12 Miller

Miller arbeitete seit dreißig Jahren für die Sicherheitsdienste. Gewalt und Tod waren altbekannte Begleiter. Männer, Frauen. Tiere. Kinder. Einmal hatte er die Hand einer Frau gehalten, während sie verblutet war. Er hatte zwei Menschen getötet und konnte sie immer noch sterben sehen, wenn er die Augen schloss und daran dachte. Hätte jemand ihn gefragt, dann hätte er gesagt, dass es nicht viel gab, was ihn zu erschüttern vermochte.

Der Ausbruch eines Krieges war selbst für ihn etwas Neues.

In der Distinguished Hyacinth Lounge herrschte wie üblich zum Schichtwechsel reger Betrieb. Männer und Frauen in den Uniformen der Wachdienste – die meisten gehörten zu Star Helix, doch es waren auch kleinere Firmen darunter – nahmen entweder den Feierabendtrunk zu sich, um herunterzukommen, oder bedienten sich am Frühstücksbuffet mit Kaffee, Formpilzen in süßer Soße und Imitaten, die Fleisch im Verhältnis eins zu tausend enthielten. Miller kaute an einem Würstchen und betrachtete das Wanddisplay, aus dem gerade ein Firmensprecher von Star Helix herausschaute. Er strahlte große Ruhe und Zuversicht aus, während er erklärte, dass die ganze Welt vor die Hunde ging.

»Die ersten Scans zeigen, dass die Explosion die Folge eines fehlgeschlagenen Versuchs war, ein nukleargetriebenes Gerät mit der Andockstation zu verbinden. Vertreter der marsianischen Regierung bezeichnen den Vorfall lediglich als ›angeblichen terroristischen Anschlag‹ und weigern sich, die laufenden Ermittlungen zu kommentieren.«

»Schon wieder«, sagte Havelock hinter ihm. »Irgendwann wird es eines dieser Arschlöcher mal richtig anpacken.«

Miller drehte sich herum und nickte in die Richtung des Stuhls neben ihm. Havelock setzte sich.

»Das wird ein interessanter Tag«, antwortete Miller. »Ich wollte dich gerade anrufen.«

»Ja, tut mir leid«, sagte sein Partner. »Bin spät aufgestanden.«

»Hast du schon etwas von deiner Versetzung gehört?«

»Nein«, erwiderte Havelock. »Wahrscheinlich verstauben meine Papiere auf irgendeinem Schreibtisch in Olympus. Was ist mit dir? Gibt es etwas Neues über dein Geheimprojekt mit diesem Mädchen?«

»Noch nicht«, sagte Miller. »Hör mal, ich wollte mich hier mit dir treffen, ehe wir anfangen, weil … ich brauche zwei Tage, um im Zusammenhang mit Julie ein paar Hinweisen nachzugehen. Da hier aber so viel anderer Mist im Gange ist, will Shaddid mich darauf beschränken, ein bisschen herumzutelefonieren.«

»Aber das ignorierst du.« Havelock hatte es nicht als Frage formuliert.

»Ich habe da so ein ungutes Gefühl.«

»Wie kann ich dir helfen?«

»Du musst mich decken.«

»Wie soll ich das machen?«, fragte Havelock. »Ich kann ihnen ja schlecht erzählen, du seist krank. Die haben Zugriff auf alle medizinischen Unterlagen, auch auf deine.«

»Sag ihnen, ich hätte in der letzten Zeit zu viel getrunken. Candace sei vorbeigekommen. Sie ist meine Exfrau.«

Havelock kaute mit gerunzelter Stirn an seiner Wurst. Der Erder schüttelte langsam den Kopf – es war keine Ablehnung, sondern das Vorspiel zu einer Frage. Miller wartete.

»Du willst also deiner Vorgesetzten einreden, du kämst deiner Arbeit nicht nach, weil du dein gebrochenes Herz im Suff ertränkst, statt sie wissen zu lassen, dass du die Arbeit machst, mit der sie dich eigentlich beauftragt hat? Das kapier ich nicht.«

Miller leckte sich die Lippen und beugte sich vor. Er stützte die Ellbogen auf den schmutzig weißen Tisch. Irgendjemand hatte eine Figur in das Plastik geritzt: einen geteilten Kreis. Und das in einer Bar, in der vor allem Cops verkehrten.

