54 Miller
»Ich will nicht, ich will nicht«, murmelte die Stimme von Eros. Juliette Mao sprach im Schlaf. »Ich will nicht will nicht will nicht …«
»Komm schon«, sagte Miller. »Nun komm schon, du Miststück. Du musst doch irgendwo sein.«
Die Krankenstation war stark von schwarzen Schlingen überwuchert, bronzefarbene und silbrige Fäden rankten sich an den Wänden empor, überzogen die Behandlungstische und verleibten sich die Vorräte an Betäubungsmitteln, Steroiden und Antibiotika ein, die aus den zerstörten Vorratsschränken gefallen waren. Miller wühlte mit einer Hand in dem Durcheinander herum. Der Alarm im Anzug zirpte, die Luft schmeckte säuerlich, nachdem sie viel zu oft durch den Recycler gelaufen war. Der Daumen, den er nach wie vor auf den Totmannknopf presste, kribbelte heftig, wenn er nicht gerade höllisch wehtat.
Er wischte den flechtenartigen Bewuchs von einem Lagerkasten, der nicht zerbrochen war, und fand den Verschluss. Darin befanden sich vier medizinische Gasflaschen: zwei rote, eine grüne und eine blaue. Er betrachtete die Dichtungen. Das Protomolekül hatte sie noch nicht geknackt. Rot war ein Betäubungsmittel, blau war Stickstoff. Er nahm die grüne Flasche. Die sterile Kappe des Ventils war noch in Ordnung. Er seufzte in der verbrauchten Luft, legte das Handterminal zur Seite (eins … zwei …), knackte die Versiegelung (drei …), verband den Anschluss mit dem Stutzen seines Anzugs (vier …) und legte den Finger auf das Handterminal. Er richtete sich auf und hielt die schwere Gasflasche in der Hand, die seine Luftversorgung aufstockte. Zehn Minuten, eine Stunde, vier Stunden. Als zwischen der Gasflasche und dem Anzug der Druckausgleich hergestellt war, löste er sie wieder. Vier weitere Stunden. Er hatte vier Stunden herausgeholt.
Es war das dritte Mal, dass er nach dem Gespräch mit Holden einen Notvorrat gefunden hatte. Beim ersten Mal war es eine Feuerwache gewesen, beim zweiten Mal eine Reserveeinheit der Luftversorgung. Wenn er zum Raumhafen zurückkehrte, würde er vermutlich brauchbaren Sauerstoff in einigen Vorratsschränken und angedockten Schiffen finden. Wenn er ganz bis zur Oberfläche ging, fand er mehr als genug in den Schiffen der AAP.
Aber dazu hatte er keine Zeit. Er suchte keine Atemluft, er suchte Juliette. Mühsam streckte er sich. Im angespannten Nacken und im Rücken würde er bald Krämpfe bekommen. Obwohl er frischen Sauerstoff nachgefüllt hatte, war der CO2-Gehalt im Anzug immer noch bedenklich hoch. Der Anzug brauchte eine gründliche Überholung und neue Filter, aber das musste warten. Die Bombe lag unbeeindruckt auf dem Karren.
Er musste sie finden. Irgendwo im Gewirr der Korridore und Räume, in dieser toten Stadt, steuerte Juliette Mao sie zur Erde. Vier besonders warme Stellen hatte er schon gefunden. Drei waren gute Kandidaten für eine mächtige Nuklearexplosion, denn dort waren Drähte und schwarze Fäden stark konzentriert und hatten organisch aussehende Knotenpunkte gebildet. Der vierte Punkt war ein billiger Laborreaktor gewesen, der irgendwann sowieso eine Kernschmelze erleiden würde. Miller hatte fünfzehn Minuten gebraucht, um die Notabschaltung in Gang zu setzen. Wahrscheinlich war es verlorene Zeit. Doch wohin er auch ging, Julie konnte er nicht finden. Sogar die Julie aus seinen Fantasien war verschwunden, als fände der Geist nun keinen Platz mehr, da er wusste, dass die Frau in gewisser Weise noch lebte. Er vermisste sie, auch wenn sie nur eine Vision gewesen war.
