29 Holden

»Verdammt auch«, fluchte Holden. Und gleich darauf: »Die sind schon weg.«

Nein, sie hatte ihn verlassen. Naomi hatte getan, was von ihr erwartet wurde, doch als er nun mit der Realität konfrontiert wurde, erkannte Holden, dass er ihr eigentlich nicht geglaubt hatte. Aber da hatte er den Beweis. Der leere Raum, wo sie gewesen war. Sein Herz hämmerte, die Kehle wurde ihm eng, er keuchte. Das flaue Gefühl im Bauch war Verzweiflung oder der Darm, der die Schleimhaut abstieß. Er würde vor einem billigen Hotel auf Eros sitzen und sterben, weil Naomi genau das getan hatte, was sie abgesprochen hatten. Was er ihr selbst befohlen hatte. Die Enttäuschung war für Vernunftgründe völlig unempfänglich.

»Wir sind tot«, sagte er und setzte sich auf die Ecke eines Pflanztopfs voller Farn.

»Wie lange haben wir noch?« Miller blickte auf dem Korridor hin und her und fummelte mit der Waffe herum.

»Keine Ahnung.« Holden deutete fahrig auf das blinkende rote Symbol seines Terminals. »Ein paar Stunden, bis wir es wirklich spüren, aber ich weiß es nicht genau. Bei Gott, ich wünschte, Shed wäre noch da.«

»Shed?«

»Ein Freund.« Holden hatte keine Lust, es näher zu erklären. »Ein guter Medizintechniker.«

»Rufen Sie sie«, sagte Miller.

Holden tippte einige Male auf sein Terminal.

»Das Netzwerk ist immer noch deaktiviert.«

»Gut«, entschied Miller. »Dann gehen wir zum Schiff und sehen, ob es noch im Dock liegt.«

»Sie sind längst weg. Naomi sorgt dafür, dass die Crew überlebt. Sie hat mich gewarnt, aber …«

»Lassen Sie uns hier verschwinden.« Miller trat nervös von einem Fuß auf den anderen.

»Miller.« Holden hielt inne. Der Cop war offensichtlich sehr gereizt, und er hatte vier Leute erschossen. Holden bekam allmählich Angst vor dem Mann. Als könnte er seine Gedanken lesen, trat Miller zu ihm. Der zwei Meter große Mann überragte ihn, zumal Holden noch saß. Miller lächelte wehmütig, seine Augen waren beunruhigend sanft. Die Drohungen waren Holden beinahe lieber.

»Wie ich es sehe, gibt es jetzt drei Möglichkeiten«, erklärte Miller. »Erstens, wir finden Ihr Schiff im Dock, nehmen die Medikamente und überleben vielleicht. Zweitens, wir gehen zum Schiff und stoßen auf einen Haufen Mafia-Gangster. Dann sterben wir ruhmreich im Kugelhagel. Drittens, wir sitzen hier herum, bis wir aus Augen und Arschlöchern bluten.«

Holden schwieg, starrte den Cop an und runzelte die Stirn.

»Die ersten beiden Möglichkeiten gefallen mir besser als die dritte«, erklärte Miller. Es klang beinahe verlegen. »Möchten Sie mitkommen?«

Holden lachte unwillkürlich, doch Miller schien nicht beleidigt.

»Klar«, sagte Holden. »Ich habe nur einen Moment gebraucht, um mich zu bemitleiden. Also lassen wir uns jetzt von der Mafia umbringen.«

So großspurig, wie es klang, war ihm keineswegs zumute. In Wahrheit wollte er ganz einfach nicht sterben. Auch in der Zeit bei der Marine war die Vorstellung, er könne im Dienst fallen, immer etwas Fernes, Irreales gewesen. Sein Schiff würde niemals zerstört werden, und wenn doch, dann würde er mit einem Rettungsshuttle entkommen. Ein Universum, in dem er nicht mehr existierte, war doch sinnlos. Er war Risiken eingegangen und hatte andere sterben sehen. Sogar Menschen, die er geliebt hatte. Jetzt drohte ihm zum ersten Mal selbst der Tod.

