In jedem Menschen, und sei er auch ein noch so großer Realist, wohnen unerfüllte Sehnsüchte, die ihn, wenn die Umstände danach sind, zu höchst irrationalen Hoffnungen verleiten können.

Die Colebourne Road lag nicht mehr als fünf Minuten Fußweg von der U-Bahnstation East Putney entfernt. Aber Morse hatte es plötzlich nicht mehr besonders eilig. An der Ecke Colebourne Road blieb er unter dem Straßenschild stehen, um etwas Abstand zu seinen Gefühlen zu gewinnen. Nicht einmal ein so unverbesserlicher Romantiker wie er konnte sich doch im Ernst der Hoffnung hingeben, nach dreißig Jahren unversehens jene Frau wiederzufinden, die er damals geliebt und die er nie vergessen hatte. Nein, versuchte er sich zu sagen, eine solche Hoffnung sei illusorisch, und nur ein Narr … Aber genau das war er vielleicht. Wenige Schritte die Straße hinauf befand sich ein Pub mit dem Namen Richmond Arms, und er beschloß, noch einen doppelten Scotch zu trinken, bevor er zu ihr ging – die Begegnung würde so oder so schwierig für ihn werden. Er suchte sich einen ruhigen Tisch in der hintersten Ecke, und plötzlich kam ihm die Erinnerung an einen ähnlich gefühlsschweren Abend wie den heutigen. Er war damals nach langer Zeit wieder einmal zu Besuch bei seiner alten Mutter. Und an jenem Abend hatte er sich fortgestohlen, um den Gottesdienst in der Methodistenkirche nicht zu versäumen, getrieben von der unsinnigen Hoffnung, an dem gewohnten Platz auf der Chorempore wieder das Mädchen stehen und ihm Zulächeln zu sehen, das seine erste Jugendliebe gewesen war. Aber natürlich hatte sie nicht dort gestanden … Morse ging an die Theke und bestellte sich noch einen zweiten Whisky. Auch heute abend würde er wieder eine Enttäuschung erleben, dessen war er sich fast sicher. Es wäre ein zu großer Zufall, wenn jene Frau mit den Initialen W. S. ausgerechnet seine Wendy Spencer wäre. Und doch, Götter, wenn es euch gibt, so macht, daß sie es ist!

Schließlich brach er auf. Es hatte keinen Sinn, die Begegnung noch weiter aufzuschieben. An der Tür des Hauses mit der Nummer 23 zögerte er einen Moment, dann klingelte er. Er spürte, wie sein Herz klopfte. Sowohl in den oberen beiden Stockwerken als auch unten brannte Licht, er würde sie also wohl antreffen.

«Ja, bitte?» Eine dunkelhäutige junge Frau öffnete ihm die Tür.

«Ich bin von der Polizei, Miss …»

«Mrs. – Mrs. Price.»

«Es ist so … Ich suche eine Frau, von der ich weiß, daß sie hier wohnen muß. Ich kenne allerdings ihren Nachnamen nicht …»

«Dann kann ich Ihnen wohl kaum helfen.»

«Ich glaube, sie nennt sich manchmal Yvonne

«Eine Frau namens Yvonne gibt es hier nicht», sagte sie kurz angebunden.

Sie wollte die Tür schon wieder schließen, als plötzlich neben ihr eine andere Frau auftauchte: «Vielleicht kann ich ja helfen …» Sie war hochgewachsen und trug einen weißen Bademantel. Offenbar hatte sie gerade gebadet, denn ihre Haut war noch gerötet, die blonden Haare noch feucht.

«Er ist von der Polizei und behauptet, hier wohne eine Yvonne», sagte Mrs. Price aggressiv.

«Den Nachnamen wissen Sie nicht?» fragte die Frau im Bademantel.

Morse blickte sie an und spürte, wie ihm die Enttäuschung beinahe die Luft abschnürte. «Nein», sagte er gepreßt, «ihr Nachname ist uns nicht bekannt. Aber ich weiß, daß sie hier wohnt – oder jedenfalls vor kurzem noch hier gewohnt hat.»