Eine Welle lief durch die Krankenstation, der fremde Bewuchs erhob sich und fiel wie Eisenfeilspäne, unter denen man einen Magneten vorbeiführt. Millers Herz raste, der Adrenalinpegel stieg, doch es wiederholte sich nicht.
Er musste sie finden, und zwar sehr bald. Allmählich setzte ihm die Erschöpfung zu, hinten in seinem Kopf nagten kleine Zähnchen. Er konnte nicht mehr so klar denken, wie es nötig gewesen wäre. Auf Ceres hätte er sich in sein Loch verkrochen, den ganzen Tag geschlafen und das Problem abermals angepackt. Das kam hier nicht infrage.
Ein voller Kreis. Er hatte einen vollen Kreis beschrieben. Einmal, in einem früheren Leben, hatte er die Aufgabe übernommen, sie zu suchen. Als er versagt hatte, war Rache sein einziger Gedanke gewesen. Jetzt hatte er abermals die Gelegenheit, sie zu finden und zu retten. Falls ihm das wieder nicht gelang, so zog er wenigstens noch einen primitiven Karren mit quietschenden Rädern hinter sich her, der Vergeltung üben konnte.
Miller schüttelte den Kopf. Momente wie dieser, in denen er untätig den eigenen Gedanken nachhing, häuften sich. Er packte den Karren mit der Fusionsbombe, beugte sich vor und machte sich auf den Weg. Die Station gab knarrende Laute von sich, wie es vielleicht eines dieser alten Segelschiffe getan hätte, wenn sich die Balken in den salzigen Wellen bogen und im großen Tauziehen zwischen Erde und Mond die Gezeiten wechselten. Hier war es Stein, und Miller konnte nicht einmal ahnen, welche Kräfte auf ihn einwirkten. Hoffentlich nichts, was das Signal zwischen seinem Handterminal und der Bombe störte. Er wollte nicht versehentlich in Atome zerlegt werden.
Schließlich sah er ein, dass er unmöglich die ganze Station absuchen konnte. Das war ihm von Anfang an klar gewesen. Wenn Julie sich in irgendeine Ecke, in eine Nische oder ein Loch verkrochen hatte wie eine sterbende Katze, dann konnte er sie nicht finden. Er hatte sich auf ein Glücksspiel eingelassen und wider alle Hoffnung unterstellt, er werde sie schon irgendwie entdecken. Die Stimme von Eros veränderte sich, es waren jetzt sogar mehrere Stimmen, die irgendetwas auf Hindi sangen. Ein Kinderchor. Eros eignete sich immer mehr Stimmen an. Da er inzwischen wusste, worauf er achten musste, entdeckte er Julies Stimme zwischen den anderen. Vielleicht war sie schon immer da gewesen. Die Frustration bereitete ihm fast körperliche Schmerzen. Sie war so nahe, und doch konnte er sie nicht erreichen.
Er schleppte sich zu den Hauptkorridoren zurück. Die Krankenstationen waren natürlich gute Orte gewesen, um sie zu suchen. Plausibel. Ergebnislos. Er hatte zwei kommerzielle biologische Laboratorien erkundet. Nichts. Er hatte es in der Leichenhalle und den Arrestzellen der Polizei versucht. Er hatte sogar die Asservatenkammer durchgesehen, eine Plastikkiste nach der anderen. Beschlagnahmte Drogen und Waffen lagen nun auf dem Boden verstreut wie die Eichenblätter in einem großen Park. Früher hatte das alles eine Bedeutung gehabt. Alles war ein Teil des kleinen menschlichen Dramas gewesen und hatte nur darauf gewartet, ans Licht zu kommen, sei es bei einer Verhandlung oder wenigstens bei einer Vernehmung. Eine kleine Vorübung für den Tag des jüngsten Gerichts, der nun bis in alle Ewigkeit verschoben schien. All dies war nun sinnlos.
Über ihn flog etwas Silbernes hinweg, schneller als ein Vogel. Dann noch eines und dann ein ganzer Schwarm. Licht schimmerte auf dem lebenden Metall, das so hell glänzte wie Fischschuppen. Miller betrachtete die fremden Moleküle, die gerade die Luft eroberten.
