3 Holden

Nach fast zwei Tagen unter starkem Bremsschub taten Holden die Knie und der Hals weh. Und der Kopf. Teufel, die Füße auch. Er stieg gerade durch die Luke in die Mannschaftsquartiere der Knight, als Naomi aus dem Frachtraum heraufgeklettert kam. Sie zeigte ihm lächelnd den hochgestreckten Daumen.

»Der Bergungsmech ist verzurrt«, meldete sie. »Der Reaktor läuft hoch. Wir können fliegen.«

»Gut.«

»Haben wir schon einen Piloten?«, wollte sie wissen.

»Dem Schichtplan nach ist heute Alex Kamal dran, also ist er unser Mann. Ich wünschte, Valka wäre an der Reihe gewesen. Er ist kein so guter Pilot wie Alex, aber er ist ruhiger, und mir tut der Kopf weh.«

»Ich mag Alex, er ist so herrlich burlesk«, sagte Naomi.

»Ich weiß nicht, was burlesk heißt, aber wenn das bedeutet, dass er einfach nur Alex ist, dann ermüdet es mich.«

Holden kletterte die Leiter zur Operationszentrale und zum Cockpit hinauf. In der spiegelnden schwarzen Fläche einer Anzeigentafel in der Wand sah er Naomis Spiegelbild hinter sich grinsen. Er verstand nicht, wie die Gürtler, die so dünn wie Bleistifte waren, nach hohen G-Belastungen so schnell wieder auf die Beine kamen. Vermutlich lag es an Jahrzehnten der Übung und der genetischen Auswahl.

In der Zentrale schnallte Holden sich vor dem Kommandopult an. Die Beschleunigungsliege passte sich lautlos seiner Körperform an. Bei dem halben G, das Ade für den Endanflug vorgesehen hatte, fühlte sich der Schaumstoff gut an. Holden stöhnte erleichtert. Die Schalter, die aus Plastik und Metall bestanden und dazu ausgelegt waren, hohe G-Belastungen und Jahrhunderte der Benutzung zu überstehen, klickten laut. Die Knight reagierte mit einer Reihe aufflammender Diagnoselampen und einem fast unmerklichen Summen.

Ein paar Minuten später erschien Alex Kamals schütteres schwarzes Haar im Zugang, dann folgte das fröhliche runde Gesicht, nach vielen Jahren der Arbeit im Weltraum unwiderruflich dunkelbraun verfärbt. Alex war auf dem Mars aufgewachsen und daher etwas stämmiger als ein Gürtler. Im Vergleich zu Holden war er immer noch sehr schlank, trotzdem spannte sich der Raumanzug straff über dem Bauchansatz. Alex war für die marsianische Raummarine geflogen, hatte es jedoch aufgegeben, sich militärisch fit zu halten.

»Howdy, XO«, leierte er. Die Sprechweise der Bewohner des Mariner Valley, die den Wilden Westen nachahmten, nervte Holden. Auf der Erde gab es seit hundert Jahren keine Cowboys mehr, und auf dem Mars gab es keinen einzigen Grashalm, der nicht unter einer Kuppel steckte, und kein einziges Pferd, das nicht im Zoo lebte. Das Mariner Valley war von Leuten aus Ostindien, China und ein paar Texanern besiedelt worden. Anscheinend war der leiernde texanische Tonfall ansteckend, denn inzwischen redeten sie alle so. »Was macht das alte Streitross heute?«

»Bis jetzt läuft alles glatt. Wir brauchen einen Flugplan. Ade wird uns«, er blickte auf die Zeitanzeige, »in vierzig Sekunden endgültig abbremsen, also beeilen Sie sich. Ich will da raus, die Sache erledigen und die Canterbury wieder auf Kurs nach Ceres bringen, ehe die Sterne verblassen.«

»Alles klar.« Alex kletterte ins Cockpit der Knight.

Es klickte in Holdens Kopfhörer, dann meldete sich Naomi: »Amos und Shed sind an Bord. Hier unten ist alles bereit.«

»Danke. Ich warte nur noch auf die Flugdaten von Alex, dann starten wir.«

Die Mannschaft war auf das absolut notwendige Minimum beschränkt: Holden als Kommandant, Alex flog sie hin und wieder zurück, Shed sollte etwaige Überlebende versorgen, und falls es keine gab, konnten Naomi und Amos das Wrack plündern.

