Morse und Lewis schlagen sich immer noch mit der Frage herum, warum der Mörder es wohl für nötig befunden habe, sein Opfer zu verstümmeln.
Alles in allem ließen die Ermittlungen sich gut an, dachte Lewis, als er mit Morse zurück ins Präsidium fuhr. Sie hatten, vom Opfer ausgehend, die Spuren zurückverfolgt – offenbar richtig zurückverfolgt, denn sie hatten ein Ergebnis erzielt. Zwei Fragen allerdings hätte er schon noch gehabt, aber Morse schien in Gedanken versunken zu sein, und Lewis wußte aus Erfahrung, daß es besser war, ihn dann nicht zu stören.
Anders als sein Sergeant war Morse sich gar nicht so sicher, was den Erfolg ihrer bisherigen Arbeit anging. Sie wußten ja noch nicht einmal, ob der Mörder nun extrem dumm oder besonders gerissen gewesen war, als er den Toten verstümmelte, ihm jedoch seinen eigenen Anzug ließ – wenn es denn sein eigener Anzug war … Lewis hatte im College gründliche Arbeit geleistet und war der Ansicht, der Anzug habe Browne-Smith gehört. Aber hieß das, daß der Tote tatsächlich Browne-Smith war?
Zurück im Büro, sah Lewis endlich eine Chance, seine Fragen loszuwerden.
«Es ist doch aber jetzt ziemlich sicher, Sir, daß es sich bei dem Toten um Browne-Smith handelt, nicht wahr?»
«Ich habe keine Ahnung.»
«Aber der Anzug …»
«Ich sagte, ich habe, verdammt noch mal, keine Ahnung», wiederholte Morse.
Lewis zog den Kopf ein, ließ ein paar Minuten verstreichen und wagte sich dann erneut hervor.
«Finden Sie nicht auch, Sir, daß es ein merkwürdiger Zufall ist, daß Gilbert und Sie beide zur gleichen Zeit Ärger mit ihren Zähnen haben?»
Diese Frage schien Morse mehr zu interessieren als die erste, denn er versank wieder in tiefes Nachdenken. Nach ein paar Minuten schüttelte er den Kopf. «Nein, ich denke nicht, daß es merkwürdig ist. Solche Duplizitäten sind viel häufiger, als wir gemeinhin annehmen. Zufall, Glück, Schicksal – wir tun so, als ob sie in unserem Leben keine Rolle mehr spielten. Früher war das anders. Die Römer und die Griechen haben beide eine Glücksgöttin. Und wenn Sie sich wirklich für Zufälle interessieren, Lewis, dann holen Sie heute abend, wenn Sie nach Hause kommen, einmal die Bibel aus dem Schrank und schlagen Sie den sechsundvierzigsten Psalm auf, und dann suchen Sie mal das sechsundvierzigste Wort von vorn und das sechsundvierzigste von hinten. Das wird Sie sehr nachdenklich machen, was Zufälle angeht. Es muß übrigens», fügte er hinzu, «der Wortlaut der autorisierten Bibel von 1611 sein.»
«Was? Wie?» fragte Lewis hilflos.
«Ach, vergessen Sie’s, Lewis, war nicht so wichtig. Sprechen wir lieber noch einmal von unserem Fall. Ich werde versuchen, meine Gedanken auf die Reihe zu bringen. Also: wenn es dem Mörder egal gewesen wäre, ob man sein Opfer identifiziert oder nicht, hätte er ihm nicht den Kopf abgetrennt. Mit Kopf ist eine Identifizierung ziemlich einfach; man kann Fotos machen und verteilen, und irgend jemand wird das Opfer dann schon erkennen, egal ob es nun vierzehn Tage im Mississippi oder drei Monate im Oxford-Kanal gelegen hat. Dasselbe gilt für die Hände. Auch sie bieten die Möglichkeit, einen Menschen zu identifizieren, sogar noch eindeutiger, als man das an Hand eines Kopfes kann; denn Fingerabdrücke sind, wie wir wissen, wirklich unverwechselbar.»
«Und was ist mit seinen Beinen, Sir?»
«Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Lewis, wenn Sie mal für eine Minute den Mund halten könnten und versuchen würden, mir zuzuhören. Es ist, auch ohne daß Sie mich dauernd unterbrechen, schon schwer genug für mich, diese Gedankenkette logisch zu entwickeln.»
«Also ich finde bis jetzt alles ganz einfach, Sir.»
Morse seufzte genervt. «Wo war ich jetzt stehengeblieben? Ach ja. Also, wie ich schon sagte, wenn es dem Mörder egal gewesen wäre, ob man sein Opfer identifiziert oder nicht, hätte er sich die Mühe sparen können, ihm Kopf und Hände abzutrennen. Daß er es tat, läßt also doch wohl den Schluß zu, daß es ihm nicht egal war.»
Lewis nickte sein Einverständnis.