Sie dürfen jetzt nicht aufgeben, sagte Holden. Sie müssen aufhören herumzurennen und den richtigen Weg finden.
Er sah sich über die Schulter um. Ganz real und doch nicht real stand dort der Kapitän, wo sonst die innere Julie gestanden hätte.
Das ist aber mal interessant, dachte Miller.
»Schon klar«, entgegnete er laut. »Es ist nur … ich weiß nicht, wohin sie gegangen ist. Und … sehen Sie sich doch um. Eros ist ziemlich groß.«
Sie müssen Julie aufhalten, denn sonst werde ich es tun, erklärte der eingebildete Holden.
»Wenn ich nur wüsste, wohin sie sich gewandt hat«, überlegte Miller.
Sie ist nicht weggelaufen, entgegnete Holden. Das konnte sie nicht mehr.
Miller drehte sich um. Die silbernen Objekte flogen, wie Insekten zirpend oder wie eine ungeschmierte Antriebswelle quietschend, über ihn hinweg. Der Kapitän sah müde aus. Überraschenderweise hatte Millers Fantasie dem Mann an einem Mundwinkel einen Blutfleck verpasst. Außerdem war es jetzt nicht mehr Holden, sondern Havelock. Der andere Erder. Sein früherer Partner. Dann war es Muss, deren Augen so tot blickten wie seine eigenen.
Julie war nicht fortgelaufen. Miller hatte sie im Hotelzimmer gesehen und nicht glauben wollen, dass sie wirklich tot war. Damals. Dann hatten die Cops sie in einen Leichensack gesteckt und woanders hingebracht. Die Wissenschaftler von Protogen hatten die Leiche geborgen, das Protomolekül geerntet und Julies umgewandeltes Fleisch in der Station verbreitet wie Bienen, die eine Blumenwiese bestäuben. Sie hatten ihr die Station gegeben, aber vorher hatten sie sie an irgendeinen Ort gebracht, den sie für sicher gehalten hatten.
Ein sicherer Raum. Bis sie bereit gewesen waren, das Ding zu verteilen, hatten sie es eingesperrt. Oder vorgegeben, sie könnten es einsperren. Sie hatten sich gewiss nicht die Mühe gemacht, hinter sich aufzuräumen, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten. Hinterher würde ja niemand mehr da sein, den irgendetwas stören konnte, also bestand Hoffnung, dass Julie immer noch dort war. Das engte die Suche erheblich ein.
In den Kliniken gab es Isolierstationen, aber Protogen hatte sicher keine Einrichtung benutzt, in der außenstehende Ärzte und Schwestern neugierige Fragen stellen konnten. Das wäre ein unnötiges Risiko gewesen.
Also gut.
Sie hätten sich in einer Fabrik unten in der Nähe des Raumhafens einquartieren können. Dort gab es viele Bereiche, in denen nur Automaten arbeiteten. Doch auch dort hätten sie entdeckt oder befragt werden können, ehe sie bereit gewesen wären.
Eine Drogenküche, sagte Muss in seinem Kopf. Wenn du nicht gestört werden willst, dann musst du die Umgebung kontrollieren. Das Virus aus dem toten Mädchen zu holen oder die guten Sachen aus den Mohnsamen zu extrahieren erfordert vielleicht unterschiedliche chemische Prozesse, aber es ist so oder so ein Verbrechen.
»Gutes Argument«, stimmte Miller zu. »In der Nähe der Casinoebene … nein, das stimmt nicht. Das Casino war die zweite Stufe. Die erste Stufe war die Drohung mit der Verstrahlung. Sie haben eine Menge Leute in die Strahlenschutzräume gesteckt und sie dort gebraten, um das Protomolekül glücklich zu machen. Erst danach haben sie die Casinos infiziert.«
Wo kann man ein Drogenlabor einrichten, das nahe genug an den Strahlenschutzräumen ist?, fragte Muss.
Der wallende silberne Strom flog über ihm vorbei und wehte nach links und rechts. Winzige Metallkringel regneten herab und zogen dünne Rauchfahnen hinter sich her.