«Aber ich habe Ihnen doch gerade gesagt …» begann Mrs. Price erregt.

Doch die Frau im Bademantel unterbrach sie: «Laß nur, Angela, ich glaube, ich kann dem Inspector vielleicht Auskunft geben.» Und zu Morse gewandt: «Wollen Sie nicht hereinkommen?»

Während sie vor ihm die enge Treppe hinaufstieg, musterte er mit routiniertem Blick ihre Fesseln und konstatierte, daß sie seinen Ansprüchen mehr als genügten.

«Möchten Sie einen Drink?» fragte sie, als sie einander in ihrem kleinen, aber sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer gegenübersaßen.

«Äh, nein. Ich glaube, lieber nicht.»

«Sie meinen, Sie haben schon genug?»

«Merkt man es mir an?»

Sie nickte, und ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. «Daran, wie Sie das ‹S› aussprechen. Es ist komischerweise immer das ‹S›, das Schwierigkeiten macht, wenn man zuviel getrunken hat – oder wenn man gerade ein Gebiß bekommen hat.»

Morse blickte auf ihren Mund mit den zwei Reihen kräftiger weißer Zähne und fragte in spielerischem Ton: «Wer hat Ihnen denn das erzählt?»

«Das brauchte mir niemand zu erzählen. Ich trinke auch manchmal zuviel.»

Morse nickte. Das Gespräch bewegte sich auf einer Ebene zwangloser Vertrautheit, die ihm nur recht sein konnte. Doch sie war auf der Hut.

«Und jetzt möchte ich wissen, warum Sie gekommen sind», sagte sie bestimmt.

Morse erklärte es ihr, und sie hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Ab und zu schlug sie die Beine übereinander, nicht ohne jedesmal gleich züchtig den Saum ihres Bademantels wieder nach unten zu ziehen, eine Geste, die Morse leicht irritierte. Einer Pfarrersgattin beim Gemeindetee hätte sie gut angestanden, bei ihr jedoch wirkte sie aufgesetzt. Er war sich, gleich als er sie neben Mrs. Price in der Tür hatte auftauchen sehen, sicher, ‹Yvonne› vor sich zu haben und fand diese Vermutung jetzt bestätigt, als sie eine schäbige alte Handtasche heranzog und er in der rechten unteren Ecke die beiden verkratzten Messingbuchstaben sah: W. S.

«Möchten Sie eine Zigarette, Inspector?»

Morse griff in seine Jackentasche, um sein eigenes Päckchen herauszuholen, aber offenbar hatte er es im Pub liegen lassen.

«Hier, nehmen Sie doch von mir.» Sie reichte ihm ihre Packung.

«Sie sind außerordentlich liebenswürdig», hörte er sich sagen, und es war mehr als nur eine Floskel.

Er hatte das Gefühl, als habe sie instinktiv gespürt, daß er einen geheimen Kummer hatte, denn ihre Stimme hatte eben sanft, beinahe mütterlich geklungen. Während sie sich vorbeugte, um ihm Feuer zu geben, öffnete sich ihr Bademantel, so daß er den Ansatz ihrer Brüste sehen konnte, aber es schien ihr egal zu sein. Sie setzte sich wieder, nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und erzählte ihm dann ihre Seite der Geschichte.

