Kapitel 9
Explosive Mischung
Château Paradizo.
Als Holly Short die Tür ihrer improvisierten Kellerzelle öffnete, hüpfte der Helm vor ihr auf der Stelle, und vom Visier grinste ihr ein dreidimensionales Bild von Foalys Gesicht entgegen.
»Das ist echt gruselig«, sagte sie. »Kannst du mir nicht einfach eine Textnachricht schicken?«
Foaly hatte ein 3-D-Hilfe-Icon auf Hollys Helmcomputer installiert, und es überraschte Holly nicht im Geringsten, dass er dem Icon die eigenen Züge gegeben hatte.
»Ich habe abgenommen, seit dieses Modell gebaut wurde«, sagte Foalys Bild nun. »Ich jogge nämlich. Jeden Abend.«
»Konzentrier dich«, befahl Holly.
Sie beugte sich ein wenig vor, und Foaly ließ den Helm auf ihren Kopf springen.
Holly schloss das Visier. »Wo ist der Dämon?«
»Eine Etage höher. Zweite Tür links«, antwortete Foaly.
»Gut. Hast du uns aus dem Überwachungssystem gelöscht?«
»Natürlich. Der Dämon ist unsichtbar, und dich können sie auch nicht aufspüren, ganz gleich, was für eine Linse sie benutzen.«
Holly sprang die auf Menschen zugeschnittenen Stufen hinauf. Fliegen wäre einfacher gewesen, aber sie hatte ihre Flügel und den Armbandcomputer draußen gelassen. Ihr war das Risiko zu groß, dass sie in die falschen Menschenhände gerieten, also in andere als die von Artemis. Und selbst dem traute sie nie ganz über den Weg.
Sie lief durch den Flur, an der ersten Tür zur Linken vorbei, und schlüpfte vorsichtig durch die zweite, die offen stand und ihr einen Überblick über den Raum ermöglichte.
Der Dämon saß gefesselt auf einem Stuhl, und das Mädchen telefonierte, den Rücken zu ihm gekehrt. An der einen Wand hing ein großer Tarnspiegel. Dank ihres Thermoscans konnte Holly sehen, dass in dem Raum dahinter jemand saß - ein großer Mann. Offenbar sprach er gerade in sein Handy. Auch er hatte den Blick von der Zelle abgewandt.
»Soll ich ihr eine Ladung verpassen?«, fragte Foaly. »Immerhin hat sie dich mit Schlafgas betäubt.« Sein neues Spielzeug machte ihm Spaß. Das reinste Killerspiel.
»Ich war gar nicht betäubt«, sagte Holly, dank des Helms für jeden außer Foaly unhörbar. »Ich habe die Luft angehalten. Artemis hatte mir gesagt, dass sie Gas verwenden würde, und ich habe sofort die Lüftung eingeschaltet.«
»Was ist mit dem Menschenmann nebenan?«, bohrte Foaly nach. »Ich kann durch das Glas einen Laserstrahl jagen. Echt praktisch, dieser Helm.«
»Halt die Klappe, oder du kriegst Ärger mit mir, wenn ich zurückkomme«, warnte Holly ihn. »Wir schießen nur im Notfall.«
Holly schlich um Minerva herum, sorgsam darauf bedacht, das Mädchen nicht zu berühren oder auf eine knarzende Diele zu treten. Eine falsche Bewegung konnte ihre gesamten Pläne ruinieren. Sie kniete sich vor den kleinen Dämon, den seine missliche Lage nicht allzu sehr zu beunruhigen schien. Im Augenblick war er damit beschäftigt, eine Liste von Wörtern durchzugehen, was ihn sehr zu erheitern schien.
»Füllhorn, oh, das ist gut«, sagte er. Und dann: »Hygiene. Klingt wie Hyäne. Hihi.«
Na toll, dachte Holly. Offenbar hat der Kleine auf seiner Reise ein paar Gehirnzellen eingebüßt. Mithilfe ihrer Stimmsteuerung tippte sie einen Text auf ihr Visier.