Es dauerte nicht lange, bis Alex nach unten rief: »Alles klar, Boss. Wir werden ungefähr vier Stunden Teekesselchen spielen. Totaler Masseverbrauch bei dreißig Prozent, aber der Tank ist voll. Gesamtzeit der Mission: elf Stunden.«

»Alles klar. Danke, Alex«, bestätigte Holden.

»Teekesselchen« war der Ausdruck der Marinepiloten für das Fliegen mit Steuerdüsen, die überhitzten Dampf als Reaktionsmasse benutzten. So nahe an der Canterbury konnte die Knight den Fusionsantrieb nicht einsetzen, und für einen so kurzen Flug wäre es ohnehin eine Verschwendung gewesen. Der Antrieb stammte aus der Zeit vor Epstein und hatte keinen guten Wirkungsgrad.

Holden aktivierte die Verbindung zur Brücke der Canterbury. »Bitte um Erlaubnis, den Stall verlassen zu dürfen. Holden hier, die Knight ist startklar.«

»Alles klar, Jim, legen Sie los«, antwortete McDowell. »Ade hält jetzt an. Seid mir ja vorsichtig da draußen. Das Shuttle ist teuer, und ich mag Naomi.«

»In Ordnung, Kapitän.« Dann sprach Holden über die interne Leitung den Piloten an. »Startfreigabe. Bringen Sie uns raus.«

Holden lehnte sich zurück und lauschte dem Knirschen, als die Canterbury die letzten Manöver durchführte. Stahl und Keramik konnten ebenso laut und unheildrohend knarren wie die Holzplanken auf den alten Segelschiffen. Oder wie die Gelenke eines Erders nach hoher G-Belastung. Holden empfand Mitgefühl mit dem Schiff.

Natürlich hielten sie nicht an. Im Weltraum hält nichts jemals wirklich an. Sie erreichten lediglich einen passenden Flugvektor im Verhältnis zu einem anderen Objekt. Jetzt folgten sie CA-2216862 auf dessen nach Jahrtausenden zählender fröhlicher Karussellfahrt um die Sonne.

Ade gab ihnen grünes Licht, Holden ließ die Luft aus dem Hangar und öffnete die Außentüren. Alex bugsierte sie mit überhitzten weißen Dampfstrahlen hinaus.

Sie machten sich auf die Suche nach der Scopuli.

CA-2216862 war ein Felsklotz von einem halben Kilometer Durchmesser, der sich vom Gürtel entfernt hatte und von Jupiters gewaltigem Schwerkraftfeld angezogen worden war. Schließlich hatte er in der Weite zwischen Jupiter und dem Gürtel seine eigene langsame Umlaufbahn um die Sonne in einem Bereich gefunden, der selbst nach den Maßstäben des Weltraums als leer galt.

Der Anblick der Scopuli, die sanft an der Seite des Asteroiden angelegt hatte und von der minimalen Schwerkraft des Felsblocks an Ort und Stelle gehalten wurde, ließ Holden erschauern. Selbst wenn man blind flog und alle Instrumente ausgefallen waren, bestand nur eine unendlich geringe Wahrscheinlichkeit, ein solches Objekt durch Zufall zu treffen. Es war wie eine Straßensperre von einem halben Kilometer Breite auf einem Millionen Kilometer durchmessenden Highway. Zufällig war es gewiss nicht zu dieser Begegnung gekommen. Er kratzte sich zwischen den Haaren, die sich im Nacken aufgestellt hatten.

»Alex, halten Sie in zwei Kilometern Entfernung an«, befahl Holden. »Ade, was kannst du mir über das Schiff erzählen?«

»Die Konfiguration des Rumpfs entspricht der Registratur. Es ist eindeutig die Scopuli. Sie strahlt weder elektromagnetisch noch im Infrarotbereich, nur der kleine Notrufsender ist aktiv. Anscheinend ist der Reaktor heruntergefahren, aber das war ein manueller Eingriff und kein Schaden, denn es gibt auch kein Strahlungsleck«, berichtete Ade.