Er blickte zu dem Cop. Diesen Mann kannte er noch nicht einmal seit einem Tag, er traute ihm nicht und war nicht sicher, ob er ihn überhaupt mochte. Das war also der Mann, neben dem er sterben würde. Holden stand schaudernd auf und zog die Pistole aus dem Hosenbund. Hinter der Panik und Furcht spürte er eine tiefe Ruhe. Hoffentlich hielt sie sich.

»Nach Ihnen«, sagte Holden. »Erinnern Sie mich daran, meine Mütter anzurufen, wenn wir das hier überleben.«

Die Casinos waren ein Pulverfass, das nur noch auf den Zündfunken wartete. Wenn die Evakuierungen auch nur halbwegs erfolgreich verlaufen waren, drängten sich jetzt gut eine Million Menschen oder mehr auf drei Ebenen. Männer mit harten Gesichtern in Krawallmontur zogen durch die Menge und erklärten allen, sie sollten an Ort und Stelle bleiben, bis sie zu den Strahlenschutzräumen geführt würden. So bekamen die Leute keine Gelegenheit, ihre Angst zu überwinden. Ab und zu führten sie kleine Gruppen von Bürgern fort. Es drehte Holden den Magen um, weil er genau wusste, wohin sie gingen. Er wollte rufen, dass die Cops nicht echt waren, dass sie die Menschen umbrachten. Doch eine Panik so vieler Menschen in einem so engen Raum wäre wie ein Fleischwolf gewesen. Vielleicht war es sowieso unvermeidlich, doch er wollte nicht derjenige sein, der dies in Gang brachte.

Jemand anders tat es.

Holden hörte erhobene Stimmen, das zornige Grollen der Meute, dann die elektronisch verstärkte Stimme von jemandem, der eine Krawallausrüstung trug. Er befahl den Leuten zurückzuweichen. Schließlich fiel ein Schuss, es gab eine kurze Pause, dann ertönte eine Salve. Jetzt kreischten die Leute. Vor Holden und Miller teilte sich die Menge und drängte in zwei gegensätzliche Richtungen. Ein Teil stürzte in die Richtung, aus der sie die Schüsse gehört hatten, viele andere rannten davor weg. Holden drehte sich in dem Strom der Menschen um sich selbst, bis Miller ihn von hinten am Kragen packte und Holden zuschrie, sie dürften sich nicht verlieren.

Nicht weit von ihnen entfernt hatten ein Dutzend Bürger einen Gangster von dessen Gruppe getrennt. Er befand sich hinter einem hüfthohen gusseisernen Zaun in einem Café. Mit gezogener Waffe schrie er sie an, ihm Platz zu machen. Sie gingen weiter auf ihn los, die Gesichter waren vor Wut verzerrt.

Der Mafiagangster schoss einmal, ein kleiner Körper taumelte nach vorn und stürzte vor dem Gangster hin. Holden konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, der Körpergröße nach war das Kind aber höchstens dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Der Gangster trat einen Schritt vor, betrachtete die schmale kleine Gestalt vor seinen Füßen und zielte abermals auf die Menge.

Das war zu viel.

Holden rannte mit gezogener Waffe den Korridor hinunter zu dem Gangster. Er schrie, die Leute sollten ihm Platz machen, und als er etwa sieben Meter entfernt war, teilte sich die Menge vor ihm tatsächlich so weit, dass er schießen konnte. Die Hälfte seiner Schüsse verfehlte das Ziel und traf die Theke und die Wände des Cafés, eine Kugel jagte einen Stapel Teller in die Luft. Einige trafen jedoch auch den Gangster. Er taumelte zurück.

Holden sprang über den hüfthohen Metallzaun und blieb drei Meter vor dem falschen Cop und dessen Opfer stehen. Seine Waffe gab einen letzten Schuss ab, dann blieb der Schlitten in geöffneter Stellung stehen und teilte ihm mit, dass das Magazin leer war.

Der Gangster stürzte nicht. Er richtete sich auf, betrachtete seinen Oberkörper, dann hob er den Blick und zielte auf Holdens Gesicht. Holden hatte noch genug Zeit, die drei Kugeln zu zählen, die auf dem schweren Brustpanzer des Gangsters zerschellt waren. Ruhmreich im Kugelhagel sterben, dachte er.