»Nicke, wenn du das lesen kannst«, lautete der Text. Für den Dämon sah es so aus, als schwebten die Worte in der Luft.
»Nicke, wenn du das...«, las er, dann brach er ab und nickte heftig.
»Schon gut, hör auf!«, sendete Holly. »Ich bin eine Elfe. Gehöre zur ersten Familie der Unterirdischen. Ich bin hier, um dich zu retten. Verstehst du?«
Keine Antwort, also textete Holly: »Nicke einmal, wenn du verstanden hast.«
Ein einzelnes Nicken.
»Gut. Bleib einfach ganz still, um alles andere kümmere ich mich.«
Wieder ein Nicken. Der kleine Dämon lernte schnell.
Foaly hatte sein Konterfei mittlerweile auf die Innenseite von Hollys Visier verschoben.
»Fertig?«, fragte der Zentaur.
»Ja. Behalte den Oberirdischen nebenan im Auge. Falls er sich umdreht, kannst du ihm eine Ladung verpassen.«
Holly griff in ihren rechten Ärmel und tastete mit den Fingern nach der Innentasche. Das ist nicht so einfach, wie es klingt, denn wenn eine Elfe ihren Sichtschild aktiviert hat, vibriert sie mit einer Geschwindigkeit, die schneller ist, als das menschliche Auge wahrnehmen kann. Immerhin erleichterte ihr der Spezialanzug das Manöver, indem er einen Teil der Vibration absorbierte. Holly zog ein großes Stück von der Tarnfolie heraus, die automatisch ein ziemlich genaues Abbild des jeweiligen Hintergrundes projizierte. Die Tarnfolie bestand aus zahllosen winzigen Elfendiamanten, deren Facetten das Licht in jedem beliebigen Winkel reflektieren konnten.
Sie stellte sich dicht vor Nr. 1 und hielt die Tarnfolie hoch. Dank der mit Multisensoren ausgestatteten Oberfläche konnte Foaly nun mit einem Mausklick Nr. 1 aus der Projektion löschen. Für Minerva würde es so aussehen, als ob ihr Dämon sich einfach in Luft aufgelöst hatte. Für Nr. 1 hingegen würde es so aussehen, als ob absolut gar nichts passierte - die langweiligste Rettung aller Zeiten.
Sekunden später fuhr Minerva zu ihnen herum.
Nr. 1 nickte freundlich und stellte überrascht fest, dass sie ihn offenbar nicht sehen konnte.
»Wo ist er, Artemis?«, kreischte das Menschenmädchen ins Telefon. »Wo ist mein Dämon?«
Nr. 1 überlegte, ob er sagen sollte: Ich bin hier!, entschloss sich jedoch dagegen.
»Du hast mich reingelegt!«, fauchte Minerva. »Du wolltest, dass ich deinen Dämon fange!«
Endlich ist der Groschen gefallen, dachte Holly. Jetzt sei ein braves Mädchen und durchsuch das ganze Haus.
Gehorsam rannte Minerva aus dem Zimmer und rief nach ihrem Vater. Im Nebenraum klappte Papa Paradizo sein Handy zu, als er die Schreie seiner Tochter hörte, und machte Anstalten, sich umzudrehen...
Foaly aktivierte den Helmlaser und verpasste ihm eine Ladung. Gaspard Paradizo fiel zu Boden und blieb reglos liegen. Nur seine Brust hob und senkte sich im langsamen Rhythmus eines Bewusstlosen.
»Genial«, jubelte der Zentaur. »Hast du das gesehen? Nicht mal ein Fleck auf dem Glas.«
»Er wollte zur Tür!«, wandte Holly ein und ließ die Tarnfolie sinken.
»Er ging auf den Spiegel zu. Ich musste ihn ruhigstellen.«
»Darüber reden wir noch, Foaly. Mir gefällt deine neue Kampflust nicht.«
»Caballine mag es, wenn ich der Hengst im Haus bin.«
»Wer? Ach, hör auf mit dem Gequatsche!«, zischte Holly und schmolz die Fesseln von Nr. 1 mit zwei kurzen Laserladungen.
