Morse erhält von zwei Seiten Hinweise, die ein Licht auf das werfen, was in Dr. Browne-Smiths Hirn vorgegangen sein mochte.

Andrews (ein ordentlicher Mann, wie Browne-Smith unlängst über ihn geurteilt hatte) war, wie sich herausstellte, ungefähr in Morse’ Alter. Er war kaum mehr als mittelgroß, schlank, trug eine Brille und wirkte wie jemand, der genau wußte, was er wollte. Auf Morse’ Frage erklärte er, daß er im Augenblick unter den wenigen noch im College verbliebenen Professoren der dienstälteste sei und er in dieser seiner Funktion als der zur Zeit Verantwortliche energisch Widerspruch erhebe gegen die Behandlung, die der Collegesekretärin durch ihn, Morse, heute morgen widerfahren sei. Was übrigens seine Frage angehe, so habe er sich erkundigt: Ja, am Freitag, dem 11. Juli, habe es im College zum Frühstück Bückling gegeben.

Morse mochte ihn ungeachtet der scharfen Kritik, die er von seiner Seite hatte hinnehmen müssen, sofort und beeilte sich deshalb zu erklären, wieso er überhaupt im College Nachforschungen anstelle. Der Rektor habe ihm vor seiner Abreise seine Besorgnis über Browne-Smiths Abwesenheit anvertraut und ihn gebeten, ‹ein Auge auf die Dinge zu haben›.

Andrews lächelte und sagte: «Ich danke Ihnen, daß Sie mich über den Hintergrund Ihres Interesses informiert haben. Ich denke, ein Vertrauen ist des anderen wert. Vielleicht interessiert es Sie zu wissen, daß auch ich vom Rektor über seine Besorgnis informiert wurde. Ich fand seine Befürchtungen allerdings etwas übertrieben – schließlich hat Browne-Smith uns ja, wie ich hörte, zwischenzeitlich eine Nachricht zukommen lassen.»

«Es ist eine Nachricht hinterlassen worden, das ist richtig …»

«Wollen Sie damit andeuten, daß er nicht selbst …»

Morse nickte.

«Können Sie mir einen Grund nennen, der Sie zu dieser Annahme berechtigt?» fragte Andrews in dem Ton eines Professors, der einen offensichtlich schlecht vorbereiteten Studenten auffordert, seine Ansicht aus dem Text zu belegen.

«Ja», sagte Morse ernst, «die Tatsache, daß er tot ist.»

Wenn diese Eröffnung Andrews schockiert hatte, so ließ er sich das nicht anmerken. Er saß regungslos und sah Morse nur fragend an. Offenbar erwartete er nähere Erläuterungen.

Morse zog es jedoch vor, weitere Fragen zu stellen. «Wissen Sie zufällig, ob er Blutspender war?»

«Nein, davon ist mir nichts bekannt, aber das will nichts heißen. Das ist schließlich keine Sache, von der man viel Aufhebens machen würde.»

«Es gibt Leute, die haben an der Windschutzscheibe ihres Autos so eine Plakette ‹Ich spende Blut. Blut rettet Leben.› Können Sie sich vielleicht erinnern, ob Sie …?»

«Nein.»

«Er hatte ein Auto?»

«Ja, einen großen schwarzen Daimler, der sehr viel Benzin verbraucht. Ich weiß das, weil er sich einmal bei mir darüber beklagt hat.»

«Haben Sie den Wagen in letzter Zeit irgendwo stehen sehen?»

«Nein.»

«Wie war das bei gesellschaftlichen Anlässen, was pflegte Browne-Smith zu trinken?»

«Dasselbe wie die meisten von uns: Scotch. Aber er hat nie viel getrunken. Auch in diesem Punkt war er ganz Aristoteliker – immer bemüht, das rechte Maß zu halten zwischen Zuviel und Zuwenig.»

Morse nickte.

«Sie kennen doch sicher die Geschichte, die man sich aus Cambridge erzählt», fuhr Andrews fort. «Trinity habe Wordsworth nie betrunken und Porson nie nüchtern gesehen? Nun, ersteres ließe sich auch von Dr. Browne-Smith behaupten: Lonsdale hat ihn nie betrunken gesehen.»

