14 Miller
Die Xinglong ging auf eine ausgesprochen dumme Art und Weise unter. Hinterher wusste jeder, dass sie eines unter Tausenden kleiner Prospektorenschiffe gewesen war, die von einem Felsbrocken zum nächsten flogen. Der Gürtel sprang mies mit ihnen um. Meist taten sich fünf oder sechs Familien zusammen, leisteten eine Anzahlung und nahmen den Betrieb auf. In diesem Fall waren die Familien mit drei Raten im Rückstand, und die Consolidated Holdings and Investment Bank hatte das Schiff gepfändet. Es hieß, genau deshalb hätten die Betreiber den Transponder ausgeschaltet. Einfach nur ein paar ehrbare Leute, die eine Rostlaube besaßen und versuchten, sie am Fliegen zu halten.
Wenn man ein Poster vom Traum der Gürtler hätte drucken wollen, dann hätte man die Xinglong abgebildet.
Die Scipio Africanis, ein Zerstörer im Patrouillendienst, befand sich am Ende ihrer zweijährigen Runde durch den Gürtel auf dem Rückweg zum Mars. Beide Schiffe waren zu einem eingefangenen Kometen ein paar Hunderttausend Kilometer von Chiron entfernt unterwegs, um die Wasservorräte zu ergänzen.
Als das Prospektorenschiff in Reichweite kam, sah die Scipio ein schnelles Objekt, das ohne Kennzeichnung flog und sich mehr oder weniger in ihre Richtung bewegte. In den offiziellen Verlautbarungen vom Mars hieß es, die Scipio habe mehrmals versucht, das andere Schiff zu rufen. Die Piratensender der AAP erklärten, das sei alles Unfug, und keine empfangsbereite Station im ganzen Gürtel habe irgendetwas in dieser Art aufgefangen. Alle stimmten darin überein, dass die Scipio die Abwehrkanonen eingesetzt und das Prospektorenschiff in einen glühenden Schlackehaufen verwandelt hatte.
Die Reaktion war so vorhersehbar wie ein Naturgesetz. Die Marsianer schickten zwei Dutzend weitere Schiffe, »um die Ordnung aufrechtzuerhalten«. Die schrilleren Protagonisten der AAP riefen unverblümt zum Krieg auf, und immer weniger unabhängige Sender und Sendungen widersprachen ihnen. Das gewaltige, unerbittliche Uhrwerk des Krieges rückte weiter vor in die Richtung eines offenen Kampfes.
Auf Ceres folterte jemand einen auf dem Mars geborenen Bürger namens Enrique Dos Santos acht oder neun Stunden lang und nagelte die Überreste neben der Wasseraufbereitungsanlage in Sektor Elf an eine Wand. Man konnte das Opfer anhand des Terminals identifizieren, das neben dem Ehering und einer schmalen Kunstlederbrieftasche mit Kreditdaten und dreißigtausend auf Europa gedruckten neuen Yen auf dem Boden lag. Der tote Marsianer war mit einem Einmal-Fräsdorn, wie Prospektoren ihn benutzten, an die Wand genagelt worden. Fünf Stunden später hatten die Luftaufbereiter immer noch zu kämpfen, um den stechenden Geruch zu neutralisieren. Die Forensiker hatten Proben genommen und waren bereit, den armen Kerl herunterzuholen.
Miller staunte immer wieder, wie friedlich Tote oft aussahen. Auch wenn sie unter den schrecklichsten Umständen verendet waren, am Ende zeigten sie eine tiefe Ruhe und Gelassenheit, die an Schlaf erinnerte. Er fragte sich, wann er selbst an der Reihe sei, und ob er sich dann wirklich würde entspannen können.
»Überwachungskameras?«, fragte er.