»Frei!«, rief der Knirps und sprang auf. »Ungebunden. Entfesselt. Auf freiem Fuß.«
Holly schaltete den Sichtschild aus und zeigte sich Nr. 1.
»Ich hoffe, das ist ein Helm«, sagte Nr. 1.
Holly drückte auf einen Knopf, und ihr Visier glitt nach oben. »Ja. Ich bin eine Unterirdische, genau wie du. Nur aus einer anderen Familie.«
»Eine Elfe!«, rief Nr. 1 begeistert aus. »Eine echte Elfe. Ich habe gehört, ihr kocht euer Essen und mögt Musik. Stimmt das?«
»Ab und zu, wenn wir nicht gerade auf der Flucht vor mordlustigen Menschenwesen sind.«
»Aber die sind doch gar nicht mordlustig, kriegslüstern, blutgierig oder auch nur streitsüchtig.«
»Vielleicht nicht die, mit der du zu tun hattest. Aber im Keller ist ein Mann mit komischen Haaren, und du kannst mir glauben, wenn der aufwacht, ist er mordlustig und alles andere auch, was du aufgezählt hast.«
Nr. 1 erinnerte sich nur zu gut an Billy Kong und verspürte keinerlei Drang, ihn wiederzusehen. »Wie du meinst, Elfe. Wie geht's jetzt weiter?«
»Nenn mich ruhig Holly.«
»Ich bin Nummer Eins. Also, wie geht's weiter, Holly?«
»Wir fliehen. Draußen warten Freunde auf uns... äh... Nummer Eins.«
»Freunde?« Nr. 1 kannte das Wort natürlich, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, dass es auf ihn zutreffen könnte. Allein der Gedanke war tröstlich, selbst in dieser schwierigen Lage. »Was soll ich tun?«
Holly wickelte die Tarnfolie um ihn wie ein Cape. »Behalte das an. Damit können die anderen dich nicht sehen.«
»Wahnsinn«, sagte Nr. 1. »Ein Unsichtbarkeitsmantel.«
»Unsichtbarkeitsmantel?«, stöhnte Foaly in Hollys Ohr. »Das ist ein hochsensibles Einsatzgerät. Was denkt der sich eigentlich? Dass irgendein Zauberer es aus seinem Ärmel gezogen hat?«
Holly ignorierte den Zentauren. Das wurde allmählich zu einer Gewohnheit. »Mit der einen Hand hältst du die Folie fest, Nummer Eins, und mit der anderen hängst du dich an meinen Gürtel. Wir müssen so schnell wie möglich hier raus. Meine Magie reicht nur noch für ein paar Minuten Sichtschild. Bist du bereit?«
Nr. 1 lugte ängstlich aus seiner unsichtbaren Hülle. »Folie festhalten. An den Gürtel hängen. Verstanden.«
»Gut. Foaly, gib uns Deckung. Wir machen uns auf den Weg.«
Holly aktivierte den Sichtschild wieder und lief aus dem Raum, Nr. 1 im Schlepptau. Der Flur war mit üppigen Topfpflanzen und leuchtend bunten Ölgemälden dekoriert, darunter auch ein Matisse. Aus den Nachbarzimmern drangen aufgebrachte Menschenstimmen an Hollys Ohr. Überall um sie herum herrschte hektische Aktivität, und es konnte nur noch Sekunden dauern, bis Oberirdische auf den Flur gestürzt kamen.
Nr. 1 hatte Mühe, Schritt zu halten. Mit seinen kurzen Beinen stolperte er hinter der durchtrainierten Elfe her. Es sah nicht so aus, als ob ihnen die Flucht gelingen würde. Von allen Seiten näherte sich das Getrappel von Menschenfüßen. In einem Moment der Unaufmerksamkeit verfing Nr. 1 sich mit dem Zeh in der Tarnfolie und trat darauf. Knisternd gab die Elektronik ihren Geist auf. Der Dämon war sichtbar wie ein Blutfleck im Schnee.
