Wir nähern uns dem Ende – zweieinhalb Meilen des langen, gewundenen Weges sind nunmehr zurückgelegt.

«Als die Leiche am Mittwoch, den dreiundzwanzigsten Juli entdeckt wurde», fuhr Morse fort, nachdem Lewis mit dem Kaffee wieder zurück war, «da hatte sie vermutlich drei Tage im Wasser gelegen. Und das heißt, daß der Mann mit großer Wahrscheinlichkeit am Samstag oder Sonntag umgebracht wurde.»

«Könnte das nicht eventuell schon ein paar Tage früher gewesen sein?» bemerkte Lewis.

«Nein», sagte Morse mit merkwürdiger Bestimmtheit. «Nein, am Freitag abend hat er ja noch ferngesehen.»

Warum Morse nur immer solchen Gefallen daran fand, ihn zu mystifizieren, dachte Lewis. Laut sagte er: «Können Sie mir nicht einfach erzählen, was sich Ihrer Meinung nach in London abgespielt hat?»

«Doch, doch, kann ich», sagte Morse. «Wir wissen, daß Browne-Smith am elften in London eintraf, Westerby am fünfzehnten. Vier Tage später, am neunzehnten, kommt ein dritter Mann. Auch er ist dieser ‹Einladung› gefolgt, der offenbar keiner widerstehen kann. Diesesmal vereinfacht man, wie ich annehme, das Verfahren – man schickt ihn nicht erst zur Flamenco Bar, sondern gleich zu der Adresse, wo ‹Yvonne› auf ihn wartet. Dieser dritte Mann nun, Lewis, wird umgebracht, und zwar von keinem anderen als Browne-Smith. Da, wie anzunehmen ist, beide Gilbert-Brüder zur Zeit des Mordes in der Nähe waren, heißt das, wir haben es mit vier Männern und einer Leiche zu tun. Einer dieser vier, Westerby, bekommt allerdings sehr schnell kalte Füße und bittet darum, aussteigen zu dürfen. Man läßt ihn gehen – er wäre ohnehin nicht viel nütze gewesen. Wie wir wissen, hat Westerby nicht die Traute, nach Oxford zurückzukehren, sondern sucht Zuflucht in dem kleinen Hotel am Bahnhof Paddington, wo er seit seiner Ankunft am Dienstag wohnt. Browne-Smith und die Gilbert-Brüder beraten nun, was mit der Leiche geschehen soll. Sie sind sich einig, daß es – aus Gründen, die ich Ihnen später noch erläutern werde – nicht ratsam wäre, den Toten, so wie er ist, das heißt unversehrt bis auf die Verletzung, die ihm Browne-Smith zugefügt hat, als er ihn tötete, beiseitezuschaffen. Man beschließt, dem Toten den Kopf sowie die Hände abzutrennen. Gegen gute Bezahlung erklärt sich einer der Gilbert-Brüder – ich tippe auf Albert, den unsensibleren der beiden – bereit, die greuliche Aufgabe zu übernehmen und auch dafür zu sorgen, daß die Körperteile, die ja relativ leicht und unauffällig zu transportieren sind, anschließend auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Am Sonntag dann machen sich zwei der drei, nämlich Browne-Smith und Albert Gilbert auf den Weg nach Oxford. Westerby hat ihnen seinen Metro zur Benutzung überlassen, was sich, wie wir noch sehen werden, als überaus zweckmäßig erweist.

