Morse, der den Anblick von Leichen scheut wie die Pest, muß sich notgedrungen überwinden und führt im Anschluß ein zynisches Gespräch mit einem alternden Pathologen.
Etwa drei Kilometer nördlich von Kidlington auf der A 423 nach Banbury führt rechts ab eine schmale Straße nach etwa vierhundert Metern zu einem Gasthaus mit Namen Boat Inn, das zusammen mit ungefähr zwanzig weiteren Häusern, einem Bauernhof sowie einer Außenstelle des Amtes für Wasserwesen die Ortschaft Thrupp bildet. Das Gasthaus liegt nicht mehr als etwa dreißig Meter vom Ufer des Oxford-Kanals entfernt und dient seit Jahrzehnten allen, die auf diesem unterwegs sind, als Rastpunkt. Waren das früher vor allem die Schiffer von den Schleppkähnen, die auf dem Hinweg Kohle aus den Midlands transportierten und auf dem Rückweg Bier aus den Oxforder Brauereien geladen hatten, so sind es heute meist private kleine Motoryachten und Vergnügungsdampfer.
Morse bog, als er das Gasthaus erreicht hatte, zunächst nach rechts, dann nach links und folgte einem kleinen Sträßchen, das sich zwischen dem Kanal und einer Zeile schmaler, grauer Reihenhäuser hindurchwand. Normalerweise war Thrupp ein verschlafener Flecken, doch heute herrschte eine ominöse Geschäftigkeit. Schon von weitem erblickte Morse zwei auf dem Treidelpfad neben der kompakten Klappbrücke geparkte Polizeifahrzeuge, etwas dahinter, dort, wo die kleine Straße in einen grasbewachsenen Weg überging, stand mit rotierendem Blaulicht eine Ambulanz. Hätte Morse in diesem Augenblick geahnt, welcher Anblick ihn erwartete, er wäre wohl auf der Stelle wieder umgekehrt; denn so merkwürdig dies bei einem Mann mit seinem Beruf auch klingen mag, Morse litt neben einer unheilbaren Akro- sowie Arachnophobie unglückseligerweise auch noch unter einer voll ausgebildeten Nekrophobie.
Eine Gruppe von etwa dreißig Menschen, die meisten wohl von den grellbunt angestrichenen Hausbooten, die längs des Kanals vertäut lagen, hielt respektvoll Abstand von der Stelle, wo sich einige Polizisten und zwei Sanitäter um ein leblos unter einer Plane verborgenes Bündel scharten. Morse drängte sich, ausnahmsweise einmal ganz Amtsperson, energisch an ihnen vorbei nach vorn. Lewis, der ihn sofort gesehen hatte, kam ihm ein paar Schritte entgegen.
«Eine üble Sache, Sir.»
«Wissen wir schon, wer er ist?»
«Nein, er hatte keine Papiere bei sich. Die Identifizierung wird bestimmt noch ein Riesenproblem – so wie er aussieht.»
«Was reden Sie denn da für Unsinn! Zu einer Identifizierung reicht es doch immer noch, ganz egal, wie lange sie im Wasser gelegen haben. Zähne, Haare, Finger- und Zehennägel – läßt sich doch alles heranziehen, das müßten Sie doch eigentlich selbst wissen, Lewis.»
«Vielleicht sehen Sie ihn sich erst einmal an, Sir», sagte Lewis.
«Sie sind sowieso immer viel zu pessimistisch», fuhr Morse fort. «Offenbar haben wir ja immerhin schon feststellen können, daß er männlichen Geschlechts ist, und das ist doch auch schon etwas; falls wir die gesamte Bevölkerung durchforsten müssen, reduziert das unsere Mühe um mindestens fünfzig Prozent.»
Lewis ignorierte seinen munteren Ton. «Sie sollten ihn sich jetzt aber doch einmal ansehen», wiederholte er.