»Ich weiß nicht, was dabei überhaupt herauskommen soll«, erklärte Miller. »Es gibt einige Dinge, die auf irgendeine Weise zusammenhängen, nur habe ich bisher noch keine Ahnung, worin die Verbindung besteht. Solange ich nicht mehr weiß, muss ich mich zurückhalten. Aber wenn ein Mann ein kurzes Abenteuer mit seiner Exfrau hat und danach ein paar Tage zu tief ins Glas schaut, wird sich niemand etwas dabei denken.«

Havelock schüttelte abermals den Kopf, dieses Mal ein wenig ungläubig. Wäre er ein Gürtler gewesen, dann hätte er eine Geste mit den Händen gemacht, die man auch bei angelegtem Druckanzug noch wahrgenommen hätte. Auf dem Wanddisplay erschien jetzt eine blonde Frau, die eine streng geschnittene Uniform trug. Der Firmensprecher erzählte unterdessen etwas über die taktische Reaktion der marsianischen Raummarine und spekulierte, ob die AAP hinter dem zunehmenden Vandalismus steckte. So nannte er es, wenn jemand an einem überlasteten Fusionsreaktor herumspielte und eine Falle baute, die Raumschiffe vernichten konnte: Vandalismus.

»Dieser Mist passt einfach nicht zusammen«, sagte Havelock. Miller wusste im ersten Moment nicht, ob sein Partner die Guerillaaktionen der Gürtler, die marsianische Reaktion oder den Gefallen meinte, um den er ihn gerade gebeten hatte. »Ehrlich, wo ist die Erde? Hier passiert so viel, und wir hören rein gar nichts von dort.«

»Warum sollten wir etwas hören?«, erwiderte Miller. »Der Mars und der Gürtel haben Krach.«

»Wann ist das letzte Mal etwas Wichtiges geschehen, ohne dass die Erde die Finger im Spiel gehabt hätte?« Havelock seufzte. »Na gut, du bist zu betrunken, um zum Dienst zu erscheinen. Dein Liebesleben ist im Eimer. Ich decke dich.«

»Nur für zwei Tage.«

»Aber tauche rechtzeitig wieder auf, ehe jemand beschließt, dies sei der richtige Augenblick, mit dem Cop von der Erde Schießübungen zu veranstalten.«

»Mach ich«, versprach Miller. Er stand auf. »Pass auf dich auf.«

»Das lass ich mir nicht zweimal sagen«, erwiderte Havelock.

Das Jiu-Jitsu-Zentrum befand sich in der Nähe des Hafens, wo die durch Rotation erzeugte Schwerkraft am stärksten war. Das Loch war ein umgebautes Lager aus der Zeit vor der Beschleunigung. Die oberen zwei Drittel des zylinderförmigen Raums waren durch einen ebenen, später eingezogenen Boden abgetrennt. Auf Regalen lagerten verschiedene Stäbe und Bambusschwerter, an der gewölbten Decke hingen stumpfe Übungsmesser. Zwischen den Wänden aus poliertem Stein hallte das Grunzen der Männer, die mit Kraftmaschinen trainierten. Eine Frau bearbeitete einen schweren Sack mit Faustschlägen. Drei Schülerinnen standen in der Mitte auf der Matte und redeten leise miteinander.

Links und rechts neben der Tür hingen Bilder an der Wand. Uniformierte Soldaten, Sicherheitskräfte von einem halben Dutzend Gürtler-Firmen. Nicht viele Leute von den inneren Planeten, aber immerhin ein paar. Plaketten erinnerten an die Erfolge bei Wettkämpfen. In kleiner Schrift informierte ein Dokument den Besucher über die Geschichte des Clubs.

Eine Schülerin stieß einen Ruf aus, ließ sich fallen und zog eine andere mit sich hinunter. Die dritte, die noch stand, applaudierte und half den beiden beim Aufstehen. Miller betrachtete die Bilder an der Wand und hoffte, Julie zu entdecken.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann war einen halben Kopf kleiner als Miller und mindestens doppelt so breit. Damit wäre er eigentlich als Erder durchgegangen, doch alles andere an ihm verriet, dass er vom Gürtel stammte. Er trug helle Trainingssachen, in denen die Haut noch dunkler wirkte, und lächelte neugierig und heiter wie ein gut genährtes Raubtier. Miller nickte.

