Der Pathologe erläutert einem mißmutigen Morse die Schwierigkeiten, über Wasserleichen ein gesichertes Urteil abzugeben.
Nachdem die Leiche abtransportiert worden war, begaben sich Morse, Lewis und der Pathologe zum immer noch geschlossenen Boat Inn und wurden beim Wirt mit der Bitte vorstellig, er möge eine Ausnahme machen und die Bar für sie öffnen. Dieser, an sich ein gefälliger Mann, wies ihr Ansinnen vorsichtshalber doch lieber ab. Die Bar zu öffnen sei leider ausgeschlossen, weil ungesetzlich. Er habe aber einen anderen Vorschlag: wenn sie einverstanden seien, so würde er ihnen eine Flasche Glenfiddich verkaufen und sei auch gerne bereit, ihnen im Hinterzimmer einen Tisch zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise kämen sie zu ihrem Drink, ohne daß irgend jemand ihm oder ihnen eine Gesetzesübertretung vorwerfen könne.
Kaum daß sie saßen, war Morse’ erste Frage, wie vorhersehbar: «Wie lange hat er im Wasser gelegen?» Der Gerichtsmediziner ließ sich Zeit. Er goß sich erst einmal reichlich ein und nahm einen tiefen Schluck, bevor er antwortete.
«Gute Frage. Ich werde morgen mal versuchen, eine Antwort zu finden.»
Morse griff mit säuerlichem Gesicht nach seinem Glas. Aber was ärgerte er sich? Er hatte im Grunde ja schon immer gewußt, daß von einem Pathologen kaum je eine vernünftige Auskunft zu erwarten war. Doch schnell trieb ihn seine professionelle Neugier, es dennoch ein zweites Mal zu versuchen.
«Eine Woche vielleicht?»
Der Doktor zuckte nur mit den Achseln.
«Du meinst, es könnte auch länger sein?»
«Oder kürzer.»
«O verdammt, Max, sei nicht so stur!» Morse, im Begriff, sich von neuem einzuschenken, knallte wütend die Flasche auf den Tisch. Lewis saß ungerührt dabei, er war solche Ausbrüche von Morse gewöhnt. Was ihn beschäftigte, war die Frage, ob einer der beiden wohl daran denken würde, ihm vielleicht auch einmal einen Schluck von dem Whisky anzubieten. Nicht, daß er annehmen würde – aber es wäre doch eine schöne Geste.
Der Pathologe, ebenfalls ganz unbeeindruckt von Morse’ Zorn, hob seinen Whisky zum Mund, nahm ein paar kleine Schlucke und schloß genießerisch die Augen. Als er sich danach seinem Gegenüber zuwandte, war sein sonst eher häßliches Gesicht noch wie verklärt von der gerade genossenen Wonne: «Der reinste Nektar, findest du nicht?»
Morse war für ein Gespräch über die Qualitäten eines Whisky immer zu haben, und schließlich hatte man nach stundenlangem Reden über eine Leiche ohne Kopf, Hände und Beine ein bißchen Entspannung auch redlich verdient. «Das liegt am Wasser der schottischen Bäche», antwortete er mit dem bestimmten Ton des Experten.
«Ach, Unsinn, es liegt natürlich daran, daß sie das Wasser weglassen.»
Morse grinste. «Kann auch sein. Aber wo wir gerade von Wasser reden … Kannst du mir nicht doch meine Frage von vorhin beantworten?»
«Man merkt, daß du von Wasser, welcher Art auch immer, keine Ahnung hast. Laß dir also eins von mir gesagt sein: Wenn eine Leiche auf meinen Seziertisch kommt, die sich vorher – ob nun längere oder kürzere Zeit, ist egal – im Wasser befunden hat, weiß ich sofort, daß ich mit Schwierigkeiten zu rechnen habe. Bei diesen Leichen ist es immer sehr kompliziert, genau herauszufinden, was vorher mit ihnen passiert ist. Allein festzustellen, ob der Tod überhaupt durch Ertrinken eingetreten ist oder ganz andere Ursachen hat, ist eines der kitzligsten Probleme in der gesamten Gerichtsmedizin.»