Holden betrachtete die Bilder, die ihm die Teleskope der Knight einspielten, und das Radarbild, das die Abtaster von der Hülle der Scopuli erzeugten. »Was ist das da an der Flanke für ein Ding, das wie ein Leck aussieht?«

»Äh«, machte Ade. »Lidar zeigt mir an, dass dort ein Leck im Rumpf ist.«

Holden runzelte die Stirn. »Na gut, dann warten wir noch einen Augenblick und überprüfen die Umgebung. Hast du sonst noch etwas auf dem Schirm?«

»Nichts, und die große Anlage hier auf der Canterbury kann ein Kind aufspüren, das auf Luna mit Steinen wirft. Becca sagt, im Umkreis von zwanzig Millionen Kilometern sei rein gar nichts«, berichtete Ade.

Holden trommelte mit den Fingerspitzen einen komplizierten Rhythmus auf die Armlehne und schwebte prompt in den Gurten hoch. Ihm war heiß. Er griff zur Seite, um die nächste Luftdüse auf sein Gesicht zu richten. Vor Schweiß juckte ihm bereits die Kopfhaut.

Wenn Sie da draußen etwas Komisches bemerken, dann spielen Sie bloß nicht den Helden. Sammeln Sie einfach nur alles ein, und kommen Sie zurück. So lauteten seine Befehle. Er betrachtete das Abbild der Scopuli und das Leck im Rumpf.

»Also gut«, entschied er. »Alex, bringen Sie uns auf einen Viertelkilometer heran, und halten Sie dann die Position. Wir fliegen mit dem Mech rüber. Oh, und fahren Sie den Hauptantrieb hoch. Falls sich auf dem Schiff da drüben etwas Gemeines verbirgt, will ich so schnell wie möglich abhauen und alles hinter uns zu Schlacke zerschmelzen, klar?«

»Alles klar, Boss. Die Knight bleibt im Karnickelmodus, bis Sie etwas anderes befehlen«, bestätigte Alex.

Holden blickte noch einmal zum Kommandopult und suchte nach einem roten Warnlicht, das es ihm erlauben würde, zur Canterbury zurückzukehren. Alles strahlte freundlich grün. Er öffnete die Schnallen und stieß sich vom Sitz ab. Ein leichter Tritt mit einem Fuß gegen die Wand bugsierte ihn zur Leiter hinüber. Mit leichten Berührungen der Sprossen bewegte er sich, den Kopf voran, hinunter.

Im Mannschaftsbereich waren Naomi, Amos und Shed noch an die Beschleunigungsliegen geschnallt. Holden hielt sich an der Leiter fest und drehte sich, damit er seine Leute nicht verkehrt herum ansehen musste. Auch sie lösten die Gurte.

»Die Lage sieht folgendermaßen aus. Die Scopuli hat ein Leck, und jemand hat sie neben diesem Felsen treibend zurückgelassen. Über die Teleskope können wir nichts erkennen, es ist also möglicherweise schon eine Weile her, und die Besatzung ist längst fort. Naomi, Sie steuern den Bergungsmech, wir anderen drei schnallen uns daran fest und fliegen mit dem Gerät hinüber. Shed, Sie bleiben beim Mech, solange wir keine Verletzten finden, womit allerdings kaum zu rechnen ist. Amos und ich gehen durch das Leck ins Schiff und sehen uns um. Wenn wir etwas finden, das auch nur entfernt nach einer Falle aussieht, kehren wir zum Mech zurück, Naomi fliegt uns zur Knight, und wir hauen ab. Noch Fragen?«

Amos hob eine fleischige Hand. »Vielleicht sollten wir uns bewaffnen, XO. Falls sich da doch noch Piraten herumtreiben.«

Holden lachte. »Wenn das so ist, dann hat ihre Mitfahrgelegenheit sie sitzen lassen. Aber wenn Sie sich damit besser fühlen, packen Sie ruhig eine Waffe ein.«

Wenn der große, stämmige Mechaniker von der Erde eine Waffe dabeihätte, würde er sich auch selbst besser fühlen, aber das behielt er lieber für sich. Die Leute sollten glauben, ihr Vorgesetzter erwartete keine Gefahr.