Vor einigen Wochen sei Bert Gilbert morgens in der Sauna aufgetaucht, in der sie arbeite. Er sei – anders als die Kunden sonst – sehr anmaßend aufgetreten und habe sie gefragt, ob sie bereit sei, etwas für ihn zu tun, gegen Bezahlung natürlich. Sie habe eingewilligt, und am nächsten Abend sei er zu ihr gekommen und habe ihr die Einzelheiten erläutert. Was das gewesen sei, darauf brauche sie wohl nicht näher einzugehen, das wisse er ja offenbar schon. Auch als ihr Auftrag schon erledigt gewesen sei, habe er sich noch weiter mit ihr treffen wollen und ihr teure Geschenke gemacht; anscheinend habe er geglaubt, er sei in sie verliebt. Eines Tages sei er dann damit herausgerückt, sie solle ihre Arbeit aufgeben, er wolle für sie beide eine Wohnung suchen und mit ihr zusammenziehen. Sie habe jedoch unabhängig bleiben wollen und habe ihm den Laufpaß gegeben. Alles in allem habe sie sich des Eindrucks nicht erwehren können – das habe sie ihm auch gesagt –, daß er das typische Beispiel eines Mannes sei, der angesichts des Alters in Torschlußpanik gerät und nun ganz schnell noch etwas Neues anfangen will.

Morse nickte. «Wie lautet Ihr wirklicher Name?» fragte er.

Sie sah verlegen zu Boden. «Ich geniere mich immer, meinen Vornamen zu nennen. Ich heiße Winifred – Winifred Stewart.»

«Hm.» Er hätte sie gern getröstet, doch er wußte nicht, was er sagen sollte; der Name war wirklich ziemlich scheußlich.

«Und wie heißen Sie?»

«Morse.»

«Ihren Vornamen wollen Sie mir nicht nennen?»

«Nein.»

«Wenn das so ist, dann können Sie vermutlich nachempfinden, wie sehr ich unter meinem Vornamen schon gelitten habe.» Sie lächelte.

Er nickte stumm.

«Möchten Sie jetzt vielleicht doch einen Drink? Ich glaube, Sie sind schon fast wieder nüchtern.»

Er wußte selbst nicht, was ihn trieb, die Frage zu stellen: «Haben Sie viele Männer?»

«Nein, dazu bin ich zu teuer. Es gibt nur wenige, die sich mich leisten können.»

«Sie verdienen viel Geld?»

«Mehr als Sie, nehme ich an.» Diesmal klang ihre Stimme hart und abweisend.

«Haben Sie etwas davon, wenn Sie mit Ihren Kunden …?»

«Sie meinen, ob es mir Spaß macht, mit ihnen zu schlafen?» Sie überlegte einen Moment. «Meistens nicht – aber manchmal schon.» Sie sah in sein unglückliches Gesicht. «Ich dachte, Sie wollten eine ehrliche Antwort.»

«Nun ja …» Er lächelte gequält.

Sie stand auf und goß sich, ohne noch einmal zu fragen, ob er auch etwas wolle, einen Martini ein. «Für einen Mann Ihres Alters scheinen Sie bemerkenswert weltfremd zu sein, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.»

«Da mögen Sie recht haben», sagte er ohne einen Versuch, sich zu verteidigen. Er sah auf einmal alt und müde aus, und sie dachte bei sich, daß er vermutlich einen langen, anstrengenden Tag hinter sich hatte. Sie wäre wohl mehr als erstaunt gewesen, hätte sie gewußt, daß gerade in diesem Moment, ungeachtet aller Erschöpfung, Morse’ Verstand auf Hochtouren arbeitete; denn soeben war ihm aufgegangen, daß es unter den ermittelten Fakten irgendein Detail gab, geben mußte, das entweder noch nicht zu seiner Kenntnis gelangt oder von ihm in seiner wahren Bedeutung falsch eingeschätzt worden war. Er hatte keine Ahnung, um was es sich handeln könne, nur ein ungutes Gefühl in bezug auf seine Recherchen und die instinktive Gewißheit, daß Winifred Stewart, soviel sie ihm auch noch erzählen mochte – und sie schien ja bereitwillig genug –, ihm an diesem Punkt nicht würde weiterhelfen können.

«Wann haben Sie Gilbert das letzte Mal gesehen?» fragte er.

«Ich weiß nicht mehr so genau …»

«Aber Sie haben ihn jedenfalls noch einige Male gesehen, nachdem Sie diesen, nun sagen wir, speziellen Auftrag für ihn erledigt hatten?»