»Seit drei Tagen kaputt«, informierte ihn seine neue Partnerin. »Die Jugendlichen haben sie zerstört.«
Octavia Muss hatte sich mit Körperverletzung und ähnlichen Delikten befasst, bevor Star Helix die Abteilung in kleinere spezialisierte Teams unterteilt hatte. Danach war sie für Vergewaltigungen zuständig gewesen, anschließend ein paar Monate für Verbrechen gegen Kinder. Wenn die Frau noch eine Seele besaß, dann war sie so dünn gepresst, dass man hindurchschauen konnte. Mehr als leichte Überraschung war ihren Augen niemals anzumerken.
»Kennen wir die Jugendlichen?«
»Ein paar Punks, die weiter oben wohnen«, erklärte sie. »Festnahme, Geldstrafe, Entlassung.«
»Wir sollten sie zusammentreiben«, schlug Miller vor. »Es würde mich interessieren, ob jemand sie bezahlt hat, um genau diese Kameras zu zerlegen.«
»Ich halte dagegen.«
»Wer der Täter auch war, er wusste, dass die Überwachung außer Betrieb war.«
»Jemand von der Wartung?«
»Oder ein Cop.«
Muss schmatzte und zuckte mit den Achseln. Ihre Familie lebte schon seit drei Generationen im Gürtel. Sie hatte Angehörige auf Schiffen wie jenem, das die Scipio vernichtet hatte. Die Haut, die Knochen und die Knorpel, die vor ihr an der Wand hingen, waren für sie nichts Neues. Wenn man unter Schub einen Hammer fallen ließ, fiel er auf das Deck. Wenn die Regierung sechs chinesische Prospektorenfamilien abschlachtete, wurde jemand mit einem meterlangen Fräsdorn aus Titanlegierung an die Wand genagelt. Eins zu eins.
»Es wird Konsequenzen geben«, sagte Miller und meinte damit: Das hier ist keine Leiche, sondern eine Anschlagtafel. Es ist eine Kriegserklärung.
»Ich glaube nicht«, erwiderte Muss. Der Krieg ist überall, ob Anschlagtafel oder nicht.
»Ja«, stimmte Miller zu. »Vielleicht haben Sie recht. Vielleicht kommt es gar nicht dazu.«
»Wollen Sie die Angehörigen übernehmen? Ich kann mir inzwischen die Aufzeichnungen aus der Umgebung ansehen. Sie haben ihm die Finger nicht hier im Flur verbrannt, sondern ihn von irgendwo herbeigeschleppt.«
»In Ordnung«, sagte Miller. »Ich habe einen vorformulierten Beileidstext, den ich abschicken kann. War er verheiratet?«
»Keine Ahnung«, erwiderte sie. »Hab noch nicht nachgesehen.«
Auf der Wache saß Miller allein am Schreibtisch. Muss hatte zwei Abteile weiter bereits einen eigenen bekommen und nach ihrem Geschmack eingerichtet. Havelocks Arbeitsplatz war leer und zweimal gründlich gereinigt worden, als hätte der Hausmeister den Geruch der Erde ein für alle Mal von dem schönen Gürtler-Stuhl tilgen wollen. Miller rief die Akte des Toten auf und fand die nächste Angehörige. Jun-Yee Dos Santos arbeitete auf Ganymed, sie hatten vor sechs Jahren geheiratet. Keine Kinder. Wenigstens etwas, über das man froh sein konnte. Wenn man schon sterben musste, sollte man wenigstens bei anderen keine Narben hinterlassen.
Er öffnete den Muster-Beileidsbrief und setzte den Namen der frischgebackenen Witwe und die Adresse ein. Sehr geehrte Mrs Dos Santos, leider muss ich Ihnen mitteilen blabla. Ihr [er arbeitete sich durch das Menü] Ehemann war ein geschätzter und respektierter Bürger von Ceres, und ich versichere Ihnen, dass wir alles Menschenmögliche tun werden, damit der oder die Mörder Ihrer/Ihres [Miller wählte das Passende aus] gefunden und zur Rechenschaft gezogen werden. Mit freundlichen Grüßen …
Es war unmenschlich. Es war unpersönlich und kalt und so leer wie das Vakuum. Der Brocken Fleisch an der Wand des Flurs war ein lebendiger Mann mit Leidenschaften und Ängsten gewesen wie jeder andere. Miller fragte sich, was es über ihn sagte, wenn er diese Tatsache so leicht ignorieren konnte, aber im Grunde wusste er es schon. Er schickte die Mitteilung ab und schob den Gedanken an den Schmerz, den sie verursachen würde, beiseite.