«Und jetzt kommt das Problem, Lewis: wenn es ihm also offensichtlich nicht egal war, warum um alles in der Welt hat er dann nicht alle Hinweise beseitigt, warum hat er dem Toten seinen Anzug gelassen? Und warum hat er ihm nicht den Brief aus der Tasche genommen? Ich gebe zu: daß wir jetzt wissen, daß der Anzug Browne-Smith gehört, verdanken wir auch noch anderen Informationen, und auch der Brief an sich ist nicht ganz eindeutig. Aber alles in allem braucht man wirklich kein Shylock zu sein, um …»
«Sherlock, Sir, Sherlock», korrigierte ihn Lewis sanft.
«Shylock oder Sherlock, Lewis, Sie wissen doch, was ich meine …»
Lewis dachte einen Moment nach, dann sagte er ehrlich: «Nein, Sir, eigentlich nicht.»
Auch Morse waren während der letzten halben Minute plötzlich Zweifel an der Logik dessen, was er da gesagt hatte, gekommen. Da er jedoch aus Erfahrung zu wissen glaubte, daß auch noch der größte Unsinn, den man verzapft, ein Körnchen Wahrheit enthält, ließ er sich durch diese Zweifel nicht beirren und fuhr in seinen Ausführungen fort: «Lassen Sie uns deshalb einen Moment lang annehmen, daß der Tote nicht Browne-Smith ist, daß aber irgend jemand uns glauben machen möchte, er sei es. Und betrachten wir dann die Sache mit dem abgetrennten Kopf und den fehlenden Händen noch einmal unter diesem neuen Gesichtswinkel. Zuerst der Kopf. Wenn die Leiche einen Kopf gehabt hätte, hätten wir ein ganz sicheres Kriterium gehabt, um zu entscheiden, ob es sich bei dem Toten um Browne-Smith handelt oder nicht. Selbst wenn die Leiche solange im Wasser gelegen hätte, daß die Gesichtszüge sich schon völlig aufgelöst hätten. Denn wie wir wissen, leidet Dr. Browne-Smith an einem Gehirntumor. Und wenn er einen geöffneten Schädel vor sich auf dem Seziertisch liegen hat, wäre wohl selbst Max in der Lage, eine eindeutige Aussage zu machen, ob das Gehirn des Toten eine Anomalie aufweist oder nicht. Dasselbe gilt für die Hände. Browne-Smith hat durch eine Kriegsverletzung den Zeigefinger der rechten Hand verloren – oder so gut wie verloren; und nicht einmal der geschickteste Mikrochirurg wäre in der Lage, ihm die fehlenden Fingerglieder durch künstliche zu ersetzen, ohne daß nicht auch ein Dummbartel wie Dickson darüber stolpern würde, daß hier etwas nicht ganz echt ist. Oder anders herum: wenn der Kopf oder auch die rechte Hand am Körper belassen worden wären und ersterer weder einen Tumor noch letzterer eine Verstümmelung aufgewiesen hätten, so hätte uns das zu der sicheren Überzeugung gebracht, daß es sich bei der Leiche nicht um Browne-Smith handeln könne. Mit anderen Worten: dadurch daß der Mörder den Kopf und die Hände entfernt hat, hat er uns gleichzeitig zwei wesentliche körperliche Merkmale genommen, an Hand derer wir eine positive oder negative Entscheidung hätten fällen können bezüglich der Identität der Leiche mit Browne-Smith.»
Lewis sah ihn zweifelnd an. «Also ich finde, das klingt alles ziemlich kompliziert, Sir. Meiner Ansicht nach komplizierter, als es in Wirklichkeit ist …»
«Gut möglich», gab Morse zu.
«Ehrlich gesagt, habe ich im Moment das Gefühl, als hätte ich ein bißchen den Boden unter den Füßen verloren. Normalerweise ist es meine Aufgabe, herauszubekommen, wer die Tat begangen hat, und jetzt soll ich mich auf einmal mit der Frage abgeben, wer das Opfer ist. Das ist erst einmal ungewohnt für mich.»
Morse nickte. «Aber jedesmal, wenn wir über das Opfer nachdenken, wird auch das Bild des Täters für uns deutlicher, Lewis. Immerhin wissen wir doch jetzt bereits, daß er offenbar ein ganz gerissener Bursche ist, der uns in die Irre zu führen sucht – und dem das sogar beinahe gelungen ist.»
«Damit läßt sich aber noch nicht besonders viel anfangen», sagte Lewis kritisch.
«Das kommt darauf an, was für Schlußfolgerungen wir daraus ziehen. Wenn wir davon sprechen, daß er intelligent ist, beinahe so intelligent wie wir, dann stellt sich doch gleich die Frage, wo in Oxford findet man die intelligentesten Leute?»
«Na, bei uns, Sir, oder?» fragte Lewis, seiner Sache doch nicht so ganz sicher.
Morse lächelte nachsichtig. «Nein, Lewis, so allgemein kann man das wohl nicht sagen. Nein, ich dachte eher an die Universität, und ich habe da auch schon jemand Bestimmtes im Auge.»
