber ich verstehe nicht, was es bedeuten soll...«

»Nur zu«, drängte der Inspektor.

»Er sagte... Moment, wie war das noch? Er sagte: Du bist gar keine so große Nummer, Jonah. Du hast schon seit Jahren keine Kerbe mehr in deinen Lauf geritzt. Was soll das heißen, eine Kerbe in den Lauf ritzen?«

Der Inspektor zog ein Handy aus der Jackentasche. »Das bedeutet, dass dieser Mann vielleicht einen Mord begangen hat.« Er drückte auf eine Kurzwahltaste. »Zentrale? Hier Chan. Überprüfen Sie doch bitte mal, was wir zu dem Namen Jonah Lee haben. Könnte ein paar Jahre zurückliegen.« Er klappte das Handy zu. »Danke, Mister...?«

»Arnott«, sagte Butler. »Franklin Arnott, New York City.« Den Pass auf den Namen Arnott benutzte er schon seit Jahren. Er sah überzeugend abgewetzt aus.

»Danke, Mister Arnott, Sie haben möglicherweise gerade einen Mörder dingfest gemacht.«

Butler blinzelte. »Einen Mörder! Wow. Hast du das gehört, Eloise? Daddy hat einen Mörder dingfest gemacht.«

»Toll, Daddy«, sagte Eloise, doch aus unerfindlichen Gründen klang ihre Begeisterung über Daddys Großtat nicht recht überzeugend.

Der Inspektor wandte sich ab, um mit der Untersuchung fortzufahren, hielt jedoch erneut inne. »Der Kurator hat gesagt, es wäre noch jemand dabei gewesen. Ein Junge? Ein Freund von Ihnen?«

»Ja und nein. Er ist mein Sohn, Arty.«

»Ich sehe ihn nirgends.«

»Er ist nur mal eben rausgegangen, aber er kommt wieder.«

»Sind Sie sicher?«

Butlers Blick richtete sich in die Ferne. »Ja, ich bin sicher. Er hat es mir gesagt.«