Wir wohnen einer Notenkonferenz der Universität Oxford bei, auf der die sieben zu diesem Zweck ernannten Prüfer über die Ergebnisse der Abschlußklausuren für den ‹Bachelor of Arts› zu befinden haben.
«Was die anderen Arbeiten betrifft, hätte er sonst eine Eins machen können», sagte der Vorsitzende und blickte erneut auf die sechs vor ihm liegenden Beurteilungen. Keine schlechter als Beta plus und sogar ein paar Alphas dabei. Nur die Note für Griechische Geschichte fiel ab. Ein Beta minus minus – Delta. Nicht gerade Ausweis überragender intellektueller Fähigkeiten.
«Nun, meine Herren, was denken Sie? Ich bin dafür, ihm eine Chance zu geben und ihn in die mündliche Prüfung zu nehmen.»
Fünf der Anwesenden, die um den großen, mit verschiedenen Papieren beladenen Tisch saßen, bekundeten durch eine sparsame Geste, indem sie leicht die Hand hoben, ihr Einverständnis.
«Anderer Ansicht?» wandte sich der Vorsitzende dem sechsten zu.
«Ganz recht. Ich bin der Meinung, er hat diese Chance nicht verdient – nicht auf Grund dieser Leistungen.» Er wies mit einer abschätzigen Handbewegung auf die Arbeit vor ihm. «Seine Klausur zeigt meines Erachtens eindeutig, daß er von der Geschichte Athens außerhalb des fünften Jahrhunderts so gut wie keine Ahnung hat. Ich bedaure, das sagen zu müssen, aber wenn er es auf eine Eins abgesehen hat, dann hätte er mehr tun müssen.» Er wiederholte seine abschätzige Geste, auf seinem Gesicht einen Ausdruck gelinden Abscheus, der seinen ohnehin stets mißmutigen Zügen nicht besonders zuträglich war. Dennoch stand außer Zweifel – und alle Anwesenden hätten dies sofort zugegeben –, daß niemand mit größerer Sicherheit so subtile Entscheidungen wie die zwischen Beta plus und Beta plus plus zu treffen in der Lage war als er. Es gab allerdings auch niemanden, der eine einmal getroffene Entscheidung so unnachgiebig vertrat.
«Wir alle wissen doch aber», begann einer der anderen Prüfer, «daß unsere Fragen bisweilen etwas nach dem Zufallsprinzip gestellt sind – gerade auch, was Griechische Geschichte angeht.»
«Ich habe die Fragen selbst konzipiert», unterbrach ihn sein Kollege hitzig, «und kann Ihnen versichern, daß sie einen absolut angemessenen Querschnitt repräsentieren.»
Der Vorsitzende wirkte erschöpft. «Meine Herren, wir haben einen langen, anstrengenden Tag hinter uns und sind kurz vor dem Ziel. Ich möchte Sie, auch in Ihrem eigenen Interesse, bitten, jetzt doch möglichst …»
«Selbstverständlich hat er das Recht auf eine mündliche Prüfung», sagte einer der Prüfer ruhig, aber entschieden. «Ich habe seine Logikklausur begutachtet – sie ist stellenweise geradezu brillant.»
«Das ist auch meine Meinung», erwiderte der Vorsitzende. «Wir haben durchaus Verständnis für Ihre Haltung, Dr. Browne-Smith, aber …»
Der Angesprochene hob in gespielter Gleichgültigkeit die Schultern. «Bitte. Sie sind der Vorsitzende.»
«Jawohl, ich bin der Vorsitzende, und deshalb erhält dieser junge Mann auch seine Chance.»
Der Logikprüfer mochte diese schroffe Antwort nicht im Raum stehen lassen und griff vermittelnd ein: «Was halten Sie davon, wenn Sie selbst es übernehmen würden, die Prüfung durchzuführen, Dr. Browne-Smith?»
Browne-Smith schüttelte den Kopf. «Nein, ich habe ein Vorurteil gegen den Burschen, und außerdem geht mir die ganze Prüferei, ehrlich gesagt, auch etwas auf die Nerven. Ich habe das Gefühl, als komme ich zu nichts anderem mehr.»
Dem Vorsitzenden schien ebenfalls daran gelegen zu sein, der Konferenz einen friedlichen Abschluß zu geben: «Was meinen Sie, könnten wir nicht Andrews fragen? Glauben Sie, er wäre dazu bereit?»
Browne-Smith nickte uninteressiert. «Er ist ein ordentlicher Mann.»
Der Vorsitzende schrieb erleichtert seine Abschlußbemerkung: Am 18. Juli zur mündlichen Prüfung bei Mr. Andrews (Lonsdale), während die anderen begannen, ihre Unterlagen einzusammeln.
«Nun, meine Herren, dann darf ich mich bei Ihnen bedanken. Bevor wir uns jetzt trennen, möchte ich Sie aber noch bitten, daß wir uns über den Termin für die abschließende Konferenz einigen. Es kommt eigentlich nur Mittwoch, der 23. oder Donnerstag, der 24. in Frage.»
Alle, außer Browne-Smith, zogen ihre Terminkalender aus der Tasche. Man diskutierte kurz und einigte sich schließlich auf Mittwoch, den 23. Juli. Die ganze Zeit über wirkte Browne-Smith, als ob ihn das alles nichts angehe.
Dem Prüfungsvorsitzenden war seine unbeteiligte Haltung nicht entgangen. «Ich hoffe, der Mittwoch ist Ihnen recht, Dr. Browne-Smith?»
Browne-Smith schien einen Moment zu zögern, dann sagte er: «Ich wollte Ihnen gerade mitteilen, daß ich vermutlich an der Konferenz nicht werde teilnehmen können, ich wäre sonst selbstverständlich gern gekommen, aber ich habe an dem Mittwoch … äh … Also, so wie es aussieht, werde ich wahrscheinlich Mitte übernächster Woche gar nicht in Oxford sein.»
Der Prüfungsvorsitzende nickte etwas unbehaglich. Es erschien ihm einleuchtend, daß Browne-Smith nach ihrem Disput keinen besonders großen Wert darauf legte, bei der letzten Konferenz dabeizusein. «Dann wird uns nichts anderes übrigbleiben, als zu versuchen, so gut wie möglich ohne Sie auszukommen. Auf jeden Fall noch einmal vielen Dank. Sie waren uns bei unseren Entscheidungen eine große Hilfe – wie immer.» Er schloß das dicke schwarze Buch vor sich auf dem Tisch und blickte auf seine Uhr. Fünf nach halb neun. Ja, es war wirklich ein langer Tag gewesen; das mochte ein wenig entschuldigen, daß er gegen Ende so scharf geworden war.
Sechs Angehörige des Prüfungsgremiums beschlossen, noch auf einen Drink in das King’s Arms in der Broad Street zu gehen. Der siebte, Dr. Browne-Smith, bat, ihn zu entschuldigen. Man verabschiedete sich. Browne-Smith verließ das Prüfungsgebäude und schritt die High Street hinunter in Richtung Lonsdale College, das er durch einen Nebeneingang (Nur für Professoren) betrat. In seinen Räumen angekommen, schluckte er sofort sechs Tabletten und legte sich, so wie er war, vollständig angezogen, aufs Bett. Es dauerte eine gute Stunde, bis die rasenden Kopfschmerzen nachließen und er einschlief.
Am Morgen des nächsten Tages, es war Donnerstag, der 10. Juli, erhielt er einen merkwürdigen, für seine Verhältnisse geradezu aufregenden Brief.