»Detective Miller«, stellte er sich vor. »Ich arbeite für den Wachdienst der Station. Ich würde gern etwas über eine Ihrer Schülerinnen erfahren.«

»Ist das eine offizielle Ermittlung?«, fragte der Mann.

»Ja«, bestätigte Miller. »Ich fürchte schon.«

»Dann haben Sie doch sicher einen Beschluss.«

Miller lächelte, der Mann lächelte zurück.

»Ohne Beschluss geben wir keine Informationen über unsere Schüler heraus«, sagte er. »So sieht unsere Geschäftspolitik aus.«

»Das respektiere ich«, lenkte Miller ein. »Ganz ehrlich. Es ist nur so, dass … gewisse Teile dieser Ermittlung sind möglicherweise sogar noch etwas offizieller als die anderen. Das Mädchen hat nichts zu befürchten, es hat nichts verbrochen. Aber sie hat Angehörige auf Luna, die sie finden wollen.«

»Also ein Entführungsauftrag.« Blitzschnell und ohne erkennbare Bewegung war das freundliche Gesicht abweisend geworden.

»Das ist der offizielle Teil«, bestätigte Miller. »Ich kann mir einen Beschluss besorgen, und dann läuft die Sache über offizielle Kanäle. Das müsste ich aber meiner Vorgesetzten erzählen, und je mehr sie weiß, desto weniger Spielraum habe ich.«

Der Mann reagierte nicht. Seine Ruhe war nervtötend. Miller musste sich bemühen, um nicht herumzuzappeln. Die Frau, die hinten im Studio den schweren Sack bearbeitete, ließ eine Serie schneller Schläge los und stieß bei jedem einen Schrei aus.

»Um wen geht es?«, fragte der Mann.

»Julie Mao«, sagte Miller. Der Reaktion des Trainers nach hätte er auch sagen können, dass er die Mutter Buddhas suchte. »Ich glaube, ihr könnte etwas zustoßen.«

»Was kümmert es Sie?«

»Das weiß ich selbst nicht so genau«, gab Miller zu. »Aus irgendeinem Grund ist es mir wichtig. Wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann lassen Sie es eben.«

»Und Sie besorgen sich Ihren Beschluss. Machen Sie es offiziell.«

Miller nahm den Hut ab und fuhr sich mit der langen schmalen Hand über den Kopf, dann setzte er ihn wieder auf.

»Wahrscheinlich nicht«, sagte er.

»Zeigen Sie mir mal Ihren Ausweis.« Miller zückte sein Terminal, damit sich der Mann von seiner Identität überzeugen konnte. Der Trainer gab ihm das Gerät zurück und deutete auf eine kleine Tür hinter den schweren Säcken. Miller folgte dem Hinweis.

Das Büro war überfüllt. Ein kleiner laminierter Schreibtisch mit einer weichen Kugel anstelle des Stuhls. Zwei Hocker, die aussahen, als stammten sie aus einer Bar. Ein Aktenschrank mit einer kleinen Stanzmaschine, die nach Ozon und Öl stank. Wahrscheinlich wurden dort die Plaketten und Urkunden hergestellt.

»Warum will die Familie sie zurückhaben?« Der Mann ließ sich auf der Kugel nieder. Sie diente ihm zwar als Sitz, doch er musste ständig aufpassen, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Eine Möglichkeit, sich auszuruhen, ohne wirklich zur Ruhe zu kommen.

»Sie fürchten, ihr könne etwas zustoßen. Das sagen sie jedenfalls, und ich habe bisher keinen Grund, ihnen nicht zu glauben.«

»Was könnte ihr schon passieren?«

»Das weiß ich nicht«, räumte Miller ein. »Ich weiß nur, dass sie hier war und nach Tycho gereist ist, aber danach finde ich rein gar nichts mehr.«

»Will die Familie sie auf ihre Station zurückholen?«

Der Mann wusste, wer sie war. Miller archivierte die Information, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken.

»Ich glaube nicht«, erwiderte der Polizist. »Die letzte Botschaft von ihnen lief über Luna.«

»In der Schwerkraftsenke.« Der Mann sprach es aus, als sei es eine grässliche Krankheit.