Als sie in Oxford ankommen, ist es schon später Abend. Browne-Smith betritt das Lonsdale College durch den Seiteneingang an der High Street, und gelangt unbemerkt in seine Räume. Zweck seiner nicht ungefährlichen Stippvisite ist übrigens einzig und allein, einen seiner Anzüge zu holen – wir wissen, wozu er dienen soll. Übrigens muß er später noch ein zweites Mal, auch diesmal ohne bemerkt zu werden, in seinen Räumen gewesen sein, und zwar nachdem sich herausgestellt hatte, daß Westerby seine Griechenlandfahrt unter den gegebenen Umständen nun doch nicht antreten wollte. Ich gehe nämlich jede Wette mit Ihnen ein, Lewis, daß die Karte, die uns als Urlaubsgruß von Westerby untergejubelt werden sollte, in Wirklichkeit aus der Postkartensammlung von Browne-Smith stammt – übrigens genauso wie die griechische Briefmarke. Und er wird es auch gewesen sein, der einen geeigneten Moment abgepaßt hat, als der Pedell einmal nicht in seiner Loge war, um die Marke mit dem Datumsstempel des Colleges zu entwerten und die Karte dann anschließend in den Stapel frisch angekommener Post zu schmuggeln. Aber das sind nur Nebensächlichkeiten. Das wichtigste Geschäft, um dessentwillen sie die Fahrt überhaupt unternommen haben, ist die Beseitigung der Leiche, und so fahren sie denn, es wird inzwischen beinahe Mitternacht gewesen sein, hinaus nach Thrupp. Ich sagte eben, es sei zweckmäßig gewesen, in Westerbys Auto zu fahren – der Grund ist, daß der Metro allen Nachbarn in dem kleinen Ort bekannt ist und so keinerlei Neugier weckt. Bevor sie jedoch zur Tat schreiten und den Leichnam wie geplant im Kanal versenken können, stellt sich ihnen noch die, milde gesagt, unangenehme Aufgabe, den Toten seiner eigenen Kleider zu entledigen und ihm die von Browne-Smith anzuziehen. Auch diese Aufgabe, denke ich, dürfte Albert Gilbert übernommen haben. Dann, inzwischen ist es so spät, daß der Boat Inn schon geschlossen ist, tragen sie den Toten die kaum hundert Meter den Treidelpfad entlang bis zu der Stelle, wo der Kanal bei Aubrey’s Bridge einen Knick macht. Dieser Ort ist für ihre Absicht besonders geeignet, da er nicht eingesehen werden kann und auch keine Boote dort vertäut liegen. Sie lassen den Körper ins Wasser gleiten, und damit ist die Sache erledigt – zunächst jedenfalls. Ich nehme an, daß sie noch in derselben Nacht zurückgefahren sind nach London. Es dürfte bereits Morgen gewesen sein, als sie dort eintreffen. Ihre Wege trennen sich nun. Albert begibt sich nach Hause zu seiner treulich wartenden Ehefrau, Browne-Smith zurück ins Bahnhofshotel Paddington Station. Soweit alles klar, Lewis, oder haben Sie Fragen?»

«Ja. Doch», sagte Lewis. «Was ich gerne wissen würde – das meiste haben Sie sich doch ausgedacht, oder?»

«Meine Güte, Lewis, manchmal gehen Sie mir mit Ihrer Naivität wirklich auf den Wecker … Natürlich habe ich es mir ausgedacht, was denn sonst! Von den fünf Männern, die in die Sache verwickelt waren, ist schließlich keiner mehr am Leben; es gibt also niemanden, den ich hätte fragen können. Ich habe mir große Mühe gegeben, daß alles, was ich mir, wie Sie so schön sagen, ausgedacht habe, mit den wenigen Fakten, die wir kennen, übereinstimmt. Und außerdem habe ich versucht, bei meiner Rekonstruktion dessen, was vorgefallen ist, den Charakter der einzelnen Männer zu berücksichtigen. Aber wenn Ihnen meine Version nicht gefällt – Lewis, ich bin gerne bereit, mir von Ihnen Ihre eigene Lesart der Ereignisse anzuhören.»

Der gereizte Ton deutete, wie Lewis aus Erfahrung wußte, daraufhin, daß Morse sich seiner Sache alles andere als sicher war, und er bedauerte bereits, die Frage gestellt zu haben. Eines allerdings mußte er unbedingt noch wissen: «Glauben Sie denn wirklich, Sir, daß Browne-Smith der Mann war, einen Mord zu begehen?»

«Er war nicht der Typ des geborenen Killers, wenn es das ist, was Sie meinen. Aber das tiefe Geheimnis dieses Falles ist es ja gerade, daß ein Mann, nämlich Browne-Smith, so viele unerklärliche Dinge getan hat. Ich nehme an, daß sich sein Verhalten in der letzten Zeit zum großen Teil auf seine Erkrankung zurückführen läßt. Ich habe neulich mit dem Direktor der medizinischen Abteilung der Bodleian Library telefoniert und mich von ihm über den Krankheitsverlauf bei Hirntumoren unterrichten lassen. Dabei habe ich erfahren, daß die mögliche Folge eines Tumors eine Persönlichkeitsveränderung ist, und zwar eine Persönlichkeitsveränderung gravierender Art. Wer weiß …» sagte er leise und mehr zu sich selbst, «vielleicht hätte ich ihm doch zuhören sollen, was er mir über Olive Mainwearing erzählen wollte. Vielleicht hätte mich das ein wenig vorbereitet …»

«Olive Mainwearing?»