«Nach allem, was Sie sagen, habe ich den Eindruck, daß er ein überaus korrekter, ja geradezu pedantischer, aber auch wohl schrecklich langweiliger Mann war.»

«Wenn Sie das annehmen, Chief Inspector, so haben Sie mich mißverstanden. Er ist nichts dergleichen. Er ist lediglich jemand, der Ungenauigkeit, Nachlässigkeit und jede Form intellektueller Bramarbasiererei verabscheut und versucht, dagegen anzugehen.»

«Würden Sie es für möglich halten, daß er einen Brief abschickt oder sonstwie weiterleitet, der orthographische und grammatikalische Fehler enthält?»

Andrews schien über die Frage äußerst verblüfft. «Nein, auf keinen Fall. Er würde lieber sterben, als …»

«Nun, gestorben ist er ja nun tatsächlich. Wenn auch wohl nicht wegen eines inkorrekten Briefes.»

Andrews sah Morse einen Moment lang forschend an. «Sie sind sich wirklich sicher, daß er tot ist?»

«Ja», sagte Morse knapp, «wir haben gestern bei Thrupp seine Leiche aus dem Kanal geborgen.»

Andrews blickte ihn noch immer an. «Ich habe heute in der Oxford Mail gelesen, daß man im Kanal eine Leiche gefunden habe. Es hieß dort allerdings, der Mann sei noch nicht identifiziert.»

«Ach, wirklich?» sagte Morse und gab sich Mühe, überrascht zu klingen. «Aber Sie glauben doch auch sonst nicht alles, was in der Zeitung steht, oder?»

«Nicht alles, nein, aber das meiste schon», sagte Andrews und warf ihm einen prüfenden Blick zu, so daß Morse es vorzog, das Thema zu wechseln.

«Ich würde von Ihnen gern mehr über Dr. Browne-Smith erfahren», sagte er. «Befand er sich Ihrer Meinung nach in einem guten körperlichen Zustand – ich meine natürlich, seinem Alter entsprechend?»

Zum erstenmal schien Andrews mit der Antwort zu zögern. «Sie haben also auch schon davon gehört.»

«Nicht offiziell, es wurde nur gesprächsweise angedeutet, daß …»

Andrews starrte auf den Teppich. Er schien im Zwiespalt zu sein, ob er reden oder lieber schweigen solle. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte widerstrebend: «Da Sie das Wesentliche ja nun ohnehin schon erfahren haben, begehe ich wohl keinen Vertrauensbruch, wenn ich Ihnen noch weitere Einzelheiten mitteile. Der Grund, warum mir der Rektor überhaupt von seiner Besorgnis wegen der Abwesenheit von Dr. Browne-Smith erzählt hat, ist nämlich …» Er zögerte erneut, dann fuhr er fort: «Der Grund, wie ich schon sagte, ist, daß ich vorgesehen bin, seine Aufgaben zu übernehmen, wenn er dafür nicht mehr zur Verfügung steht.»

«Sie meinen, wenn er in den Ruhestand tritt?»

«Nein, ich fürchte, schon sehr viel früher. Man hat Ihnen gegenüber ja bereits erwähnt, daß er ein schwerkranker Mann ist – so hatte ich Sie eben jedenfalls verstanden …» sagte er und sah Morse, plötzlich mißtrauisch geworden, forschend an.

«Ja, man hat mir etwas in der Richtung angedeutet», sagte Morse kaltblütig.

«Hat man Ihnen auch gesagt, um was für eine Krankheit es sich bei ihm handelt?»

Dies konnte Morse ehrlicherweise verneinen.

«Nun, er hat einen Gehirntumor – schon sehr weit fortgeschritten. Inoperabel.»

Beide schwiegen einen Moment, dann sagte Morse in beiläufigem Ton: «Bringt es Ihnen übrigens finanzielle Vorteile, wenn Sie jetzt Dr. Browne-Smiths Aufgaben übernehmen?»

«Was, zum Teufel, wollen Sie damit sagen?» fuhr Andrews empört auf.

«Aber lieber Dr. Andrews», sagte Morse milde, «ich ermittle, wie Sie wissen, in einem Mordfall – und da ist es meine Pflicht herauszufinden, wer vom Tod des Opfers in irgendeiner Weise profitiert; das werden Sie verstehen.»