»Wenn ich einen uneingeschränkten Zugang hätte, würde ich mich für die Reservekontrolle entscheiden. Das ist ein Raum, der nur in Notfällen benutzt wird. Wenn nicht gerade Inventur ist, lässt sich dort nie jemand blicken. Alles, was nötig ist, um ihn vollständig zu isolieren, ist bereits vorhanden. Kein Problem.«
Da Protogen auf Eros für die Sicherheit gesorgt hat, bevor sie die Aufgabe an entbehrliche Gauner übertragen haben, hatten sie die Gelegenheit, so etwas zu arrangieren, erklärte Muss ihm und lächelte dabei freudlos. Siehst du? Ich wusste doch, dass du es bis zu Ende durchdenken kannst.
Weniger als eine Sekunde lang verschwand Muss, und Julie Mao – seine Julie – trat an ihre Stelle. Sie lächelte und war schön, strahlend. Das Haar schwebte um sie herum, als werde es nicht von der Schwerkraft beeinflusst. Dann war sie fort. Ein Alarmsignal warnte ihn vor der aggressiven Atmosphäre.
»Halte durch«, sagte er zu der brennenden Luft. »Ich bin gleich da.«
Etwas weniger als dreißig Stunden waren seit dem Augenblick vergangen, in dem er erkannt hatte, dass Juliette Andromeda Mao nicht tot war. Jetzt deaktivierte er die Verriegelung und zog den Karren in das Reservesystem, das im Notfall die Kontrolle der Umweltbedingungen auf Eros übernehmen konnte. Unter den Auswüchsen des Protomoleküls waren die sauberen, einfachen Konturen der Pulte zu erkennen, die den Bedienern so wenig Spielraum für Irrtümer wie möglich lassen sollten. Bündel dunkler Fasern ringelten sich über die Wände, den Boden und die Decke. Von der Decke hingen Büschel wie Spanisches Moos herab. Hinter dem Bewuchs leuchteten noch die LED-Lampen, doch der größte Teil des Lichts stammte von glühenden blauen Punkten, die in der Luft schwebten. Schon beim ersten Schritt sank er bis zum Fußgelenk ein. Der Karren mit der Bombe musste draußen bleiben. Der Anzug meldete ihm eine verrückte Mischung exotischer Gase und aromatischer Kohlenwasserstoffe, doch im Innern roch er nur sich selbst.
Die Räume der Reservestation waren verwandelt, transformiert. Er ging durch den Bereich, der das Abwasser kontrollierte, und kam sich vor wie ein Höhlentaucher. Die blauen Lichter tanzten um ihn herum, als er vorbeikam. Ein paar Dutzend blieben funkelnd am Anzug hängen. Fast hatte er Hemmungen, sie vom Helmvisier abzustreifen, weil er fürchtete, sie könnten schmieren wie tote Glühwürmchen, doch sie wirbelten nur in die Luft davon. Die Monitore der Luftversorgung zeigten zuckende Kurven, tausend Warnmeldungen und Benachrichtigungen über Vorfälle, die unter dem Geflecht des Protomoleküls auf den Bildschirmen nur halb zu erkennen waren. Irgendwo in der Nähe plätscherte Wasser.
Sie lag in einem Dekontaminationsraum auf einem Bett aus dunklen Fäden, die aus ihrem Rücken hervorgequollen waren und sich mit den aufgefächerten Haaren zu einem Polster verwoben hatten, wie man es in einem Märchen zu sehen erwartet hätte. Winzige Lichtpunkte schimmerten auf dem Gesicht, den Armen und den Brüsten. Die knochigen Auswüchse, über denen sich ihre Haut gespannt hatte, waren weiter angeschwollen und stellten stützende Verbindungen zu der weichen Unterlage her. Die Beine waren verschwunden, nicht mehr erkennbar in dem dunklen fremden Geflecht. Sie erinnerte Miller an eine Meerjungfrau, die ihre Flossen gegen eine Raumstation eingetauscht hatte. Die Augen waren geschlossen, bewegten sich jedoch unter den Lidern. Sie atmete.