«So?» Lewis sah seinen Chef mißtrauisch an.
«Aber ich würde sagen, wir lassen das jetzt erst einmal. Wir müssen uns ja noch darüber unterhalten, warum der Mörder dem Toten auch die Beine abgetrennt hat.»
«Vielleicht ist er – als er noch lebte selbstverständlich – beim Schwimmen vor den Bermudas mit dem rechten Fuß in die Schraube eines Außenbordmotors geraten und hat seitdem einen verstümmelten rechten Fuß …» schlug Lewis vor.
Morse saß auf einmal ganz still. Lewis hatte mit seiner scherzhaften Antwort ganz unabsichtlich den Funken an die Lunte gelegt. Morse überlegte einen Moment, dann griff er zum Telefon, ließ sich mit dem Superintendent verbinden und bat diesen, ihm möglichst schnell noch einmal zwei Polizeitaucher zur Verfügung zu stellen.
«So», sagte er, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, «nun zurück zu den Beinen. In welcher Höhe etwa, würden Sie sagen, sind sie abgetrennt worden?»
«Na, ungefähr hier», Lewis fuhr mit der Hand eine imaginäre Linie auf seinem Oberschenkel nach. «So etwa in der Mitte zwischen Hüfte und Knie …»
«Zwischen Hüfte und Knie – stimmt. Aber woher wollen Sie wissen, daß der Schnitt tatsächlich in der Mitte geführt wurde? Um das beurteilen zu können, müßten wir doch die wirkliche Länge der Oberschenkel kennen. Nein, nein, wir wissen überhaupt nichts. Aber vielleicht möchte der Mörder, daß wir denken, wir wüßten …»
«So etwas Ähnliches ist mir heute morgen auch schon durch den Kopf gegangen, Sir.»
«Ich weiß, Ihre Gedankengänge waren nur ein wenig verworren, deshalb habe ich mich jetzt um eine etwas geordnetere Darstellung bemüht.»
«Ich denke aber, ich habe durchaus verstanden, worum es geht», sagte Lewis etwas beleidigt. «Das Problem für den Mörder war, daß der Tote, den er gerne als Browne-Smith ausgeben möchte, nicht dieselbe Größe hat wie dieser. Da Browne-Smith ziemlich groß war, so um ein Meter achtzig, nehme ich an, daß der Tote wohl eher kleiner war. Ein intakter Oberschenkel erlaubt jedoch zuverlässige Rückschlüsse auf die Körpergröße, und deshalb …»
«Wissen Sie zufällig auch, wie groß Westerby ist?» unterbrach ihn Morse.
«Ja, knapp unter ein Meter siebzig. Die Sekretärin des Rektors hat es mir gesagt. Ein wirklich sehr hilfsbereites Mädchen.»
«Ich weiß, ich weiß», grummelte Morse.
«Aber was ich Ihnen noch sagen wollte, Sir. Ihre Ausführungen eben – Ihre Erklärungen für den fehlenden Kopf und die abgetrennten Hände und Beine – finde ich alle wirklich sehr überzeugend. Wenn der Mörder uns glauben machen wollte, daß der Tote Browne-Smith sei, denke ich, hatte er eigentlich gar keine andere Wahl, als alles abzuschneiden.»
Aus dem Mund des Sergeant klang für Morse seine eigene Ansicht auf einmal gar nicht mehr so plausibel. «Aber finden Sie nicht, daß meine Erklärungen vielleicht doch ein wenig zu weit hergeholt waren?»
«Na ja», sagte Lewis, «das kommt ganz darauf an. Ich hätte sie nicht gebraucht; ich hätte mich gut mit dem zufriedengeben können, was ganz offensichtlich ist: der Anzug des Toten gehört Browne-Smith, der Brief in der Gesäßtasche deutet ebenfalls auf Browne-Smith, Browne-Smith selbst ist verschwunden … Aber Sie wittern ja hinter allem gleich eine Falle, und wenn Sie wirklich meinen, daß alle diese Hinweise auf Browne-Smith nur künstlich fabriziert sind, um uns auf die falsche Fährte zu locken …»
Morse antwortete nicht. Auf sein Gesicht malte sich ein Ausdruck seliger Überraschung. – Was ihm wohl nun schon wieder eingefallen ist, dachte Lewis besorgt.
Ein paar Minuten später kam ein Anruf von Dickson. Er teilte mit, daß weder bei der Oxford Pike Anglers’ Association noch bei einem der anderen Anglervereine in und um Oxford ein Simon Rowbotham Mitglied sei. Lewis war über die Nachricht nicht besonders glücklich, stützte sie doch, wenn auch nur mittelbar, Morse’ These, der Tote sei nie und nimmer Browne-Smith, denn – so sein Argument – der Name des Anrufers, der sie über die Leiche im Kanal informiert hatte, der Name Simon Rowbotham nämlich, sei nichts als ein Anagramm des Namens O. M. A. Browne-Smith. Und er glaube doch wohl nicht, daß das ein Zufall sei.