«Na schön, dagegen läßt sich wohl nicht viel sagen. Also, wenn Sie es denn unbedingt wissen müssen: ich werde, falls es sich bei dem Toten tatsächlich um Dr. Browne-Smith handeln sollte und ich an seine Stelle trete, pro Jahr etwa zweitausend Pfund mehr bekommen als bisher.»

«Eine Stufe höher auf der Karriereleiter – meinen herzlichen Glückwunsch!»

«Danke», sagte Andrews knapp. «Zu Ihrer Information: es ist mehr als eine Stufe, und ich habe vor, um im Bild zu bleiben, noch höher zu steigen.»

Einen Augenblick lang verschlug es Morse die Sprache. So viel Ehrlichkeit war er nicht gewöhnt. «Aber der Rektor ist noch mindestens zehn Jahre im Amt», gab er zu bedenken.

«Acht Jahre», korrigierte Andrews ihn ruhig.

Merkwürdigerweise war die ganze Unterhaltung nicht im mindesten peinlich, dachte Morse. Dieser Andrews war wirklich ein ungewöhnlicher Mensch.

«Das Amt des Rektors angetragen zu bekommen», sagte Morse in beinahe ehrfürchtigem Ton, «ist eine große Auszeichnung, oder?»

«Für mich ist es die größte Auszeichnung, die es gibt», sagte Andrews bestimmt.

«Glauben Sie, daß Ihre Kollegen das auch so sehen?»

«Ich denke schon; die wenigsten würden es allerdings zugeben.»

«Und Dr. Browne-Smith? Wäre er gern Rektor geworden?»

«Ja, ganz sicher», sagte Andrews.

«Würden Sie also sagen, daß seine Erwartungen ans Leben enttäuscht wurden?»

«Kennen Sie jemanden, dessen Erwartungen nicht enttäuscht worden sind?» gab Andrews zurück.

Morse nickte. «Hatte Dr. Browne-Smith Ihrer Kenntnis nach irgendwelche körperlichen Mißbildungen?»

«Nein – das heißt, einmal abgesehen von seiner rechten Hand. Der Zeigefinger war nur noch ein Stummel; es soll eine Kriegsverletzung gewesen sein.» Er sah Morse an. «Aber da habe ich Ihnen vermutlich nichts Neues erzählt, Chief Inspector, die Sache mit der Hand wird Ihnen ja bekannt sein, oder?»

Morse tat, als habe er die Frage nicht gehört. Du liebe Zeit, daß Browne-Smith eine verstümmelte Hand gehabt hatte, war ihm tatsächlich entfallen. Jetzt, wo Andrews es erwähnt hatte, konnte er sich natürlich wieder gut daran erinnern. Er stand auf. Andrews hatte ihm mit dem Gespräch so viele Denkanstöße gegeben, daß er jetzt möglichst schnell allein sein wollte, um zu überlegen, was sich damit anfangen ließ. «Wenn ich dann unsere Unterhaltung beenden darf, Dr. Andrews – ein dringender Termin …»

Andrews hatte sich ebenfalls erhoben. «Eine Sache möchte ich aber noch los werden, bevor ich gehe, Chief Inspector. Ich wollte es Ihnen schon vorhin erzählen, aber dann bin ich wieder davon abgekommen: Sie haben sich danach erkundigt, was es am elften im College zum Frühstück gegeben habe – ich könnte mir daher denken, daß es Sie interessiert zu erfahren, daß Dr. Browne-Smith, solange ich ihn kenne, und das sind nun immerhin schon fünfzehn Jahre, sich sein Frühstück immer allein zubereitet hat. Er hat am gemeinsamen Mittag- und am Abendessen teilgenommen, aber nie am Frühstück.»

«Das könnte in der Tat unter Umständen eine wichtige Information sein», sagte Morse mit falscher Herzlichkeit, darum bemüht, sich um keinen Preis anmerken zu lassen, daß Andrews ihm soeben einen schweren Schlag versetzt hatte. «Ich bedanke mich für Ihre Mühe, und bitte richten Sie der Sekretärin aus, daß ich mich für mein Verhalten heute morgen bei ihr entschuldigen möchte.»

«Das werde ich gern tun», sagte Andrews. «Sie hat eine solche Behandlung nämlich wirklich nicht verdient; sie ist ein ganz reizendes Mädchen.»