Das Schwarze Brett war voll. Doppelt so viele Vorfälle wie sonst. So sieht das eben aus, dachte er. Keine Aufstände, keine Hausdurchsuchungen von Marinesoldaten, die sich auf einem Flur ein Loch nach dem anderen vornahmen. Nur eine Menge ungelöster Mordfälle.
Dann korrigierte er sich: So sieht es bisher jedenfalls aus.
Das machte sein Vorhaben nicht eben leichter.
Shaddid saß in ihrem Büro.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.
»Ich müsste ein Verhörprotokoll anfordern«, sagte er. »Aber es ist etwas ungewöhnlich. Ich dachte, es ist besser, wenn es über Sie läuft.«
Shaddid lehnte sich zurück.
»Lassen Sie hören«, forderte sie ihn auf. »Was wollen Sie anfordern?«
Miller nickte, als könne er sie dadurch bewegen, ihm die Bitte zu erfüllen.
»Jim Holden. Der Erder von der Canterbury. Mars müsste ihn und seine Leute inzwischen aufgesammelt haben. Ich will die Protokolle der Befragung anfordern.«
»Haben Sie denn einen Fall, der mit der Canterbury zusammenhängt?«
»Ja«, bestätigte er. »Es scheint so.«
»Erzählen Sie«, verlangte die Vorgesetzte. »Erzählen Sie alles.«
»Es ist dieser Nebenjob. Julie Mao. Ich habe mich umgehört …«
»Ich habe Ihren Bericht gelesen.«
»Dann wissen Sie, dass sie mit der AAP in Verbindung steht. Nach allem, was ich gehört habe, befand sie sich auf einem Frachter, der Kurierdienste für die Organisation geleistet hat.«
»Haben Sie Beweise dafür?«
»Ein AAP-Mann hat es mir gesagt.«
»Aktenkundig?«
»Nein«, antwortete Miller. »Inoffiziell.«
»Und dies hat damit zu tun, dass die marsianische Raummarine die Canterbury vernichtet hat?«
»Die Frau befand sich auf der Scopuli«, erklärte Miller. »Dieses Schiff diente als Köder, um die Canterbury aufzuhalten. Wenn man sich Holdens Sendung ansieht, erfährt man, dass er auf dem Schiff einen marsianischen Sender, aber keine Crew gefunden hat.«
»Glauben Sie, Sie finden in den Protokollen etwas, das Ihnen hilft?«
»Das weiß ich erst, wenn ich sie sehe«, erwiderte Miller. »Aber da Julie nicht auf dem Frachter war, hat jemand sie verschleppt.«
Shaddids Lächeln erreichte nicht die Augen.
»Und Sie möchten die marsianische Raummarine bitten, uns alles zu geben, was sie über Holden haben?«
»Vielleicht hat er auf dem Schiff etwas gesehen, das uns einen Hinweis gibt, was mit Julie und den anderen …«
»Sie haben nicht richtig darüber nachgedacht«, fiel Shaddid ihm ins Wort. »Die marsianische Raummarine hat die Canterbury vernichtet. Sie haben es getan, um im Gürtel eine Reaktion zu provozieren, damit sie einen Vorwand bekommen, anzurücken und uns zu besetzen. Der einzige Grund, warum sie die Überlebenden befragen, ist der, dass niemand sonst vor ihnen die armen Hunde in die Finger bekommen soll. Holden und seine Leute sind entweder tot oder werden von marsianischen Verhörspezialisten einer Gehirnwäsche unterzogen.«
»Wir können nicht sicher sein …«
»Selbst wenn ich einen ausführlichen Bericht über das bekäme, was sie gesagt haben, während man ihnen die Zehennägel herausgerissen hat, es würde Ihnen nichts nützen, Miller. Die marsianische Raummarine wird in Bezug auf die Scopuli keine Fragen stellen. Sie weiß ganz genau, was mit der Crew passiert ist. Sie haben die Scopuli als Köder platziert.«
»Ist das der offizielle Standpunkt von Star Helix?«, fragte Miller. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da dämmerte ihm bereits, dass er einen Fehler begangen hatte. Shaddids Miene verfinsterte sich, als hätte jemand das Licht ausgeschaltet. Nachdem er es ausgesprochen hatte, erkannte er, welche versteckten Drohungen er zugleich ausgestoßen hatte.