Die uniformierten Constables und die beiden Sanitäter traten beiseite, als sie Morse herankommen sahen. Der blieb, als er des unförmigen Umrisses unter der Segeltuchplane gewahr wurde, abrupt stehen und machte keinerlei Anstalten, diese wegzuziehen. Und tatsächlich zögerte er noch mehr als gewöhnlich, sich den Anblick eines toten Körpers zuzumuten. Seine Augenbrauen zogen sich in Vorwegnahme dessen, was er gleich sehen würde, abwehrend zusammen. Was sich da unter der Plane abzeichnete, war viel zu klein für die Leiche eines Erwachsenen. Das mußte ein Kind sein. Warum hatte Lewis ihm das denn nicht gesagt?
Morse wies die Constables und die Sanitäter an, sich so zu postieren, daß der herübergaffenden Menge der Blick versperrt war, dann hob er vorsichtig die Plane an – und ließ sie sofort wieder fallen. Er war aschfahl geworden, und in seinen Augen stand das blanke Entsetzen. «Mein Gott, mein Gott», murmelte er leise und wandte sich schaudernd ab.
Er stand noch immer an derselben Stelle, darum bemüht, seine Fassung wieder zu gewinnen, als ein klappriger alter Ford herangebraust kam und mit quietschenden Bremsen neben der Ambulanz hielt. Ihm entstieg ein buckliger, grämlich wirkender Mann, der so hinfällig aussah, daß man ihm die amtliche Funktion, in der er hergekommen war, kaum Zutrauen mochte – es war der Gerichtsmediziner. Er begrüßte Morse mit einer Stimme, die kaum weniger verdrießlich war als sein Aussehen.
«Dachte, du säßest längst im Gasthaus.»
«Da ist noch geschlossen.»
«Du klingst ja so komisch. Ist irgendwas?»
Morse deutete nur stumm hinter sich. Der Pathologe nickte verständnisvoll, ging schwerfällig neben der Leiche in die Knie und schlug die Plane zurück.
Er pfiff leise durch die Zähne. «Wirklich nicht sehr appetitlich …»
Morse gab durch schwache Laute zu verstehen, daß er genau derselben Ansicht sei, drehte sich jedoch nicht um. Offenbar hatte er vor, den Pathologen machen zu lassen.
Dieser begann mit einer Reihe von Untersuchungen, deren Ergebnisse er in ein schwarzes Notizbuch schrieb. Das meiste von dem, was er festhielt, wäre wohl nur einem anderen Gerichtsmediziner verständlich gewesen. Die ersten, nach bloßem Augenschein eingetragenen Beobachtungen konnte jedoch auch ein Laie verstehen.
Geschlecht: männlich; Alter: zwischen 60 und 65; Hautfarbe: weiß; Rumpf in gutem Ernährungszustand bei leichter Neigung zu Fettansatz; Kopf abgetrennt in Höhe des vierten Halswirbels, fehlt (Schnitt unregelmäßig, ungeübte Hand?); linke und rechte Hand oberhalb des Handgelenks abgetrennt, ebenfalls fehlend; rechtes und linkes Bein durch Schnitte (professionell?) ca. 12cm unterhalb des Hüftgelenks abgetrennt, fehlen; Haut über den Waschfraueneffekt hinaus …
Nach einer Weile erhob der Pathologe sich ächzend aus seiner unbequemen Stellung und trat, die Hände auf den Rücken pressend, das Gesicht schmerzverzerrt, neben Morse.
«Weißt du ein Mittel gegen Lumbago?»
«Ich dachte, du wärst hier der Arzt.»
«Arzt? Ich bin doch bloß ein Leichenschnippler.»
«Was mich wundert: Wie schaffst du es, einen Hexenschuß mitten im Sommer zu kriegen?»
«Mein Hexenschuß ist saisonunabhängig!»
«Ich könnte mir gut vorstellen, daß ein Tropfen Scotch helfen würde.»
