Morse, durch falsche Schlußfolgerungen nichtsdestoweniger auf die richtige Fährte gelangt, sieht seine Einschätzung des Falles aufs glänzendste bestätigt.
Als Morse ein paar Minuten nach acht die Tür zu seinem Büro öffnete, saß Lewis bereits am Schreibtisch – vor sich einen Daily Mirror.
«Ich sehe, die Ermittlungen lassen Ihnen keine Ruhe», sagte Morse sarkastisch.
Lewis legte die Zeitung beiseite. «Ich fürchte, Ihnen ist da ein Fehler unterlaufen, Sir.»
«Soll das heißen, Sie haben sich heute morgen tatsächlich schon über den Fall Gedanken gemacht?»
«Ja», sagte Lewis etwas beleidigt. «Und wie ich Ihnen schon sagte, Sir, ich habe festgestellt, daß Ihnen ein schwerer Fehler unterlaufen ist.»
«Na, das müssen Sie mir erst mal beweisen.»
«Ich war dabei, das Kreuzworträtsel hier zu lösen, und bei Vier Waagerecht stand: Eber (Anagramm) …»
«Rebe», unterbrach ihn Morse prompt.
Lewis nickte. «Ja, stimmt. Und als ich so dabei war, dachte ich, ich prüfe doch mal nach, ob das andere wirklich auch ein Anagramm ist …»
«Welches andere, Sie müssen sich schon deutlicher ausdrücken, Lewis.»
«Simon Rowbotham – O. M. A. Browne-Smith, Sir.»
«Aber natürlich ist es das!» Morse notierte in aller Eile die beiden Namen und strich triumphierend einen um den anderen Buchstaben aus. Doch plötzlich wurde er still. «Oje, ich fürchte, Sie haben recht, Lewis – hier steht ein ‹O›, wo ein ‹E› hätte stehen müssen.»
«Ich bin, wie ich sagte, eigentlich nur durch Zufall darauf gekommen, weil ich …»
Aber Morse hörte ihm nicht zu. Sollten all seine komplizierten Überlegungen falsch gewesen sein, und der Fall lag am Ende, wie Lewis immer behauptet hatte, tatsächlich ganz einfach? Immerhin war es natürlich nicht ausgeschlossen, daß Browne-Smith ein Fehler unterlaufen war und er sich um den einen Buchstaben vertan hatte, als er den Bluff mit seinem Namen hatte in Szene setzen wollen. Aber wenn er ganz ehrlich war, so konnte er daran selbst nicht so recht glauben. Es half also alles nichts, er mußte zugeben, daß er fürs erste mit seinem Latein am Ende war.
Um halb neun klingelte das Telefon.
«Ich lese hier gerade eine Oxford Times von letzter Woche», sagte Dickson aufgeregt.
«Nicht während der Dienstzeit, hoffe ich?»
«Ich bin zu Hause, Sir. Ich habe frei.»
«Ihr Glück!»
«Was ich sagen wollte, Sir, ich habe ihn gefunden …»
«Wen?»
«Simon Rowbotham! Ich bin gerade auf der Sportseite, und da ist mir auf einmal sein Name ins Auge gesprungen. Er ist letzten Sonntag bei einem Angelwettbewerb am King’s Weir Zweiter geworden.»
«So?» sagte Morse ohne jede Begeisterung.
«Hier steht, er wohne in Botley.»
«Es ist mir völlig schnuppe, wo …»
«Wie bitte, Sir?»
«Jedenfalls vielen Dank, daß Sie mir Bescheid gegeben haben», sagte Morse.
«Jetzt müssen Sie aber auch Ihr Versprechen einlösen, Sir …»
«Welches Versprechen?»
«Na, Sie haben doch gesagt, daß Sie mir sämtliche Doughnuts aus der Kantine …»
«Das müssen Sie wohl geträumt haben», sagte Morse und knallte den Hörer auf.
Als Morse von der Mittagspause zurückkam, fand er auf seinem Schreibtisch einen verschlossenen weißen Umschlag. Er war adressiert An Chief Inspector E. Morse, Thames Valley Police, Kidlington und trug den Vermerk Streng vertraulich. Der Umschlag enthielt, wie sich herausstellte, ein weiteres, kleineres, ebenfalls verschlossenes Kuvert und ein Begleitschreiben des Direktors der Zweigstelle von Barclays Bank in der High Street. Dieser Brief trug das Datum des 26. Juli und lautete:
Sehr geehrter Mr. Morse.
Beiliegender Brief erreichte uns am Montag, dem 21.Juli, mit der Anweisung, selbigen am Samstag, dem 26.Juli, an Sie abzusenden. In der Hoffnung, unserem Kunden und Ihnen dienlich gewesen zu sein, verbleibe ich
hochachtungsvoll etc.
Morse reichte Lewis den Brief. «Was halten Sie davon?»
Lewis las den Brief kurz durch und zuckte dann die Achseln. «Da will sich jemand wichtig machen, sonst hätte er den Brief doch gleich an Sie schicken können.»
«Kommt drauf an», sagte Morse geheimnisvoll.
«Wollen Sie den Umschlag nicht öffnen?»