«Ach, wirklich?» sagte Morse und schloß hinter ihm die Tür.

Morse kehrte an seinen Schreibtisch zurück und dachte darüber nach, was er gehört hatte. Nach einer Weile griff er zum Telefon, wählte die Nummer der Bodleian Library und ließ sich mit dem Direktor der medizinischen Abteilung verbinden. «Ich benötige da ein paar Informationen bezüglich des Krankheitsbildes bei Hirntumoren …»

Der Direktor versprach, sich sofort darum zu kümmern und rief Morse eine Viertelstunde später zurück.

«Ich habe das Standardwerk zu dem Thema heraussuchen lassen, Chief Inspector. Dr. J. P. F. Coole: Hirnkarzinome. Die wichtigsten Stellen habe ich schon nachgesehen … hier in Kapitel sechs zum Beispiel: ‹Tumore lassen sich grob einteilen in bösartige, das heißt solche, die in das umgebende Gewebe eindringen und es zerstören, und gutartige, die dies nicht tun. Die meisten der bösartigen Tumore haben die Eigenschaft, in anderen, weit entfernten Teilen des Körpers Metastasen oder Sekundärtumore zu bilden. Es gibt allerdings auch bösartige Tumore – sie sind allerdings in der Minderzahl – die zwar ebenfalls in das umgebende Gewebe eintreten und es zerstören, jedoch weder Metastasen noch Sekundärtumore bilden; eine Reihe dieser Tumore von lokaler Malignität treten im oder am Kopf auf. Unter denen, die das Gehirn befallen, sind zu nennen das spongioblastoma multiforme und das diffundierende astrocytoma. Alle Hirntumore sind potentiell tödlich, auch die gutartigen, da sie …›»

«Vielen Dank», sagte Morse, «wenn ich Sie hier einmal unterbrechen darf … Habe ich eben richtig verstanden, daß es Hirntumore gibt, die auf das Gehirn beschränkt bleiben, also keine Metastasen bilden?»

«Ja, ganz genau.»

«Schön, das habe ich also verstanden. Jetzt habe ich aber noch eine weitere Frage: Wäre es denkbar, daß ein solcher Hirntumor bei der erkrankten Person eine Art, nun sagen wir einmal, Persönlichkeitsveränderung bewirkt? Ich meine, daß diese erkrankte Person auf einmal etwas tut, was ganz und gar nicht im Einklang mit ihrem sonstigen Charakter steht.»

«Aber ja!» rief der Direktor und schien hocherfreut über Morse’ Frage. «Steht alles in Kapitel sieben. Ich kann Ihnen die entsprechende Stelle ja gerade mal vorlesen …»

«Also das ist, glaube ich, nicht nötig», sagte Morse. «Es reicht mir, wenn Sie mir aus Ihrer Kenntnis bestätigen, daß eine solche Veränderung durchaus in Betracht kommt.»

«Hm, ja, das kommt sie, in der Tat. Ich kann mich selbst an ein paar Fälle erinnern, da haben sich die Patienten zum Teil plötzlich in höchst merkwürdiger Weise aufgeführt und Dinge getan, die ihnen sonst nicht im Traum eingefallen wären.»

«Ich habe für meine Frage einen ganz bestimmten Grund. Es geht um einen Mann, von dem ich weiß, daß er an einem Hirntumor erkrankt ist. Er ist Zeit seines Lebens immer ein Muster an Korrektheit und Zuverlässigkeit gewesen, und nun scheint er sich, von einem Tag auf den anderen, sozusagen …»

«Ja, es kommt immer ganz plötzlich. Das ist typisch für solche Fälle. Wenn Sie das interessiert, kann ich Ihnen gern ein paar Beispiele dafür geben. Olive Mainwearing aus Manchester etwa …»

«Nein, nein, vielen Dank! Ich habe Ihre Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen. Ich hoffe, ich darf Sie, wenn wir uns nächstesmal im King’s Arms treffen, zu einem Drink einladen?»

Die beiden Männer verabschiedeten sich. Morse legte den Hörer auf und lehnte sich zufrieden in seinem Schreibtischsessel zurück. Durch den sich lichtenden Nebel hindurch glaubte er in der Ferne bereits die hellen Konturen des Horizonts ausmachen zu können.