»Du verdammter …«, begann der Gangster. Dann flog sein Kopf zurück, und ein roter Nebel sprühte aus dem Hals. Er sank in sich zusammen.

»Nicht vergessen, immer auf die Lücke am Hals zielen«, sagte Miller hinter ihm. »Der Brustpanzer ist zu dick für Pistolenkugeln.«

Auf einmal wurde Holden schwindlig. Er beugte sich vor und schnappte nach Luft, schmeckte hinten im Hals etwas Scharfes und schluckte zweimal, um sich nicht zu übergeben. Er hatte Angst, das Erbrochene könne voller Blut und Magenschleimhaut sein. Das wollte er nicht sehen.

»Danke«, keuchte er und drehte sich zu Miller herum.

Der ehemalige Cop nickte knapp, ging zu dem Wächter und stieß ihn mit einem Fuß an. Holden richtete sich auf und sah sich auf dem Korridor um. Halb rechnete er mit der unvermeidlichen Welle rachsüchtiger Mafiagangster, die gleich über sie herfallen würden. Kein einziger war zu sehen. Er und Miller standen auf einer Insel der Ruhe inmitten des Weltuntergangs. Rings um sie brach rohe Gewalt aus. Die Menschen flohen in alle Richtungen, die Ganoven schrien in die Lautsprecheranlagen und unterstrichen die Drohungen mit gelegentlichen Schüssen. Doch sie waren nur einige Hundert, und es gab viele Tausend wütende, in Panik geratene Zivilisten. Miller deutete auf das Chaos.

»So etwas passiert, wenn man ein paar Idioten die Ausrüstung gibt, sodass sie glauben, sie wüssten, was sie tun«, bemerkte er.

Holden hockte sich neben das gestürzte Kind. Es war ein etwa dreizehnjähriger Junge mit asiatischen Gesichtszügen und dunklem Haar. In seiner Brust klaffte eine große Wunde, das Blut rann nur heraus, statt zu spritzen. Den Puls konnte Holden nicht mehr tasten. Er hob den Jungen trotzdem auf und sah sich um, als überlegte er, wohin er ihn bringen sollte.

»Er ist tot«, erklärte Miller, während er die verschossene Patrone ersetzte.

»Zur Hölle, das wissen wir nicht. Wenn wir ihn zum Schiff bringen können, dann …«

Miller schüttelte den Kopf und betrachtete traurig, aber auch sehr distanziert das Kind in Holdens Armen.

»Er hat ein großkalibriges Geschoss mitten in die Brust bekommen«, bekräftigte der Detective. »Er ist tot.«

»Verdammt auch«, sagte Holden.

»Das haben Sie schon mal gesagt.«

Über dem Korridor, der aus den Casinos heraus und zu den Rampen in Richtung der tiefer gelegenen Docks führte, blinkte ein rotes Neonschild: DANKE FÜR IHREN BESUCH. Darunter stand: AUF EROS SIND SIE IMMER EIN GEWINNER. Darunter waren zwei Reihen Männer in schweren Kampfrüstungen angetreten und versperrten den Weg. Sie hatten es aufgegeben, die Menge in den Casinos kontrollieren zu wollen, doch sie ließen auch keinen heraus.

Holden und Miller duckten sich hundert Meter vor den Soldaten hinter einen umgekippten Kaffeestand. Kurz darauf rannten ein Dutzend Leute auf die Wächter zu und wurden mit Maschinenpistolen niedergemäht. Sie stürzten dort, wo es einige andere kurz vorher versucht hatten.

»Ich zähle vierunddreißig«, sagte Miller. »Wie viele schaffen Sie?«

Holden fuhr überrascht herum, doch Millers Miene verriet ihm, dass der ehemalige Cop gescherzt hatte.

»Mal ernsthaft, wie kommen wir da vorbei?«, fragte Holden.

»Mehr als dreißig Männer mit Maschinenpistolen und freiem Schussfeld. Auf den letzten zwanzig Metern keine Deckung«, fasste Miller die Lage zusammen. »Da kommen wir nicht vorbei.«

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