«Ich dachte, du hättest gesagt, es sei geschlossen.»
«Schon, aber in einem Notfall … Morse’ Stimme schien zunehmend an Kraft zu gewinnen.
Einer der Sanitäter kam auf sie zu. «Können wir ihn jetzt wegschaffen?»
«Mir nur recht», sagte Morse. Doch der Pathologe war dagegen. «Nein, nein, Sie müssen sich noch ein wenig gedulden; ich möchte noch ein, zwei Dinge mit dem Chief Inspector klären, dann können Sie ihn meinetwegen mitnehmen.»
Achselzuckend entfernte sich der Sanitäter, und der Pathologe wandte sich an Morse. Seine Stimme klang ungewöhnlich ernst: «Du hast da wirklich einen unangenehmen Fall am Hals, Morse. Ich glaube, deswegen wäre es ratsam, wenn wir ihn uns jetzt gleich noch einmal zusammen ansehen würden, während wir hier in situ sind sozusagen – du verstehst, was ich sagen will. Du hast doch, soviel ich weiß, mal Klassische Philologie studiert, oder? Weißt du, ich mache immer wieder die Erfahrung, daß man bestimmte Indizien nur vor Ort entdecken kann, weil sie, wenn die Leiche endlich auf meinem Tisch landet, längst verschwunden sind.»
«Ach, weißt du, Max, ich glaube eigentlich nicht, daß das wirklich notwendig ist. Nimm du ihn dir noch einmal gründlich vor – das wird schon reichen.»
Der Pathologe legte Morse mitfühlend eine Hand auf die Schulter. «Ich verstehe dich gut. Er sieht wirklich grauenerregend aus. Aber trotzdem – zwei sehen mehr als einer. Ich bin nicht unfehlbar; es ist, wie du weißt, durchaus schon vorgekommen, daß ich etwas nicht bemerkt habe. Und …»
«Schon gut. Aber vorher brauche ich einen Drink.»
«Hinterher. Versprochen. Ich kenne den Wirt.»
«Ich auch.»
«Also einverstanden?»
«Einverstanden.»
Der Pathologe zog die Plane weg. Morse, der sich nicht in der Lage sah, noch ein zweites Mal den Anblick des zerfetzten Halsstumpfes zu ertragen, hielt seinen Blick krampfhaft auf die Schulterpartie und den Rumpf gerichtet – den Teil des Körpers, den unversehrt zu lassen der Mörder (Morse fühlte, wie sich so etwas wie Jagdinstinkt in ihm zu regen begann) offenbar für ungefährlich erachtet hatte. Der Torso war mit einem formellen dunkelblauen Nadelstreifenjackett bekleidet, das einmal Teil eines Anzugs gewesen war, denn die Hose, oder besser die Reste der Hose, waren aus demselben Material. Unter dem Jackett war ein weißes Hemd zu sehen sowie eine auf merkwürdige Art und Weise gebundene, rostrote Krawatte. Als der Pathologe das durchweichte Jackett vom Rumpf zog, überlief Morse unwillkürlich ein Frösteln.
«Brauchst du die Hosen auch, ich meine, was von ihnen noch übrig ist?» erkundigte sich der Pathologe.
Morse schüttelte den Kopf. «Aber du kannst mal nachsehen, ob er was in den Taschen gehabt hat.»
Der Pathologe fuhr beherzt mit der Hand in die rechte und in die linke Hosentasche, doch kam er bei beiden unten mit den Fingern wieder heraus. Bedauernd schüttelte er den Kopf. Morse fühlte, wie Übelkeit in ihm aufstieg.
«Vielleicht in seiner Gesäßtasche?» fragte er mit schwacher Stimme.
«O ja!» Der Pathologe hielt triumphierend ein mehrfach gefaltetes Stück Papier in die Höhe. «Siehst du jetzt, wie richtig mein Vorschlag war, daß wir ihn uns an Ort und Stelle beide gemeinsam noch mal ansehen sollten?» Er reichte Morse das durchweichte Blatt.