»Ich suche nach Leuten, die wissen könnten, mit wem Julie abgereist ist. Falls sie irgendwo angeheuert hat, will ich wissen, wohin sie fliegt und wann sie dort eintreffen soll. Und ob sie sich in Reichweite eines Richtstrahls befindet.«

»Darüber weiß ich nichts«, erwiderte der Mann.

»Kennen Sie denn jemanden, den ich fragen könnte?«

Es gab eine Pause.

»Vielleicht. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«

»Können Sie mir etwas über das Mädchen erzählen?«

»Sie hat vor fünf Jahren hier begonnen. Zuerst war sie … wütend. Undiszipliniert.«

»Sie ist rasch besser geworden«, ergänzte Miller. »Brauner Gürtel, richtig?«

Der Mann zog die Augenbrauen hoch.

»Ich bin Cop«, erklärte Miller. »Es ist mein Job, Dinge herauszufinden.«

»Sie ist besser geworden«, bestätigte der Lehrer. »Kurz nach ihrer Ankunft im Gürtel wurde sie angegriffen und sorgte dafür, dass es nicht noch einmal passieren konnte.«

»Angegriffen.« Miller überlegte, was der Mann gemeint haben könnte. »Vergewaltigt?«

»Ich habe sie nicht gefragt. Sie hat hart trainiert, selbst wenn sie nicht auf der Station war. Man sieht es, wenn die Leute es schleifen lassen. Sie kehren schwächer zurück. Das hat sie nie getan.«

»Ein zähes Mädchen«, sagte Miller. »Gut für sie. Hatte sie Freunde? Partner, mit denen sie trainiert hat?«

»Ein paar. Aber keine Liebhaber, soweit ich weiß. Das wäre wohl die nächste Frage gewesen.«

»Seltsam bei so einem Mädchen.«

»Bei was für einem Mädchen, Detective?«

»Sie ist hübsch«, sagte Miller. »Fähig, klug und entschlossen. Wer wäre nicht gern mit so jemandem zusammen?«

»Vielleicht hat sie noch nicht den Richtigen getroffen.«

Es klang beinahe amüsiert. Miller fühlte sich nicht wohl in seiner Haut und zuckte mit den Achseln.

»Was für eine Art Arbeit hatte sie überhaupt?«, fragte er.

»Leichte Frachter, über die Ladungen weiß ich aber nichts. Ich hatte den Eindruck, dass sie überall angeheuert hat, wo Leute gebraucht wurden.«

»Also kein Linienverkehr?«

»Das war mein Eindruck.«

»Wem gehörten die Schiffe, auf denen sie gearbeitet hat? War es immer ein bestimmter Frachter, hat sie wahllos alles angenommen, oder hat sie eine bestimmte Firma bevorzugt?«

»Ich werde sehen, was ich herausfinden kann«, versprach der Mann.

»Hat sie als Kurier für die AAP gearbeitet?«

»Ich finde heraus, was ich kann«, wiederholte der Trainer.

Am Nachmittag drehten sich die Nachrichten vor allem um Phoebe. Die dort angesiedelte wissenschaftliche Station – diejenige, an der die Gürtler nicht einmal anlegen durften – war angegriffen worden. Den Berichten nach war die Hälfte der Bewohner der Basis tot, die zweite Hälfte wurde vermisst. Bisher hatte noch niemand die Verantwortung dafür übernommen, aber es hieß allgemein, eine Gürtler-Gruppe – vielleicht die AAP oder jemand anders – habe schließlich einen Akt des »Vandalismus« zuwege gebracht, bei dem es Tote gegeben hatte. Miller saß in seinem Loch, sah Nachrichten und trank.

Es ging alles zum Teufel. Die Piratensender der AAP riefen zum Krieg auf, die Guerillaangriffe nahmen zu, überall gab es Unruhen. Früher oder später würde der Mars dies alles nicht mehr ignorieren können, und wenn der Mars aktiv wurde, spielte es keine Rolle, ob die Erde mitzog oder nicht. Es würde der erste echte Krieg im Gürtel werden. Die Katastrophe war absehbar, und keine Seite schien zu verstehen, wie verletzlich sie war. Es gab nichts, absolut nichts, was er tun konnte, um dies aufzuhalten. Er konnte nicht einmal die Entwicklung verzögern.