»Die Folie ist ausgefallen«, sagte Foaly.
Holly ballte die Fäuste. Sie vermisste ihre Neutrino. »Okay. Dann können wir jetzt nur noch Gas geben. Foaly, du hast freie Bahn.«
»Endlich«, wieherte der Zentaur. »Ich habe einen Joystick in meine Schaltkonsole eingebaut. Etwas unorthodox, aber äußerst zielgenau. Die Feinde nähern sich von allen Seiten. Am besten nehmt ihr den direkten Weg: bis zum Ende des Flurs und durchs Fenster, genau wie euer Freund Doodah. Butler gibt euch Deckung, sobald ihr im Freien seid.«
»Verstanden. Halt dich fest, Nummer Eins, und lass auf keinen Fall los, egal, was passiert.«
Die erste Gefahr näherte sich von vorne. Zwei Wachmänner bogen um die Ecke, die Waffe im Anschlag.
Ehemalige Polizisten, schlussfolgerte Holly. Sie decken die Diagonalen ab.
Schockiert starrten die Männer Nr. 1 an. Offensichtlich gehörten sie nicht zum Kreis der Eingeweihten.
»Was zum Teufel ist das?«, sagte der eine entgeistert.
Der andere bewahrte die Fassung. »Stehen bleiben!«
Foaly verpasste ihnen zwei kräftige Laserladungen. Die Energie durchdrang mühelos ihre Kleider, und sie sackten zusammen.
»Bewusstlos«, keuchte Nr. 1. »Komatös, kataleptisch, k. o.« Ihm fiel auf, wie gut das Vokabelaufzählen gegen Stress war. »Stress. Druck, Anspannung und Angst.«
Holly schleifte Nr. 1 weiter, auf das noch immer offene Fenster zu. Aus den angrenzenden Fluren stürzten weitere Wachmänner, und Foaly schaltete sie treffsicher aus.
»Im Computerspiel würde ich Bonuspunkte kriegen«, sagte er. »Oder zumindest ein Extra-Leben.«
Im Wohnzimmer waren zwei weitere Wachleute, die sich gerade heimlich einen Espresso gönnten. Foaly schoss sie aus den Pantinen und legte gleich noch einen Flächenstrahl nach. Der Kaffee verdunstete, bevor er auf dem Teppich landete.
»Der Läufer ist aus Tunesien«, erklärte er. »Und Kaffee geht ganz schlecht raus. Jetzt können sie das Pulver einfach absaugen.«
Holly lief in den tiefer liegenden Raum. »Manchmal habe ich das Gefühl, dir fehlt der nötige Ernst für Feldeinsätze«, sagte sie und bog um das massige Sofa.
Nr. 1 stolperte hinter seiner Retterin her, die viel zu großen Stufen hinunter. Trotz all der neuen Wörter wusste der Knirps nicht so recht, was er fühlte.
Angst natürlich. Riesige Menschenwesen mit Feuerwaffen und so weiter. Und Anspannung. Von einer Art Superelfe gerettet zu werden, die obendrein noch unsichtbar war. Die Schmerzen im Bein nicht zu vergessen. Der Menschenmann mit den bunten Haaren hatte auf ihn geschossen, zweifellos mit irgendetwas aus Silber. Doch Nr. 1 fiel auf, dass ein Gefühl in dem ganzen Durcheinander fehlte. Eins, das immer sehr stark gewesen war, solange er denken konnte: Unsicherheit. Trotz des chaotischen Treibens um ihn herum fühlte er sich auf diesem Planeten mehr zu Hause als jemals auf Hybras.
Eine Kugel sirrte an seinem Kopf vorbei.
Obwohl, so übel war es auf Hybras auch wieder nicht.
»Foaly, wach auf!«, rief Holly. »Du sollst uns Deckung geben.«
»'tschuldigung!« Foaly schwenkte den Laser und feuerte Richtung Tür. Die Frau mit der Pistole lächelte breit, dann kippte sie um. Als sie auf dem Boden lag, begann sie ein Kinderlied über Mond und Sterne zu singen.