«Aber das Problem hast du doch gar nicht. Wir wissen doch, daß der Bursche nicht ertrunken ist. Schließlich sieht jeder Laie, daß sein Kopf …»
«Du kannst einem mit deiner Besserwisserei wirklich auf die Nerven gehen. Die Todesursache ist hier natürlich nicht das Problem. Da hast du schon recht, aber danach hast du mich ja auch gar nicht gefragt. Was du wissen wolltest, wenn ich dich daran erinnern darf, war doch, wie lange er schon im Kanal liegt, oder?»
Morse nickte.
«Na also. Und da gibt es nun fünf Standardfragen, die man immer stellt, wenn man eine Leiche bekommt, die im Wasser gefunden wurde; in diesem Fall sind sie zum größten Teil übrigens sehr einfach zu beantworten. Erstens: War der Tote bei Eintritt ins Wasser noch am Leben? Antwort: Mit ziemlicher Sicherheit – Nein. Zweitens: Trat der Tod ein durch Ertrinken? Antwort: Ebenfalls Nein. Drittens: Erfolgte der Tod umgehend? Antwort: Die Frage entfällt hier, da der Tod sich an anderer Stelle ereignete. Viertens: Wenn der Tod nicht durch Ertrinken eintrat, gibt es dann andere Faktoren, die den Schluß auf einen gewaltsamen Tod nahelegen? Antwort: Mit ziemlicher Sicherheit – Ja. Fünftens: Wo erfolgte der Eintritt ins Wasser? Antwort: Das weiß der liebe Himmel! Vermutlich dort, wo die Leiche gefunden wurde – das ist meistens der Fall. Genausogut kann es aber auch sein, daß sie, bestimmte Bedingungen vorausgesetzt, eine Strecke weit getrieben ist. Wenn die sich bildenden Körpergase mit gewissen inneren Reaktionen zusammentreffen, passiert es häufig, daß die Leiche zur Wasseroberfläche steigt und …»
Morse unterbrach ihn und wandte sich an Lewis: «Wer hat ihn eigentlich entdeckt?»
«Ein Mann, der am Kanal angeln wollte. Er rief uns an und sagte, im Kanal treibe etwas, das wie eine Leiche aussehe.»
«Wir haben hoffentlich seinen Namen – ich meine den des Anglers», sagte Morse scharf, und Lewis entdeckte nicht ohne eine Spur von Unbehagen in seinen Augen ein Funkeln jener unbedingten Entschlossenheit, die ihn überall so gefürchtet machte.
«Ich habe den Anruf gar nicht entgegengenommen, Sir. Das war Constable Dickson.»
«Und der hat Namen und Adresse selbstverständlich, wie es sich gehört, notiert?»
«Den Namen schon, die Adresse, soweit ich weiß, nicht. Der Mann hatte schon aufgehängt, bevor Dickson dazu kam, ihn danach zu fragen. – Ich finde, Dickson trifft da keine Schuld», setzte er mutig hinzu.
«Aber wer redet denn hier von Schuld, Lewis?» fragte Morse in beleidigtem Ton. «Übrigens, wie heißt er denn nun?»
«Rowbotham. Simon Rowbotham.»
«Simon Rowbotham! Ist denn das zu glauben! Offenbar hat Dickson mal wieder nicht richtig hingehört.»
«Das stimmt nicht, Sir. Er hat mir gesagt, daß er sich den Namen sogar extra habe buchstabieren lassen.»
«Großartig! Wenn es nach Ihnen ginge, müßte ich ihm dafür wohl noch ein besonderes Lob aussprechen, was?»
«Ich wollte doch nur sagen, daß Sie Constable Dickson unrecht tun und daß der Name stimmt.»