»Ich weise einfach nur darauf hin, dass die Quelle wahrscheinlich nicht zuverlässig ist«, entgegnete Shaddid. »Man geht nicht zum Verdächtigen und fragt ihn, wo man als Nächstes nachschauen sollte. Außerdem ist das Auffinden von Juliette Mao nicht Ihre wichtigste Aufgabe.«
»Das sage ich auch gar nicht«, antwortete Miller. Es schmerzte ihn, auf diese Weise in die Defensive gedrängt zu werden.
»Wir haben da draußen jede Menge Fälle am Schwarzen Brett, und es füllt sich ständig weiter. Unsere größte Aufmerksamkeit gilt der Sicherheit und unserem Dienst hier auf der Station. Wenn das, was Sie tun, nicht direkt damit zusammenhängt, dann gibt es wichtigere Dinge, die Sie erledigen sollten.«
»Dieser Krieg …«
»Ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe heißt Ceres. Schreiben Sie Ihren Abschlussbericht über Juliette Mao, und ich leite ihn weiter. Wir haben getan, was wir tun konnten.«
»Ich glaube nicht …«
»Aber ich«, unterbrach Shaddid ihn erneut. »Wir haben getan, was wir tun konnten. Jetzt hören Sie auf herumzuzicken, befördern Sie Ihren Arsch nach draußen und fangen Sie Verbrecher, Detective.«
»Ja, Captain«, sagte Miller.
Muss saß an Millers Schreibtisch, als er zurückkehrte. Sie hatte eine Tasse in der Hand, in der sich entweder starker Tee oder dünner Kaffee befand, und nickte in die Richtung seines Schreibtischmonitors. Dort waren drei Gürtler zu sehen – zwei Männer und eine Frau –, die gerade ein Lagerhaus verließen. Sie trugen einen orangefarbenen Behälter. Miller runzelte die Stirn.
»Beschäftigte eines unabhängigen Gaslieferanten. Stickstoff, Sauerstoff. Schlichte Atmosphärengase, nichts Exotisches. Anscheinend haben sie den armen Kerl in einem ihrer Lagerhäuser festgehalten. Ich habe die Gerichtsmedizin hingeschickt, um zu sehen, ob sich Blutspritzer als Beweise finden.«
»Gute Arbeit«, sagte Miller.
Muss zuckte mit den Achseln: Ich mach nur meinen Job.
»Wo sind die Täter jetzt?«, fragte Miller.
»Gestern abgeflogen. Nach den Flugplänen wollen sie zu Io.«
»Io?«
»Die Zentrale der Erde-Mars-Koalition«, sagte Muss. »Möchten Sie wetten, ob sie jemals dort ankommen?«
»Klar«, sagte Miller. »Ich setze fünfzig, dass sie nicht dort ankommen.«
Darüber lachte Muss sogar.
»Ich habe sie zur Fahndung ausgeschrieben«, fuhr sie fort. »Wo immer sie auftauchen, werden die örtlichen Behörden es registrieren und mit Dos Santos in Verbindung bringen.«
»Dann wäre der Fall abgeschlossen.«
»Wieder ein Punkt zum Abhaken«, stimmte Muss zu.
Der Rest des Tages verlief hektisch. Dreimal Körperverletzung, zweimal aus offensichtlich politischen Gründen, einmal häuslich. Muss und Miller erledigten die drei Fälle noch vor dem Ende der Schicht. Am nächsten Tag würden sie neue Aufträge bekommen.