Sie nickte.

«Und nach dem zweiten Auftrag auch noch?»

Sie sah ihn erschrocken an. Der Blick seiner Augen kam ihr auf einmal kalt und unbarmherzig vor. Er schien alles zu wissen, sie fühlte sich ihm ausgeliefert.

«Ja.»

«Erzählen Sie mir alles über diesen zweiten Auftrag!»

Sie sah ihn an, ohne etwas zu sagen, nahm dann ihr Glas und leerte es auf einen Zug. «Bevor ich das tue – wollen Sie mit mir schlafen?»

«Nein.»

Sie stand auf, löste den Gürtel ihres Bademantels, so daß er sich öffnete. Einen Moment lang stand sie nackt vor ihm. «Wollen Sie wirklich nicht?»

«Nein», sagte er. Es kostete ihn große Anstrengung.

«Wie Sie wollen.» Sie zog den Gürtel zusammen und machte einen festen Knoten.

Und dann erzählte sie ihm von ihrem zweiten Auftrag. (Es war mittlerweile schon bald halb neun.) Der Kunde sei ein gewisser Mr. Westerby gewesen, ebenfalls aus Oxford, wie schon der erste Mann, den Gilbert ihr geschickt habe. Morse hörte ihr aufmerksam zu und nickte dann und wann, als bestätige sie nur, was er ohnehin schon wußte. Genau das war das Problem: Was sie erzählte, war zwar durchaus interessant, aber für ihn nicht wirklich neu.

«Haben Sie nicht vorhin etwas von einem Drink gesagt?» fragte er.

Um Viertel vor zwölf, BBC 1 hatte sein Programm schon beendet, waren draußen im Hausflur leise Stimmen zu hören: Winifred Stewart verabschiedete ihren Besucher. Mrs. Price warf ihrem Mann einen bedeutungsvollen Blick zu. Hatte sie nicht immer schon gesagt, stille Wasser sind tief?

Lewis hatte den ganzen Abend über auf einen Anruf von Morse gewartet und auch selbst mehrere Male versucht, ihn zu erreichen, denn er hatte eine Neuigkeit für ihn: Im Lonsdale College war eine Ansichtskarte aus Griechenland eingetroffen. Der Absender war ein gewisser G. Westerby. Nach einem letzten vergeblichen Anruf im Präsidium ging Lewis gegen zwölf Uhr, ungefähr zur selben Zeit, zu der Morse in der Richmond Road endlich ein Taxi gefunden hatte, enttäuscht zu Bett.

Gegen zwei Uhr lag Winifred Stewart immer noch wach. Die Nacht war schwül; Winifred hatte kein Nachthemd an und nur eine leichte Decke über sich gebreitet. Ihre Gedanken kreisten um Morse. Sie hatte das Zusammensein mit ihm genossen, und Teile ihrer selbst wünschten sich sehnlichst, er möchte zurückkehren, obwohl sie sich darüber im klaren war, daß sie dann nichts, gar nichts mehr vor ihm würde verbergen können. Von ihrem ersten, ihrem zweiten Auftrag wußte er nun, hatte wohl auch vorher schon davon gewußt oder es zumindest geahnt – zwei Drittel der Geschichte waren somit erzählt. Das letzte schreckliche Drittel allerdings … Ob er das auch ahnte oder gar kannte? Und mit einem anderen Teil ihrer selbst wünschte sie, genauso instinktiv, wie sie ihn sich vorher zurückgewünscht hatte, daß sie ihn nie wieder zu Gesicht bekäme, nie wieder; denn wenn irgend jemand jemals die Wahrheit herausfinden würde – dann er.

Gegen drei Uhr stand sie auf und holte sich aus dem Badezimmer eine Schlaftablette.

Um vier Uhr war sie immer noch nicht eingeschlafen. Plötzlich zitternd, zog sie die Decke enger um sich. Die Nacht erschien ihr auf einmal kalt und feindlich.