«Niemand, den Sie kennen», sagte Morse. «Kehren wir zurück zu Browne-Smith. Wie ich schon sagte – ganz sicher hat seine Krankheit Einfluß gehabt auf seine Gefühle und sein Handeln, andererseits ist er wohl schon immer jemand gewesen – Sie brauchen nur an seine langjährige Feindschaft mit Westerby zu denken – der, wenn er seinen Ehrgeiz durchkreuzt glaubt, zu tiefem, unversöhnlichem Haß fähig war. Eines hat mir diese Geschichte jedenfalls wieder gezeigt: Alkohol und Frauen sind noch vergleichsweise harmlose Leidenschaften. Aber das nur nebenbei. Erinnern Sie sich übrigens, Lewis, daß Sie, als wir uns vor einiger Zeit über den Fall unterhalten haben, meinten, die Beine des Toten könnten deshalb abgetrennt worden sein, weil er einen verstümmelten Fuß gehabt habe, mittels dessen man ihn hätte identifizieren können? Als eine Möglichkeit, wie er sich diese Verstümmelung zugezogen haben könnte, war Ihnen eingefallen, daß er beim Schwimmen vor den Bermudas in die Schraube eines Außenbord-Motors geraten sein könnte. Ich weiß, daß diese Bemerkung damals nicht ganz ernstgemeint war, aber sie brachte mich auf eine Idee; und ich ließ noch einmal den Kanal absuchen. Wie sich jetzt herausgestellt hat, muß die Leiche, nachdem man sie, ihres Kopfes und ihrer Hände beraubt, in den Kanal geworfen hat, tatsächlich mit den Beinen in eine Schiffsschraube geraten sein, die dann sozusagen den Rest besorgt hat. Deswegen übrigens war der Schnitt so glatt und sauber. Der Pathologe hatte in seinem Bericht ja sogar vermutet, daß unter Umständen jemand am Werk gewesen sein könnte, der sich beruflich mit solchen Dingen beschäftigt – ein Fleischer oder ein Chirurg etwa. Aber ich bin noch nicht ganz fertig mit Browne-Smith; ich möchte noch etwas zu dem Brief sagen, den er uns – oder besser mir – geschrieben hat. Er hat ihn wahrscheinlich noch Sonntag nacht, gleich als er aus Thrupp zurück war, verfaßt. Aber warum? Schlug ihm plötzlich das Gewissen? Genauso rätselhaft ist, weshalb er, um mir den Brief zu übermitteln, die Bank zwischenschaltete. Wenn er Zeit gewinnen wollte, so hätte er den Brief ja nur entsprechend später einzuwerfen brauchen … Wie auch immer. Der Inhalt des Briefes war jedenfalls sehr aufschlußreich, so als wolle er ungeachtet aller Finten und Tricks, die er sich zwischenzeitlich dann doch wieder ausgedacht hat, letztendlich, daß wir die Wahrheit erfuhren … oder als wolle das jedenfalls ein Teil von ihm.»

«Die Psychologen haben für so ein Verhalten ein Wort, Sir», bemerkte Lewis eifrig. «Sie nennen es ‹Ambivalenz›.»

«Mit dem Psychologenjargon wollen wir erst gar nicht anfangen, Lewis!»

In ihr Schweigen hinein klingelte das Telefon.

«Sehr schön … Gut gemacht!» sagte Morse. «Können Sie sie beschreiben? … Ja. Genau, wie ich gedacht habe … Ja, es gibt angenehmere Aufgaben, da stimme ich Ihnen sofort zu. Sind Sie einverstanden, daß ich Ihnen morgen meinen Sergeant schicke? … Gut. Und vielen Dank, daß Sie mich gleich angerufen haben. Dann kann ich diesen Punkt jetzt auch abhaken.»

«Wer war das, Sir?»

Statt einer Antwort streckte Morse dem Sergeant seinen leeren Plastikbecher entgegen. «Ob Sie uns wohl noch einmal Kaffee holen würden, Lewis?»

Lewis nahm den Becher und trollte sich.