Nach Feierabend blieb Miller an einem Imbisswagen vor einer Bahnstation stehen und erstand eine Schale Retortenreis und gepresstes Protein, das an Teriyaki-Huhn erinnerte. In der Bahn lasen die normalen Bürger von Ceres die Nachrichtenfeeds oder hörten Musik. Ein junges Paar, das eine halbe Wagenlänge entfernt stand, kuschelte sich eng zusammen. Die beiden murmelten und kicherten. Sie waren höchstens sechzehn oder siebzehn. Er konnte beobachten, dass der Junge die Hand unter das Hemd des Mädchens schob. Sie protestierte nicht. Eine alte Frau, die Miller direkt gegenübersaß, war eingeschlafen. Der Kopf prallte leicht gegen die Wand, ihr Schnarchen klang beinahe damenhaft.
Um diese Leute ging es, sagte Miller sich. Normale Leute, die in einem ausgehöhlten Fels mitten im grausamen Vakuum ihr kleines Leben lebten. Wenn die Aufstände in der Station um sich griffen, wenn die Ordnung versagte, dann würden all diese Leben zerstört werden wie ein Kätzchen in einem Fleischwolf. Leute wie er, Muss und sogar Shaddid waren dafür zuständig, dass dies nicht geschah.
Warum gehört es dann nicht zu deinem Job, den Mars daran zu hindern, eine Atombombe abzuwerfen und Ceres wie ein Ei zerplatzen zu lassen?, fragte ein Stimmchen in seinem Hinterkopf. Was bedroht den Kerl da drüben mehr, ein paar unlizenzierte Huren oder ein Krieg zwischen dem Gürtel und dem Mars?
Wem konnte es schaden, wenn er in Erfahrung brachte, was mit der Scopuli passiert war?
Natürlich kannte er die Antwort darauf. Er konnte nicht beurteilen, wie gefährlich die Wahrheit war, solange er sie nicht kannte – und allein dies war schon ein guter Grund weiterzumachen.
Anderson Dawes, der AAP-Mann, saß vor Millers Wohnloch auf einem stoffbespannten Klappstuhl und las ein Buch. Es war ein echtes Buch, Dünndruckpapier mit einem Einband, der womöglich sogar aus echtem Leder bestand. Miller hatte schon einmal Fotos dieser Objekte gesehen. Es kam ihm dekadent vor, so viel Gewicht auf ein einziges Megabyte an Daten zu verschwenden.
»Detective.«
»Mister Dawes.«
»Ich hatte gehofft, dass wir uns unterhalten können.«
Als sie hineingingen, war Miller froh, dass er ein wenig aufgeräumt hatte. Die Bierflaschen waren im Recycler verschwunden, die Tische und Schränke abgestaubt. Die kaputten Polster auf den Stühlen waren geflickt oder ersetzt. Als Dawes sich setzte, erkannte Miller, dass er die häuslichen Arbeiten in Erwartung dieses Treffens auf sich genommen hatte. Das wurde ihm allerdings erst jetzt klar.
Dawes legte das Buch auf den Tisch, suchte etwas in der Jackentasche und legte schließlich einen dünnen schwarzen Filmchip auf den Tisch. Miller hob ihn auf.
»Was werde ich darauf sehen?«, erkundigte er sich.
»Nichts, was Sie nicht anhand Ihrer Akten bestätigen könnten«, antwortete Dawes.