»Seltsam«, sagte Foaly. »Die Wachfrau singt.«
»Kommt öfter vor«, ächzte Holly, während sie auf die Fensterbank kletterte. »Der Laser schaltet bestimmte Funktionen aus, aber manchmal aktiviert er auch andere.«
Interessant, dachte der Zentaur. Ein Glückslaser. Das sollte ich mir bei Gelegenheit mal näher ansehen.
Holly packte Nr. 1 am Handgelenk und zog ihn zu sich hoch. Bestürzt stellte sie fest, dass ihre Arme nicht so unsichtbar waren, wie sie gedacht hatte. Ihre Magie ließ nach. Der Sichtschild verbrauchte eine unglaubliche Energie. Bald würde sie wieder ins sichtbare Spektrum zurückkehren müssen, ob sie in Sicherheit waren oder nicht.
»Gleich haben wir es geschafft«, sagte sie.
»Nur noch über die weite, ungeschützte Wiese, stimmt's?«, entgegnete Nr. 1 mit einem überraschenden Anflug von Sarkasmus.
»Der Junge gefällt mir«, kicherte Foaly.
Sie sprangen hinunter auf den Rasen. Inzwischen herrschte die höchste Alarmstufe, und Wachmänner ergossen sich förmlich aus den diversen Türen wie die Styroporkugeln aus einem zerrissenen Knautschsessel.
»Gib alles, Foaly«, sagte Holly. »Und nimm dir auch die Autos vor.«
»Jawoll, Captain«, erwiderte Foaly und legte los.
Holly rannte, was ihre Beine hergaben, und zerrte den Knirps hinter sich her. Sie konnte jetzt keine Rücksicht auf seine körperliche Konstitution nehmen - wenn er das Tempo nicht durchhielt, musste sie ihn eben mitschleifen. Der Laserstift in ihrem Helm feuerte eine Ladung nach der anderen ab, wobei er einen weiten Bogen abdeckte und dabei hin und her schwenkte. Holly spürte die Hitze der Waffe an ihrer Schädeldecke und nahm sich vor, Foaly auf das angeblich revolutionäre Kühlsystem des Helms anzusprechen, falls sie lebend hier rauskamen.
Der Zentaur war nun offenbar zu beschäftigt, um zu plaudern. Holly hörte nur sein Schnauben und Wiehern, während er sich auf seine Aufgabe konzentrierte. Auf Zielgenauigkeit legte Foaly jetzt keinen Wert mehr, es gab zu viel, worauf er schießen musste. Er feuerte Salven konzentrierter Energie aus dem Helm, die gleich mehrere Wachen auf einmal ausschalteten. Nach einer halben Stunde würden die Männer wieder unversehrt zu sich kommen. Allerdings gab es manchmal Nebenwirkungen - Kopfschmerzen, Haarausfall, Gereiztheit, Kontrollverlust des Schließmuskels und dergleichen -, die ein paar Tage anhalten konnten. Als Nächstes nahm Foaly sich die Geländewagen vor und jagte ein paar Ladungen in die Tanks. Die BMWs explodierten der Reihe nach und flogen in spektakulären, flammenden Saltos durch die Luft. Die Druckwelle der Explosionen erfasste auch Holly und Nr. 1, und wie von einer riesigen Hand getrieben, beschleunigte sich ihre Flucht. Holly war durch ihren Helm vor dem Krach geschützt, aber Nr. 1 würde der Schädel noch eine ganze Weile dröhnen.
Dicke, schwarze Rauchwolken stiegen von den zerstörten Motoren auf und waberten über den gepflegten Rasen, effektiver als jede Rauchbombe. Holly und Nr. 1 stürmten unmittelbar vor der Rauchwand auf das Haupttor zu.
»Das Tor«, keuchte Holly in ihr Helmmikro.
»Schon gesehen«, sagte Foaly und schmolz das gusseiserne Gitter aus den Angeln. Mit einem dröhnenden Bong schlug es auf dem Asphalt auf.