«Ich überlege gerade», sagte Morse. «Wenn der Brief am 21. bei der Bank eintraf, dann ist er wahrscheinlich am 20. geschrieben und abgeschickt worden – das hieße, genau an dem Tag, an dem, so meint jedenfalls Max, die Leiche in den Kanal geworfen worden ist.»
«Aber glauben Sie denn, daß der Brief etwas mit unserem Fall hier zu tun hat?» fragte Lewis verblüfft.
«Das werden wir gleich wissen», sagte Morse und schlitzte den Umschlag auf. Nachdem er die ersten Zeilen gelesen hatte, stieß er einen kurzen erstaunten Ausruf aus, dann las er ihn schweigend zu Ende.
Als er wieder aufsah, trug sein Gesicht jenen für die Mitmenschen nur schwer erträglichen Ausdruck grenzenloser Selbstzufriedenheit, der in der Regel seine Ursache in einem Gefühl der Genugtuung darüber hat, daß zu guter Letzt die eigene Meinung sich doch als die richtige erwiesen hat.
Morse schob Lewis den Brief über den Tisch zu, der sich, ohne zu zögern, sofort der letzten Seite zuwandte.
«Aber hier ist ja gar keine Unterschrift, Sir!» rief er enttäuscht.
«Das ist auch nicht nötig», sagte Morse. Er griff nach dem Telefon und wählte die Nummer von Barclays Bank.
«Ich hätte gern den Leiter Ihrer Zweigstelle gesprochen.»
«Er ist im Moment leider sehr beschäftigt. Wenn Sie vielleicht …»
«Hier spricht der Chief Constable von Oxfordshire. Wenn Sie jetzt bitte dafür sorgen würden, daß ich ihn umgehend sprechen kann …»
Es dauerte keine zwanzig Sekunden, da hatte er den Filialleiter am Apparat.
«Ja bitte?»
«Ich habe eine kleine Frage, Sir. Können Sie mir sagen, ob ein Dr. Browne-Smith – Dr. O. M. A. Browne-Smith – bei Ihnen Kunde ist?»
«Ja», sagte der Filialleiter knapp.
«Sie haben mir da Samstag, wie Sie sich erinnern werden, im Auftrag eines Kunden einen Brief zugeleitet. Dieser war leider nicht unterschrieben, und deshalb möchte ich Sie bitten, mir zu sagen, ob es sich bei dem Kunden vielleicht um Dr. Browne-Smith gehandelt hat.»
«Es freut mich zu hören, daß der Brief schon angekommen ist. Da hat die Post sich ja offenbar ausnahmsweise einmal beeilt.»
«Sie haben mir meine Frage noch nicht beantwortet.»
«Nein, und ich denke, ich kann es auch nicht.»
«Ich denke schon, daß Sie es können, Sir – vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, daß es um einen Mordfall geht.»
«Mordfall?! Sie wollen doch hoffentlich nicht sagen, daß Dr. Browne-Smith ermordet worden ist?»
«Nein, da haben Sie mich mißverstanden.»
«Wenn Sie vielleicht etwas deutlicher werden und mir zum Beispiel sagen könnten, wer denn nun eigentlich ermordet worden ist …?»
Morse zögerte. «Nein, zu einer solchen Auskunft sehe ich mich im Moment nicht befugt. Wie Sie sich denken können, erfordert unsere Arbeit mitunter größte Behutsamkeit und Diskretion.»
«Dann müssen Sie ja eigentlich Verständnis haben für meine Haltung, Sir. Unsere Kunden erwarten von uns, daß ihre Angelegenheiten mit absoluter Vertraulichkeit behandelt werden, und wenn herauskäme …»
«Ich sehe ein, daß die Situation für Sie schwierig ist», lenkte Morse ein, «ich werde die Frage deshalb vorerst zurückstellen. Wenn sich im Laufe der weiteren Ermittlungen zeigen sollte, daß sie für die Klärung des Falles von grundsätzlicher Bedeutung ist, müßte ich natürlich noch einmal auf Sie zukommen.»
«Ja, selbstverständlich. Ich werde auf alle Fälle schon einmal mit unseren Hausjuristen über die Angelegenheit sprechen.»
«Das kann nie schaden, Sir», pflichtete Morse ihm bei. «Im übrigen möchte ich mich für Ihr Entgegenkommen bedanken, auf Wiedersehen, Sir.» Er legte auf.
Lewis, der, während er den Brief las, mit einem Ohr zugehört hatte, blickte kurz hoch. Zu seinem Erstaunen sah Morse aus, als habe er gerade einen großen Erfolg errungen. Beim Chef wußte man eben nie, wie man dran war.
Lewis las den Brief zu Ende, doch noch ehe er einen Kommentar dazu hatte abgeben können, hatte Morse bereits einen neuen Auftrag für ihn: Er solle noch einmal bei Barclays Bank anrufen, sich als Chief Inspector Morse ausgeben und sich erkundigen, ob auch ein Mr. Westerby zu ihren Kunden gehöre.
Lewis tat wie ihm geheißen. Die Antwort, die er erhielt, war ein klares und eindeutiges «Ja».