Morse stellt wieder einmal unter Beweis, daß er auf Frauen zu wirken vermag – er muß dazu gar nicht einmal persönlich in Erscheinung treten.
Lewis’ Morgen begann sehr erfreulich mit einem Besuch im Lonsdale College. Die Sekretärin des Rektors, die eine Schwäche für ältere Männer hatte, brachte ihm, kaum daß er saß, eine Tasse Kaffee und war, wie auch schon beim letztenmal, bereit, ihm alle seine Fragen, so gut sie konnte, zu beantworten. Lewis’ Interesse heute galt vor allem Autos, da es ihm im Gegensatz zu Morse, der diesen Punkt aus unerklärlichen Gründen bisher völlig außer acht gelassen hatte, von großer Wichtigkeit schien herauszubekommen, auf welche Weise die Leiche von London nach Thrupp transportiert worden war. Er erfuhr, daß Browne-Smith – zweifellos auf Anraten des Arztes – seinen Daimler vor ungefähr einem Monat verkauft hatte, während Westerby seinen roten Metro, soviel sie wußte, noch besaß; sie hatte ihn jedenfalls vor nicht allzu langer Zeit noch damit fahren sehen.
«Wozu braucht Westerby überhaupt einen Wagen?» fragte Lewis. «Er wohnt und arbeitet hier im College, da hat er doch unter der Woche gar keine Wege zurückzulegen …»
«Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen. Mr. Westerby ist in bezug auf seine Privatangelegenheiten immer sehr zurückhaltend; er erzählt nicht viel von dem, was er in seiner Freizeit tut.»
«Sie können sich nicht erinnern, daß er einmal erwähnt hätte, wohin er fuhr?»
«Nein.»
«So ein Metro ist ein hübsches kleines Auto. Und sehr sparsam im Verbrauch.»
«Ja, und auch sehr geräumig. Wenn man die Rücksitze herausnimmt, dann bekommt man eine Menge hinein.»
«Ja, das habe ich auch schon gehört.»
«Haben Sie auch ein Auto, Sergeant?»
«Ja, einen alten Mini, aber ich benutze ihn nur selten. Zur Arbeit fahre ich mit dem Bus, und wenn ich dienstlich unterwegs bin, nehme ich einen von den Polizeiwagen.»
Die Sekretärin blickte vor sich auf den Schreibtisch, dann sagte sie beiläufig: «Hat Inspector Morse auch einen Wagen?»
Lewis fand die Frage etwas merkwürdig, mochte aber nicht unhöflich sein. «Ja, einen Lancia. Er hat, glaube ich, noch nie eine andere Marke gefahren.»
«Kennen Sie ihn schon lange?»
«Ziemlich.»
«Und ist er nett?»
«Nett? Nett ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort.»
«Mögen Sie ihn?»
«Er ist nicht jemand, den man mag.»
«Aber Sie kommen gut mit ihm aus?»
«Im allgemeinen ja, ich versuche ihn so zu nehmen, wie er ist – und er ist wirklich ein bemerkenswerter Mann.»
«Sie selbst müssen aber auch ein bemerkenswerter Mann sein, Mr. Lewis. Sie haben mir doch erzählt, daß er sie immer wieder extra anfordert …»
«Ach, nein, ich bin …» Lewis wußte nicht recht, wie er den Satz zu Ende bringen sollte; ihr überraschendes Kompliment hatte ihn verwirrt. «Kennen Sie ihn eigentlich?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nur einmal mit ihm telefoniert.»
«Oh, dann müssen Sie ja einen ganz schlechten Eindruck von ihm haben. Am Telefon ist er immer schrecklich arrogant, kommandiert die Leute herum, und alles muß am besten sofort passieren.»
«Ist er denn in Wirklichkeit anders?» fragte sie begierig.
«Ja, ja doch», sagte Lewis bestimmt. Er sah, wie sich ihr Gesicht durch ein sehnsüchtiges kleines Lächeln plötzlich auf ungeahnte Weise verschönte, und wollte gerade zurücklächeln, als ihm aufging, daß dieses Lächeln gar nicht ihm galt. Er spürte einen Stich.
Ihr Lächeln hatte dem abwesenden Morse gegolten.