Holden benutzte den Offiziersschlüssel, um den Waffenschrank aufzusperren, und Amos entschied sich für eine großkalibrige Automatik, die rückstoßfreie Raketenpatronen verschoss und eigens für den Gebrauch bei null G entwickelt worden war. Die altmodischen Patronen waren zwar verlässlicher, wirkten in der Schwerelosigkeit jedoch wie Steuerdüsen. Auf einem kleinen Körper wie CA-2216862 hätte eine normale Handfeuerwaffe den Schützen bis auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt.

Die Mannschaft schwebte zum Frachtraum hinunter, wo der eiförmige, mit Spinnenbeinen versehene Mech wartete, den Naomi steuern sollte. Jedes der vier Beine besaß einen Manipulator und eine Reihe eingebauter Schneide- und Schweißgeräte. Die hinteren beiden konnten sich auf einer Schiffshülle oder einem Aufbau verankern, während die vorderen beiden Reparaturen ausführten oder Plündergut in handliche Brocken zerlegten.

»Setzt die Hüte auf«, befahl Holden. Die Leute halfen sich gegenseitig, die Helme zu befestigten. Jeder überprüfte erst den eigenen Anzug und dann den eines anderen. Wenn die Frachtschleuse auffuhr, war es zu spät, sich zu vergewissern, ob alles richtig zugeknöpft war.

Als Naomi in den Mech stieg, verankerten Amos, Holden und Shed ihre Anzüge mit Sicherheitsleinen am Metallkäfig des Führerhauses. Naomi überprüfte das Gerät und drückte auf den Knopf, um die Luft aus der Frachthalle zu saugen und die Türen zu öffnen. In Holdens Anzug verklangen die Geräusche, bis er nur noch das Zischen der Luft und das leise Rauschen des Funkgeräts hörte. Die Luft roch ein wenig nach Krankenhaus.

Naomi steuerte den Mech mit kleinen Düsen, die komprimierten Stickstoff ausstießen, zur Oberfläche des Asteroiden hinunter. Die Mannschaft segelte an den drei Meter langen Sicherheitsleinen hinterdrein. Als sie flogen, drehte Holden sich noch einmal zur Knight um: ein dicker grauer Keil mit dem Kegel des Antriebs am breiteren Ende. Wie alles, was die Menschen für den Weltraum bauten, war sie nicht hübsch, sondern vor allem effizient. Das machte Holden immer ein wenig traurig. Sogar hier draußen sollte es doch ein wenig Raum für Ästhetik geben.

Es schien ihm, als schwebte die Knight davon und würde immer kleiner, während er selbst sich überhaupt nicht bewegte. Die Illusion löste sich auf, sobald er sich drehte und den Asteroiden betrachtete, auf den sie zuhielten. Er öffnete den Funkkanal, der ihn mit Naomi verband, doch sie summte im Flug vor sich hin, was bedeutete, dass sie sich zumindest im Moment keine Sorgen machte. Er sagte nichts, ließ aber den Kanal offen und hörte ihr beim Summen zu.

Aus der Nähe sah die Scopuli gar nicht so schlecht aus. Abgesehen von dem klaffenden Loch in der Flanke gab es keine Schäden. Offensichtlich war sie nicht gegen den Asteroiden geprallt, sondern nur nahe genug geparkt worden, damit die schwache Anziehungskraft sie festhielt. Während sie sich dem Schiff näherten, machte er Aufnahmen mit der Helmkamera und sendete sie zur Canterbury.

Drei Meter vor dem Leck im Rumpf der Scopuli hielt Naomi an. Auf dem Rundrufkanal stieß Amos einen Pfiff aus.

»Das war kein Torpedo, XO. Das war eine Sprengladung. Sehen Sie, wie das Metall an den Kanten nach innen gebogen ist? Da hat jemand direkt auf dem Rumpf eine Hohlladung angebracht«, erklärte er.