«Der Name soll stimmen? Daß ich nicht lache! Simon? Und dann als Nachname Rowbotham? Ich bitte Sie, Lewis, merken Sie denn nicht, wie falsch das klingt? George zum Beispiel, das würde passen, das ist ein Name, den proletarische Eltern für ihren Sohn auswählen könnten. Simon dagegen läßt doch ganz klar an eine blaublütige Abstammung denken. Dem würde ein Nachname wie etwa Carruthers vielleicht entsprechen. Sie sehen also, Lewis, Simon Rowbotham ist ein Unding. Der Bursche, der angerufen hat, wollte offenbar seinen richtigen Namen nicht sagen und hat sich schnell einen ausgedacht.»
Der Pathologe, der bisher schweigend zugesehen hatte, wie Lewis die hitzig vorgetragenen Ausführungen von Morse mit eingezogenem Kopf hilflos über sich hatte ergehen lassen, hielt es jetzt doch allmählich für an der Zeit, dem Sergeant zu Hilfe zu kommen.
«Dieses ganze Gerede über Vor- und Nachnamen ist einfach lächerlich; und du weißt selbst am besten, daß das nur damit zusammenhängt, daß du aus irgendeinem Grund mit deinem eigenen Vornamen auf Kriegsfuß stehst. Deswegen hütest du ihn ja auch wie ein Staatsgeheimnis. Selbst ich, obwohl wir uns nun schon eine halbe Ewigkeit kennen, weiß ja nur den Anfangsbuchstaben; aber es ist mir auch völlig schnurz, ob das ‹E› nun für Eric oder Ernie oder sonstwas steht. Wenn du der Meinung bist, daß deine Eltern dir einen unpassenden Vornahmen gegeben haben und du ihn möglichst lieber nicht nennst, finde ich das völlig in Ordnung; aber nun gleich alle Vornamen zu kategorisieren und in passende und unpassende einzuteilen, finde ich reichlich übertrieben.»
Morse, der nur zu gut wußte, daß der Doktor recht hatte, versuchte gar nicht erst sich zu verteidigen, sondern starrte nur, ohne ein Wort zu sagen, in sein Whiskyglas.
Es herrschte ein unbehagliches Schweigen.
Der Pathologe ergriff als erster wieder das Wort: «Ein Gutes hat der Zustand des Toten immerhin – du brauchst dich nicht mit der Frage aufzuhalten, ob er Selbstmord begangen hat. Und auch ein Unfall kommt ja wohl kaum in Frage, es sei denn, man wäre bereit anzunehmen, daß etwa eine Schiffsschraube ihm gleich alles auf einmal – Kopf, Beine, Hände – abgetrennt hat.»
«Du schließt also Unfall als Todesursache aus?»
«Ich schließe zu diesem Zeitpunkt noch gar nichts aus. Ich kann erst etwas sagen, wenn ich ihn seziert habe.»
Morse stöhnte gequält. «Aber eine grobe Schätzung abgeben, wie lange er deiner Meinung nach im Wasser gelegen hat, das könntest du doch?»
«Ich kann nichts sagen, bevor ich ihn nicht …»
«Eine grobe Schätzung!» sagte Morse fast flehend.
«Noch nicht sehr lange», knurrte der Gerichtsmediziner unwillig. «Das Todesdatum liegt aber möglicherweise schon länger zurück.»
«Und wie lange ist nicht sehr lange?»
«Das ist eine knifflige Frage.»
«Nenn mir eine Frage, die für dich nicht knifflig ist!» sagte Morse aufgebracht. «Aber tot ist er doch, oder?»
Der Pathologe trank seinen Whisky aus und goß sich noch einmal nach. Er lächelte nachsichtig. «Ich weiß, daß die Todeszeit dir bei deinen Ermittlungen einen wichtigen Anhaltspunkt bietet. Aber das ist eben nicht so einfach. Es gibt zu viele Variablen …»
«Das interessiert mich alles nicht.»
«Viel besser für dich wäre», fuhr der Arzt fort, «wenn es dir gelänge, einen Zeugen ausfindig zu machen, der gesehen hat, wie er ins Wasser geworfen, oder noch besser, wie er umgebracht wurde.»