Miller blieb neben ihr stehen. Das Gesicht entsprach nicht ganz der Julie, die er sich vorgestellt hatte. Die reale Frau hatte ein breiteres Gesicht, und die Nase war nicht ganz so gerade wie in seiner Erinnerung. Erst als er die Tränen wegwischen wollte und mit dem Handschuh gegen das Helmvisier stieß, wurde ihm bewusst, dass er weinte. So konnte er nur energisch blinzeln, um die Tränen zu vertreiben.
All die Zeit, dieser weite Weg. Jetzt hatte er gefunden, was er suchte.
»Julie.« Er legte ihr die freie Hand auf die Schulter. »He, Julie, wach auf. Du musst jetzt aufwachen.«
Sein Raumanzug verfügte über verschiedene Medikamente. Wenn nötig, konnte er ihr Adrenalin oder Amphetamine geben. Doch er wiegte sie nur leicht hin und her. So hatte er es mit Candace an einem schläfrigen Sonntagmorgen getan. Damals, als sie noch seine Frau gewesen war. Damals in einem fernen, fast vergessenen Leben. Julie runzelte die Stirn, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
»Julie, du musst jetzt aufwachen.«
Sie stöhnte und hob hilflos einen Arm, um ihn wegzuschieben.
»Komm zurück zu mir«, drängte er sie. »Komm zu mir.«
Sie öffnete die Augen. Es waren keine menschlichen Augen mehr, rote und schwarze Schleier waren in ihnen zu erkennen, die Iris war von dem gleichen leuchtenden Blau wie die Glühwürmchen. Nicht menschlich, aber immer noch Julie. Sie bewegte lautlos die Lippen. Dann sagte sie:
»Wo bin ich?«
»Auf der Eros-Station«, erklärte Miller. »Aber sie ist nicht mehr das, was sie früher einmal war. Sie ist auch nicht mehr dort, wo sie war, und …«
Er drückte auf das Geflecht unter ihr, prüfte, ob es hielt, und hockte sich darauf, als säße er auf ihrer Bettkante. Er war unendlich müde und fühlte sich leichter, als es hätte der Fall sein sollen. Es hatte nichts mit der niedrigen Schwerkraft zu tun. Diese irreale Leichtigkeit hatte nichts mit dem müden Körper zu tun.
Julie wollte wieder reden, rang mit sich, hielt inne, versuchte es noch einmal.
»Wer bist du?«
»Ja, wir sind uns offiziell nie begegnet, was? Ich bin Miller. Früher auf Ceres habe ich für die Star Helix Security gearbeitet. Deine Eltern haben uns unter Vertrag genommen, aber es war eher ein Gefallen, den man Leuten wie ihnen eben erweisen muss. Jedenfalls sollte ich dich finden, dich schnappen und dich in die Schwerkraftsenke schicken.«
»Eine Entführung?« Ihre Stimme klang jetzt kräftiger, der Blick wirkte konzentriert.
»Eigentlich eine ziemlich alltägliche Sache.« Miller seufzte. »Allerdings habe ich es vermasselt.«
Flatternd schlossen sich ihre Augenlider, doch sie sprach weiter.
»Mit mir ist etwas passiert.«
»Ja.«
»Ich habe Angst.«
»Nein, nein, nein. Hab keine Angst. Es ist schon gut. Auf eine verrückte Art und Weise ist alles gut. Hör mal, im Moment fliegt die ganze Station sehr schnell zur Erde.«
»Ich habe geträumt, ich flöge ein Rennen und wäre auf dem Heimweg.«
»Ja, das müssen wir unterbinden.«
Sie öffnete die Augen. Jetzt wirkte sie verloren, gequält, einsam. Eine blau glitzernde Träne rann aus dem Augenwinkel.
»Gib mir deine Hand«, sagte Miller. »Nein, ich meine, du musst etwas für mich festhalten.«
Sie hob langsam den Arm, die Anhängsel wogten wie Seetang in einer leichten Strömung. Er nahm das Terminal, drückte es ihr in die Hand und legte ihren Daumen auf den Schalter.