Abgesehen von seinen Aufgaben als Mechaniker war Amos dafür zuständig, Sprengstoff zu chirurgischen Operationen einzusetzen, um die Eisberge, die Saturn umrundeten, in transportfähige Stücke zu zerlegen. Auch das war ein guter Grund gewesen, ihn auf der Knight mitzunehmen.

»Also haben unsere Freunde auf der Scopuli angehalten, und dann ist jemand auf den Rumpf geklettert und hat eine Sprengladung deponiert. Er hat das Schiff geknackt und die Luft entweichen lassen«, überlegte Holden. »Versteht das jemand?«

»Ich nicht«, meinte Naomi. »Keine Ahnung. Gehen wir trotzdem rein?«

Wenn Sie da draußen etwas Komisches bemerken, dann spielen Sie bloß nicht den Helden. Sammeln Sie einfach nur alles ein, und kommen Sie zurück.

Aber was sonst hätte er schon erwarten können? Die Scopuli war stillgelegt. Natürlich war hier etwas schiefgegangen. Eigenartig wäre es nur gewesen, wenn er überhaupt nichts Auffälliges bemerkt hätte.

»Amos«, sagte Holden, »halten Sie für alle Fälle die Waffe bereit. Naomi, können Sie das Loch für uns erweitern? Aber seien Sie vorsichtig. Wenn Ihnen etwas nicht geheuer ist, weichen Sie sofort zurück.«

Naomi fuhr den Mech mit Stickstoffschüben, die in der kalten Nacht wie weiße Atemstöße aussahen, näher heran. Ein Schweißbrenner des Mechs flammte auf, zuerst rot, dann weiß, dann blau. Lautlos entfaltete das Gerät die Arme – dabei erinnerte es sehr an ein Insekt –, und Naomi setzte den Schnitt an. Holden und Amos standen bereits auf der Schiffshülle und hatten sich mit Magneten verankert. Als Naomi ein Stück der Verkleidung herauszog, spürte er die Erschütterungen unter den Füßen. Gleich darauf schaltete sie den Schweißbrenner ab und blies Löschschaum auf die Schnittränder, um das Metall abzukühlen. Holden zeigte Amos den nach oben gestreckten Daumen und schwebte langsam in die Scopuli hinein.

Die Hohlladung war fast exakt mittschiffs angebracht worden und hatte ein Loch in die Kombüse gesprengt. Als Holden auf der Wand landete, zerdrückten seine Stiefel tiefgefrorene Essensreste. Tote waren nicht zu sehen.

»Kommen Sie rein, Amos. Bisher keine Spur von der Mannschaft«, rief er über den Anzugcom.

Er wich zur Seite aus, gleich darauf stürzte Amos herein, die Waffe in der rechten und eine starke Lampe in der linken Hand haltend. Der weiße Strahl wanderte über die Wände der zerstörten Kombüse.

»Wohin zuerst, XO?«, fragte Amos.

Holden trommelte mit einer Hand auf den Oberschenkel und dachte nach. »Maschinenraum. Ich will wissen, warum der Reaktor abgeschaltet ist.«

Sie kletterten über die Leiter ins Heck des Schiffs. Sämtliche Druckschotts standen offen, was ein schlechtes Zeichen war. Im Normalfall sollten sie geschlossen sein und erst recht, nachdem die Hülle beschädigt worden war. Wenn sie offen standen, bedeutete dies, dass es im ganzen Schiff kein Deck mehr gab, das eine Atmosphäre hatte. Folglich gab es auch keine Überlebenden. Das war nicht überraschend, fühlte sich aber trotzdem wie eine Niederlage an. Sie durchsuchten rasch das kleine Schiff und hielten in der Werkstatt an. Teure Maschinenteile und das Werkzeug waren noch an Ort und Stelle.

»Also war es wohl kein Raubüberfall«, überlegte Amos.

Holden sprach es nicht aus: Was war es dann?, doch die Frage lag in der Luft.

Der Maschinenraum war blitzblank, kalt und tot. Holden wartete, während Amos sich umsah. Wenigstens zehn Minuten verbrachte er damit, um den Reaktor herumzuschweben.