«Das hättest du später alleine auch gefunden», sagte Morse mürrisch.
«So, meinst du? Wer von uns beiden ist denn hier der Kriminalist? Ich werde nur dafür bezahlt, mir Leichen anzusehen – und nicht, um aus irgendwelchen Hosentaschen Papierbrei zutage zu fördern. Ich hätte diese Hose, ohne einen Blick an sie zu verschwenden, ans Obdachlosenhilfswerk gegeben. Obwohl, wenn ich es mir recht überlege, wären in Anbetracht ihrer relativen Kürze die Pfadfinder wohl die geeigneteren Empfänger gewesen.»
Obwohl ihm immer noch flau war, mußte Morse grinsen. Wenn es nach ihm ging, so hatten sie sich jetzt lange genug mit der Leiche hier beschäftigt. Hoffentlich fiel Max nicht noch irgend etwas ein, von dem er meinte, daß er es sich genauer ansehen sollte.
«Sind wir jetzt mit ihm fertig?»
Der Pathologe nickte. Morse war so erleichtert, daß er sich sogar getraute, seinen Blick über den Rumpf hinaus auf die Arme zu richten.
«Mit Armen läßt sich in der Regel nicht viel anfangen», bemerkte der Pathologe, dem nicht entgangen war, daß Morse’ Interesse einen neuen Gegenstand gefunden hatte. «Zähne wären gut, aber darauf müssen wir ja, so wie die Dinge liegen, leider verzichten; sehr nützlich wären unter Umständen auch …»
Morse wartete das Ende seiner müßigen Überlegungen nicht ab, sondern sagte schroff: «Hör auf zu reden, und schieb ihm lieber mal die Ärmel hoch.»
«Na, hoffentlich nehme ich da nicht Haut mit. Die löst sich manchmal ab wie nichts, hängt ganz davon ab, wie lange …»
«Kannst du mich damit nicht verschonen? Du weißt doch, daß ich so etwas nicht hören kann.»
Der Pathologe griente ihn entschuldigend an, dann begann er, erst den rechten, dann den linken Manschettenknopf zu öffnen und nacheinander beide Ärmel in die Höhe zu schieben. «Scheint kein sehr sportlicher Typ gewesen zu sein», sagte er mit Blick auf die mageren Oberarme. «Hätte mal öfter eine Hantel anfassen sollen.»
«Ich finde, deine Witze sind manchmal höchst unangebracht, Max», sagte Morse gereizt.
Der Pathologe sah ihn erstaunt an. «Seine Arme scheinen dich enttäuscht zu haben. Hattest du erwartet, eine Tätowierung zu finden, womöglich ein Herz mit dem Namen seiner Liebsten und seinem eigenen?»
«Hätte ja sein können, nicht?» sagte Morse mürrisch. «Manchmal hat man ja auch Glück.»
«Also weißt du», sagte der Pathologe und wiegte skeptisch den Kopf, «ich glaube, wenn du bei diesem Fall auf Glück vertraust, bist du nicht allzu gut beraten.»
«Vielleicht hast du recht …» sagte Morse matt und versuchte der erneut in ihm hochsteigenden Übelkeit Herr zu werden. Während er noch schluckte, um den Würgereiz zu unterdrücken, bemerkte er plötzlich am linken Oberarm des Toten einen Bluterguß, der ihm vorher gar nicht aufgefallen war, und aus irgendeinem Grund gab ihm der Anblick der bläulich verfärbten Haut den Rest. Abrupt wandte er sich um und erbrach sich auf den Rasen.
Lewis sah es von weitem und spürte neben Mitgefühl so etwas wie Scham. Morse war für ihn der Größte; da war es nur schwer zu ertragen, daß auch er Schwächen hatte.