Vor der Einfahrt hielt ein Van mit quietschenden Reifen.
Die Seitentür glitt auf, Artemis beugte sich hinaus und hielt Nr. 1 die Hand hin.
»Komm«, drängte er. »Steig ein.«
»Arrgh!«, sagte Nr. 1. »Ein Menschenwesen!« Da sprang Holly in den Wagen und zog Nr. 1 hinter sich her.
»Keine Angst«, sagte sie und schaltete den Sichtschild ab, um den verbliebenen Rest Magie zu schonen. »Das ist ein Freund.«
Nr. 1 klammerte sich an Hollys Gürtel, bemüht, sich nicht zu übergeben. Ängstlich spähte er nach vorne, wo Butler saß. »Und der da? Ist das etwa auch ein Freund?«
Lächelnd kletterte Holly auf ihren Sitz. »Und ob. Der allerbeste.«
Butler schaltete die Automatik auf D. »Anschnallen, da hinten. Es könnte eine Verfolgungsjagd geben.«
Die Sonne ging unter, während Butler den Wagen geschickt durch die Haarnadelkurven der Route de Vence lenkte. Die Straße war in den Berg gehauen. Auf der einen Seite schmiegten sich Villen an die Felsen, auf der anderen gähnte der Abgrund der Gorges du Loup. Man musste schon einige Erfahrung haben, um die Strecke mit hoher Geschwindigkeit zu fahren, aber Butler hatte mal einen gepanzerten Al Fahd durch einen belebten Kairoer Basar gesteuert, da konnten ihn steile Bergstraßen nicht aus der Ruhe bringen.
Wie sich herausstellte, gab es keine Verfolgungsjagd. Die Wagenflotte der Paradizos war ein einziger brennender, qualmender Schrotthaufen. Es gab nicht einmal mehr einen Tretroller, um die Verfolgung aufzunehmen.
Butler blickte immer wieder in den Rückspiegel und gestattete sich erst ein zufriedenes Lächeln, als sie die Mautstation bei Cagnes-sur-Mer erreichten.
»Wir haben es geschafft«, verkündete er und wechselte auf die linke Spur der Autobahn. »Im ganzen Haus gibt es kein funktionierendes Fahrzeug mehr, einschließlich Bobos Spielzeugauto.«
Artemis grinste, zufrieden über seinen Erfolg. »Vielleicht hätten wir ihnen Mr. Days sagenhaften Mongocharger dalassen sollen.«
Holly bemerkte, dass Nr. 1 begeistert den Sicherheitsgurt betrachtete.
»Du musst dich anschnallen«, sagte sie und schob das Endstück in das Gurtschloss.
»Schnalle«, sagte Nr. 1. »Klammer, Clip, Spange. Warum bist du bei diesen Menschen?«
»Sie wollen dir helfen«, sagte Holly sanft.
Nr. 1 hatte tausend Fragen und wusste auch genau, wie er sie formulieren musste. Doch fürs Erste traten die Worte hinter den Bildern zurück. Mit offenem Mund starrte er durch die getönten Scheiben und sog die Wunder der modernen Autobahn in sich auf.