Morse saß derweil, ahnungslos, daß er in Oxford eine Eroberung gemacht hatte, in der Oben-Ohne Flamenco Bar und schlürfte nicht besonders begeistert an seinem Soho-Knock-Out, den er aus Neugier bestellt hatte. Nachdem er sich etwas umgesehen und mit seiner Umgebung vertraut gemacht hatte, ging er zur Theke, um der jungen Frau dort – es war dieselbe, die gegenüber Brown-Smith so ausfallend geworden war – einige Fragen zu stellen. Auch zu ihm wollte sie gleich wieder pampig werden, doch ein Blick in die kühlen grauen Augen ihres Gegenüber belehrten sie eines Besseren. Wider Willen gefügig beantwortete sie alle Fragen so prompt, als sei sie hypnotisiert. Es dauerte nur fünf Minuten, da wußte Morse genug, und er steuerte mit energischen Schritten auf eine Tür am Ende der Bar zu, die die Aufschrift Privat trug.
Gegen dreizehn Uhr saß er im Taxi, unterwegs zu einer Adresse, die er dem widerstrebenden Geschäftsführer der Flamenco Bar entlockt hatte. Dabei hätte er diese Information eigentlich gar nicht gebraucht, da er schon durch eigene Überlegungen dahintergekommen war, wo die Begegnung zwischen Browne-Smith und «Yvonne» stattgefunden hatte. Er hätte sich den Abstecher in die Flamenco Bar von daher also sparen können, doch er bereute seinen Besuch dort nicht (obwohl er sich, was die Mädchen anging, mehr davon versprochen hatte) – immerhin hatte er dort die nicht unwillkommene Bestätigung erhalten, daß er zumindest mit einer seiner Annahmen richtig lag.
Was die anderen Hypothesen anging, so würde man sehen müssen … Im Augenblick jedenfalls stellten sich ihm die Ereignisse, die zu Gilberts «Angebot» an Browne-Smith geführt hatten, in etwa so dar: Gilbert, Chef eines Umzugsunternehmens, erhält von einem gewissen Mr. Westerby den Auftrag, dessen Umzug abzuwickeln. Er nimmt an und sucht in Erledigung des Auftrags die Räume Westerbys im Lonsdale College in Oxford auf. Durch reinen Zufall entdeckt er an der Tür gegenüber den Räumen seines Kunden ein Schild mit jenem Namen, der sich ihm damals vor über vierzig Jahren unauslöschlich eingeprägt hat – Browne-Smith. Zwischen ihm und Browne-Smith ist noch eine Rechnung zu begleichen, und so lockt er ihn nach London, zu einem Haus in Bloomsbury, dessen Adresse auf jeder von Westerbys Umzugskisten geklebt hat. Was allerdings in dem Haus dann geschieht, darüber zu spekulieren hatte wenig Sinn, dazu fehlten einfach die nötigen Anhaltspunkte. Letztlich würde alles davon abgehangen haben, wie Browne-Smith auf diese zweite große Bewährungsprobe in seinem Leben reagierte, was für ihn in diesem Moment Tapferkeit, was Feigheit bedeutete. Und wenn er tatsächlich, wie er geschrieben hatte, mit einem Armeerevolver bewaffnet gewesen war …
Doch Morse’ Gedanken, während die Taxe sich (auf Umwegen, wie er fand) allmählich Bloomsbury näherte, galten mitnichten nur dem ihm übertragenen Fall. Wie immer, wenn er dienstlich außerhalb Oxfords unterwegs war, schlug er sich mit der schwierigen Frage herum, wie viele Spesen er würde machen können. Die Bahnfahrt natürlich (da würde er wieder den Preis für ein Billett erster Klasse angeben, obwohl er nur zweiter gefahren war), dann die Fahrten mit U-Bahn und Taxi und die angefallenen Rechnungen für Essen und Getränke. Aber was war mit den sechs Pfund für den Soho-Knock-Out! Ob sie ihm die auch erstatten würden? Vermutlich nicht. Und vielleicht war es ohnehin besser, er ließ diesen Punkt seiner Reisekostenabrechnung unter den Tisch fallen; in den Augen der Bürokraten, die darüber zu befinden hatten, würde sie dadurch nur unseriös erscheinen.
Das Taxi war wunderbarerweise doch noch ans Ziel gelangt. Morse stieg aus und stand vor der Tür der Nr. 29.