»Das musst du festhalten. Lass ja nicht los.«
»Was ist es?«, fragte sie.
»Das ist eine lange Geschichte. Lass nur nicht los.«
Die Alarmsignale des Anzugs kreischten ihn an, als er die Versiegelung des Helms löste. Er schaltete sie ab. Die Luft roch seltsam – nach Essigsäure und Cumin, außerdem war da ein dunkler, starker Moschusduft, der ihn an Tiere im Winterschlaf denken ließ. Julie sah ihm zu, als er die Handschuhe ablegte. Sofort sprang das Protomolekül ihn an, bohrte sich in seine Haut und die Augen und wollte mit ihm das tun, was es schon mit allen anderen auf Eros getan hatte. Es war ihm egal. Er nahm ihr das Handterminal wieder ab und verflocht seine Finger mit ihren.
»Du fährst diesen Bus, Julie«, sagte er. »Wusstest du das nicht? Ich meine, kannst du es erkennen?«
Kühl, aber nicht kalt berührten ihre Finger seine Hand.
»Ich kann … ich spüre etwas«, sagte sie. »Ich habe Hunger. Nein, es ist kein Hunger, sondern … ich will etwas. Ich will zurück zur Erde.«
»Das können wir nicht tun. Du musst den Kurs wechseln«, erwiderte Miller. Was hatte Holden gesagt? Geben Sie ihr die Venus. »Fliege stattdessen zur Venus.«
»Das ist nicht das, was es will«, antwortete sie.
»Das ist das, was wir anbieten können«, erklärte Miller. Einen Moment später fügte er hinzu: »Wir können nicht nach Hause fliegen. Wir müssen zur Venus.«
Sie schwieg eine Weile.
»Du bist eine Kämpferin, Julie. Du lässt niemals zu, dass jemand dich herumstößt. Fang nicht jetzt damit an. Wenn wir zur Erde fliegen, dann …«
»Dann isst es sie auch. Wie es mich gegessen hat.«
»Genau.«
Sie blickte zu ihm auf.
»Ja«, sagte er noch einmal. »Genau so.«
»Was geschieht dann auf der Venus?«
»Vielleicht sterben wir. Ich weiß es nicht. Jedenfalls müssen nicht so viele Menschen mit uns sterben, und wir sorgen dafür, dass niemand dieses Zeug hier in die Finger bekommt«, sagte er und deutete in die Runde. »Falls wir aber nicht sterben, dann … dann wird es interessant.«
»Ich glaube, das kann ich nicht.«
»Doch, das kannst du. Hat dieses Ding all dies hier getan? Du bist klüger als die Viren. Du hast die Kontrolle. Bringe uns zur Venus.«
Die Glühwürmchen tanzten um sie herum, das blaue Licht pulsierte leicht: hell und dunkel, hell und dunkel. Miller sah es ihr sofort an, als sie sich entschieden hatte. Ringsherum wurden die Lichter heller, die Grotte war in hellblaues Licht getaucht und war gleich darauf wieder so dunkel wie zuvor. Miller spürte etwas in der Kehle, das sich anfühlte wie der erste Anflug einer Heiserkeit. Er fragte sich, ob er überhaupt noch Zeit hätte, die Bombe zu deaktivieren. Dann sah er Julie an. Juliette Andromeda Mao. AAP-Pilotin. Erbin und Thronfolgerin von Mao-Kwikowski. Der Saatkristall einer Zukunft, die anders würde als alles, was er sich je erträumt hatte. Er würde reichlich Zeit haben.
»Ich fürchte mich.«
»Das musst du nicht«, beruhigte er sie.
»Ich weiß nicht, was geschehen wird«, sagte sie.
»Das weiß niemand. Aber du bist ja nicht allein.«
»Ich spüre etwas im Hinterkopf. Es will etwas, das ich nicht verstehe. Es ist so groß.«
Automatisch küsste er ihren Handrücken. Tief in seinem Bauch schmerzte etwas. Eine beginnende Krankheit, eine kleine Übelkeit. Die Vorboten seiner Verwandlung in Eros.
»Keine Sorge«, sagte er. »Alles wird gut.«