»Jemand hat ihn ordentlich heruntergefahren«, verkündete Amos schließlich. »Die Sprengung hat ihn nicht abstürzen lassen, er wurde erst danach ausgeschaltet. Ich kann keinerlei Schäden entdecken. Das passt doch nicht zusammen. Wenn nach dem Angriff alle tot waren, wer hat ihn dann abgeschaltet? Und wenn es Piraten waren, warum haben sie nicht das Schiff einkassiert? Es ist auf jeden Fall noch flugtauglich.«

»Außerdem sind sie, ehe sie die Energie abgestellt haben, durch das ganze Schiff gelaufen und haben sämtliche Drucktore geöffnet und die Luft abgelassen. Vermutlich wollten sie dafür sorgen, dass niemand in einem Versteck überleben konnte«, erwiderte Holden. »Also gut, wir gehen in die Operationszentrale und versuchen, den Computer zu knacken. Vielleicht verrät der uns, was passiert ist.«

Sie schwebten durch den Mannschaftsaufgang zum Bug, wo sich die Brücke befand. Auch sie war unbeschädigt und verlassen. Das Fehlen der Leichen setzte Holden mehr zu, als es deren Gegenwart getan hätte. Er schwebte zur Hauptkonsole hinüber und tippte auf ein paar Tasten, um herauszufinden, ob der Computer noch mit Notstrom lief. Das war nicht der Fall.

»Amos, Sie können anfangen, brauchbare Teile herauszuschneiden, die wir mitnehmen können. Ich überprüfe die Kommunikation, vielleicht finde ich den Notsender.«

Amos kam zum Computer, holte das Werkzeug hervor und heftete es neben sich an die Metallwand. Während er arbeitete, fluchte er unablässig leise vor sich hin. Das klang bei Weitem nicht so hübsch wie Naomis Summen, also unterbrach Holden die Verbindung zu Amos und nahm sich die Funkkonsole vor. Sie war so tot wie der Rest des Schiffs, und dort fand er auch den Notsender des Schiffs. Er war nicht aktiviert. Irgendetwas anderes hatte den Notruf abgestrahlt. Holden zog sich mit gerunzelter Stirn einen Schritt zurück.

Er sah sich um und suchte irgendetwas, das nicht hierherzugehören schien. Dort auf dem Boden unter dem Pult des Funkers. Ein kleiner schwarzer Kasten, der mit nichts sonst verbunden war.

Sein Herz machte zwischen zwei Schlägen eine lange Pause. Dann rief er Amos: »Kommt Ihnen das hier wie eine Bombe vor?«

Amos antwortete nicht. Holden aktivierte den richtigen Kanal.

»Amos, kommt Ihnen das da wie eine Bombe vor?«

Der Techniker ließ von dem Computer ab und schwebte herüber. Mit einer raschen Bewegung, bei der Holden fast der Atem stockte, schnappte Amos sich den Kasten und hob ihn hoch.

»Nein, das ist ein Sender. Sehen Sie, hier?« Er hielt ihn vor Holdens Helm. »Da ist eine Batterie angeklebt. Was macht das Ding hier?«

»Er sendet das Notsignal, dem wir gefolgt sind. Jesus, der Notsender des Schiffs war nicht eingeschaltet. Irgendjemand hat hier einen falschen Notsender hinterlassen und eine Batterie angeschlossen«, sagte Holden. Er kämpfte die aufsteigende Panik nieder.

»Warum tut jemand so was, XO? Das ist doch völlig schwachsinnig.«

»Es sei denn, dieser Sender ist anders als die üblichen Notsender«, erwiderte Holden.

»Inwiefern?«

»Beispielsweise könnte er ein zweites Signal senden, wenn jemand ihn findet.« Holden schaltete auf den Rundrufkanal um. »Hört mal alle her, wir haben hier etwas Verrücktes gefunden und verschwinden jetzt. Alle sofort zurück zur Knight, und passt auf, wenn ihr …«

Im Langstreckenkanal knackte es, und er hörte McDowells Stimme im Helm. »Jim? Ich glaube, wir haben hier ein Problem.«

Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes
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