»Irgendwelche krummen Sachen?«
»Ja.« Dawes grinste, was sein Aussehen keineswegs verbesserte. »Aber nicht von uns. Sie haben nach der Krawallausrüstung der Polizei gefragt. Ein gewisser Sergeant Pauline Trikoloski hat unterzeichnet und die Sachen zur Spezialeinheit Dreiundzwanzig auslagern lassen.«
»Spezialeinheit Dreiundzwanzig?«
»Ja«, sagte Dawes. »Sie existiert so wenig wie Trikoloski. Die Ausrüstung wurde eingepackt, quittiert und zu einem Dock geliefert. Der Frachter, der dort angedockt hatte, war auf die Corporaçõ do Gato Preto zugelassen.«
»Die Schwarze Katze?«
»Kennen Sie die Firma?«
»Import-Export, so ziemlich das Gleiche wie bei allen anderen.« Miller zuckte mit den Achseln. »Wir haben sie durchleuchtet, weil wir sie als Tarnorganisation der Loca Greiga in Verdacht hatten. Allerdings konnten wir ihnen nie etwas nachweisen.«
»Damit hatten Sie recht.«
»Können Sie das beweisen?«
»Das ist nicht meine Aufgabe«, sagte Dawes. »Hier ist aber etwas, das Sie interessieren könnte. Die automatischen Logs für den Abflug hier und die Ankunft auf Ganymed. Das Schiff kam drei Tonnen leichter dort an, selbst wenn man den Verlust an Reaktionsmasse berücksichtigt. Außerdem dauerte der Flug länger, als man anhand der Himmelsmechanik hätte erwarten können.«
»Sie hatten ein Rendezvous«, überlegte Miller. »Sie haben die Ausrüstung auf ein anderes Schiff umgeladen.«
»Da haben Sie die Antwort«, erklärte Dawes. »Eigentlich sogar beide. Das organisierte Verbrechen vor Ort hat die Krawallausrüstung gestohlen. Es gibt keine Unterlagen, die dies belegen, doch es ist anzunehmen, dass sie auch gleich das Personal befördert haben, das die Ausrüstung benutzen soll.«
»Wohin?«
Dawes hob beide Hände, worauf Miller nickte. Die Leute und die Waren hatten die Station verlassen, also konnte die Akte geschlossen werden. Wieder ein Punkt zum Abhaken.
Verdammt.
»Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt«, fuhr Dawes fort. »Sie wollten Informationen haben, und ich habe sie beschafft. Werden Sie jetzt auch Ihren Teil erfüllen?«
»Die Mao-Ermittlungen fallen lassen«, sagte Miller. Er formulierte es nicht als Frage, und Dawes reagierte nicht, als habe er eine Frage gestellt. Miller lehnte sich auf dem Stuhl zurück.
Juliette Andromeda Mao, eine reiche Erbin von den inneren Planeten, arbeitet als AAP-Kurier. Pinassenpilotin. Brauner Gürtel, trainiert für den schwarzen.
»Klar, was soll’s«, gab er nach. »Ich hätte sie sowieso nicht nach Hause geschickt, wenn ich sie gefunden hätte.«
»Nicht?«
Miller machte eine Geste: Natürlich nicht.
»Sie ist ein gutes Mädchen«, sagte Miller. »Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie erwachsen sind, aber Mami könnte Sie immer noch an den Ohren nach Hause zerren? Es war von Anfang an ein mieser Job.«
Dawes lächelte wieder, und dieses Mal sah er beinahe freundlich aus.
»Es freut mich, dass Sie es so sehen, Detective. Ich werde den Rest unserer Abmachung nicht vergessen. Wenn wir sie finden, sage ich Ihnen Bescheid. Ich verspreche es Ihnen.«
»Vielen Dank«, sagte Miller.
Es gab ein kurzes Schweigen. Miller wusste nicht, ob es freundschaftlich oder lastend war. Vielleicht sogar beides zugleich. Schließlich stand Dawes auf und gab ihm die Hand. Miller schlug ein, Dawes ging. Zwei Cops, die auf verschiedenen Seiten arbeiteten. Vielleicht hatten sie doch etwas gemeinsam.
Das hieß aber nicht, dass Miller ein Problem damit hatte, den Mann anzulügen.
Er öffnete das Verschlüsselungsprogramm seines Terminals, schaltete es zur Kommunikationsanlage durch und sprach in die Kamera.
»Sir, wir sind uns noch nicht begegnet, aber ich hoffe, Sie haben einige Minuten Zeit, mir zu helfen. Ich bin Detective Miller von der Star Helix Security. Ich bin auf Ceres unter Vertrag und soll Ihre Tochter suchen. In diesem Zusammenhang hätte ich einige Fragen.«