Holly nutzte die Gelegenheit, um sich auf den neuesten Stand zu bringen. »Haben Mulch und Doodah alles gut überstanden?«
»Ja«, bestätigte Artemis. »Foaly wollte die Kapsel so schnell wie möglich zurückhaben, weil er keine Erlaubnis für den Einsatz hatte. Aber bis Sie beim Shuttlehafen ankommen, dürfte die Abschottung aufgehoben sein. Würde mich nicht wundern, wenn Sie sich einen Orden verdient hätten, Holly. Das war erstklassige Arbeit.«
»Bis auf ein paar lose Fäden.«
»Stimmt. Aber nichts, was ein Erinnerungslöschungsteam der ZUP nicht erledigen könnte. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass dieses Chaos von irgendjemand anderem als Menschen angerichtet wurde.«
Holly lehnte sich zurück. »Da ist noch etwas.«
»Ja, die Dämonen. Der Bann ist dabei, sich aufzulösen. Ihre Insel wird für immer aus der Zeit verschwinden. Vielleicht ist sie es schon und treibt im Zeitmeer umher wie ein führerloses Schiff.«
Bei einem Wort war Nr. 1 hellhörig geworden. »Verschwinden?«
»Hybras ist dem Untergang geweiht«, sagte Artemis rundheraus. »Dein Zuhause wird bald durch den Zeittunnel gesogen, mit allem, was darauf ist. Wenn ich bald sage, meine ich das bezogen auf unser Ende des Zeittunnels. An eurem Ende kann es schon passiert sein, oder vielleicht passiert es auch erst in einer Million Jahren.« Er streckte die Hand aus. »Und übrigens, ich heiße Artemis Fowl.«
Nr. 1 nahm die Hand und nagte am Zeigefinger, wie es bei den Dämonen Brauch war. »Ich bin Nummer Eins. Knirps. Können wir denn gar nichts tun, um Hybras zu retten?«
»Ich fürchte, nein.« Artemis zog seinen Finger zurück und untersuchte ihn auf Bissspuren. »Eine winzige Möglichkeit gibt es: Man müsste versuchen, Hybras unter kontrollierten Bedingungen zur Erde zurückzuholen. Aber das könnten nur die Zauberer, und die sind leider alle tot.«
Nr. 1 kaute auf seiner Unterlippe. »Äh... also, ich bin nicht ganz sicher, aber möglicherweise bin ich ein Zauberer. Ich kann in Zungen sprechen.«
Artemis beugte sich vor, bis der Gurt blockierte. »Das könnte auch einfach eine Begabung sein. Was kannst du sonst noch?«
»Wiederum unter Vorbehalt, aber ich glaube, ich habe einmal Holz in Stein verwandelt.«
»Die Gabe der versteinernden Hand. Das ist in der Tat interessant. Komisch, irgendwie kommst du mir bekannt vor, Nummer Eins. Diese Zeichen...« Artemis runzelte die Stirn, verärgert, weil es ihm einfach nicht einfallen wollte.
»Wir sind uns noch nicht begegnet, daran könnte ich mich auf jeden Fall erinnern. Und dennoch...«
»Die Zeichen sind relativ verbreitet, vor allem die Hex auf der Stirn. Dämonen denken oft, sie kennen mich. Was ist jetzt mit Hybras?«
Artemis nickte. »Natürlich. Das Beste ist, wir bringen dich unter die Erde. In Zauberertheorie bin ich ein Laie, aber Foaly kennt jede Menge Experten, die es kaum erwarten können, dich zu untersuchen. Ich bin sicher, der ZUP wird etwas einfallen, wie deine Insel gerettet werden kann.«
»Wirklich?«
Butler meldete sich vom Fahrersitz und ersparte Artemis damit eine Antwort. »Wir haben ein kleines Problem. Im Château Paradizo«, sagte er und tippte auf den Bildschirm des Kompaktnotebooks, das am Armaturenbrett befestigt war. »Vielleicht sollten Sie mal einen Blick darauf werfen.«
Der Leibwächter reichte den Computer nach hinten. Der Bildschirm war in ein Dutzend Felder unterteilt, die Bilder der Überwachungskameras zeigten, die immer noch über Foalys Videoklemme übertragen wurden.
Artemis balancierte das Notebook auf den Knien, und seine hellen Augen überflogen den Bildschirm. »Oje«, sagte er nachdenklich. »Das ist nicht gut.«
Holly rutschte zu ihm hinüber, damit sie auch etwas sehen konnte. »Ganz und gar nicht gut«, sagte sie.
Nr. 1 ließ sich von dem Computer nicht aus der Ruhe bringen. Für ihn war es nur eine kleine Kiste.
»Nicht gut«, sinnierte er und kramte in dem Wörterbuch in seinem Kopf. »Ein Synonym für schlecht.«
Artemis sah nicht vom Bildschirm auf. »Ganz recht, Nummer Eins. Das hier ist schlecht. Sehr schlecht.«