Morse nickte und sah zu Lewis hinüber, der sofort begriff.
«Ich werd nicht lange brauchen, Sir», sagte er, «es gibt ja nur höchstens zwölf, vierzehn Häuser hier.» Schon im Aufstehen begriffen, wandte er sich an den Pathologen: «Es wäre sehr hilfreich, Sir, wenn Sie ungefähr sagen könnten, wie lange er schon im Wasser gelegen hat.»
«Zwei, drei Tage, Sergeant.»
«Auf einmal weißt du’s also», sagte Morse grollend, als Lewis gegangen war.
«Nein, wissen tu ich gar nichts», gab der Pathologe zurück. «Aber dein Lewis ist immer so höflich, nicht? Da verdient er doch ein bißchen Hilfe.»
«Zwei, drei Tage …» wiederholte Morse nachdenklich.
«Sehr viel länger jedenfalls nicht. Und der Tod dürfte ungefähr einen Tag davor eingetreten sein. Seine Haut ist über das Stadium des sogenannten Waschfraueneffekts bereits hinaus, und das bedeutet, daß er länger als vierundzwanzig Stunden im Wasser gelegen hat; es sieht mir ganz danach aus, als ob er auch das, was man als aufgedunsene Phase bezeichnet, hinter sich hat und sich bereits dem Stadium nähert, in dem die Haut gebleicht wird. Ich denke, zwei bis zweieinhalb Tage dürften ungefähr hinkommen.»
«Und da sein Mörder nicht so dumm gewesen sein wird, ihn bei hellem Tageslicht in den Kanal zu werfen …»
«Ja, genau. Ich tippe auf Sonntag abend. Falls ich wider Erwarten noch lebende Flöhe an ihm entdecken sollte, so werde ich allerdings wissen, daß alles, was ich dir jetzt erzählt habe, Unsinn gewesen ist – die gehen nämlich im Wasser nach spätestens vierundzwanzig Stunden ein.»
«Nach dem, was ich von ihm gesehen habe, glaube ich kaum, daß du Flöhe bei ihm finden wirst – ob tote oder lebende.»
«Sag das nicht! Das hängt ganz davon ab, wo er aufbewahrt wurde, bevor man ihn ins Wasser warf. Vielleicht hat er im Kofferraum eines Wagens gelegen – zusammen mit einem toten Hund.»
Morse nickte trübe. Es paßte ihm nicht, daß er völlig im dunkeln tappte. «Dieser Fall gibt mir mehr Rätsel auf, als mir lieb ist, Max», sagte er. «Daß jemand seinem Opfer, um eine Identifizierung zu verhindern, den Kopf abtrennt, das erscheint mir ja noch plausibel; auch daß die Hände fehlen, kann ich mir zur Not erklären. Aber warum, um alles in der Welt, hat man ihm auch noch die Beine abgeschnitten?»
«Aus genau demselben Grund wie Kopf und Hände.»
«Du meinst, weil sie uns erlaubt hätten, ihn zu identifizieren? Das würde ja bedeuten, daß sie irgendeine Besonderheit aufgewiesen hätten … Denkbar wäre es natürlich. Vielleicht hat er Holzbeine gehabt, was meinst du?»
«Das heißt nicht Holzbeine, sondern künstliche Prothesen.»
«Eine andere Möglichkeit wäre, daß er keine Zehen mehr gehabt hat – wäre auch eine Besonderheit.»
«In der Tat», sagte der Pathologe ironisch. «So jemand ist mir bisher jedenfalls noch nicht untergekommen. Aber in einem anderen Punkt muß ich dir recht geben. Er sah wirklich nicht aus wie jemand, der Flöhe gehabt hat. Elegant geschnittenes Jackett von guter Qualität, teures Hemd. Der Bursche muß in gehobener Position gearbeitet haben – gutes Gehalt, Büro mit Teppichboden, Dienstwagen … Also, ich könnte mir sehr gut vorstellen, daß er Bankdirektor gewesen ist.»
«Oder Professor», sagte Morse nachdenklich.