Julie Mao grinste ihn von dem Foto an, die Pinasse stand hinter ihr. Sie sei angegriffen worden, hatte der Trainer gesagt. Davon stand nichts in ihren Akten. Vielleicht ein Raubüberfall, vielleicht etwas Schlimmeres. Miller hatte eine Menge Opfer kennengelernt und teilte sie in drei Gruppen ein. Zuerst diejenigen, die so taten, als sei überhaupt nichts geschehen, oder es sei zwar etwas passiert, doch dies spiele keine Rolle. Dann die Typen, die ihr Erlebnis als Rechtfertigung dafür benutzten, sich einfach alles erlauben zu dürfen. Diese Gruppe war die weitaus größte.

Vielleicht fünf Prozent oder noch weniger nahmen es hin, lernten die Lektion und machten weiter. Leute wie Julie. Die besten.

Drei Stunden nachdem seine Schicht offiziell vorbei gewesen wäre, klingelte jemand an seiner Tür. Miller stand auf. Sein Gang war unsicherer als erwartet. Er zählte die Flaschen auf dem Tisch. Es waren mehr, als er gedacht hätte. Er zögerte einen Moment, weil er unsicher war, ob er öffnen oder erst die Flaschen in den Recycler werfen wollte. Wieder schellte es. Er ging zur Tür. Wenn es jemand von der Wache war, rechneten sie sowieso damit, dass er betrunken war. Es gab keinen Grund, die Erwartungen zu enttäuschen.

Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Aknenarben, beherrscht. Das AAP-Armband in der Bar. Der Mann, der Mateo Judd hatte umbringen lassen.

Der Cop.

»Guten Abend«, sagte Miller.

»Detective Miller«, begann der Pockennarbige, »unser letztes Gespräch ist etwas unerfreulich verlaufen. Ich hoffe, wir können es noch einmal versuchen.«

»Gut.«

»Darf ich reinkommen?«

»Normalerweise lasse ich keine Fremden rein«, erwiderte Miller. »Ich weiß nicht mal Ihren Namen.«

»Anderson Dawes«, erwiderte der Pockennarbige. »Ich bin auf Ceres der Verbindungsmann der Allianz der äußeren Planeten. Meiner Ansicht nach können wir uns gegenseitig helfen. Darf ich eintreten?«

Miller machte Platz, und Dawes kam herein. Er ließ sich zwei Atemzüge Zeit, Millers Wohnloch zu betrachten, dann setzte er sich, als halte er es nicht für nötig, die Flaschen und den Biergestank zu kommentieren. Miller verfluchte sich insgeheim und hätte sich gern kraft seiner Gedanken eine Nüchternheit verschafft, die weit außer Reichweite war. Er setzte sich dem Besucher gegenüber hin.

»Sie müssen mir einen Gefallen tun«, begann Dawes. »Ich bezahle auch dafür. Nicht mit Geld natürlich, sondern mit Informationen.«

»Was wollen Sie?«, fragte Miller.

»Hören Sie auf, nach Juliette Mao zu suchen.«

»Kommt nicht infrage.«

»Ich versuche, den Frieden zu erhalten, Detective«, fuhr Dawes fort. »Sie sollten mich erst einmal anhören.«

Miller beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Ob der freundliche Jiu-Jitsu-Lehrer für die AAP arbeitete? Dawes’ Besuch schien darauf hinzudeuten. Miller nahm sich vor, diesen Aspekt im Auge zu behalten, sagte jedoch nichts weiter.

»Mao hat für uns gearbeitet«, erklärte Dawes. »Aber das haben Sie sich sicher sowieso schon gedacht.«

»Mehr oder weniger. Wissen Sie, wo sie ist?«

»Nein. Wir suchen sie selbst. Und wir sind diejenigen, die sie finden müssen. Nicht Sie.«

Miller schüttelte den Kopf. Es gab eine Antwort darauf. Die richtige, angemessene Reaktion. Es dröhnte in seinem Hinterkopf. Wenn er nur nicht so benommen gewesen wäre.

»Sie sind einer von den anderen, Detective. Auch wenn Sie Ihr ganzes Leben hier draußen verbracht haben, Ihr Gehalt wird von einer Firma der inneren Planeten überwiesen. Nein, warten Sie – ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf. Ich verstehe schon, wie das ist. Man hat Leute gesucht, und Sie brauchten Arbeit. Aber … wir müssen jetzt wegen der Canterbury sehr vorsichtig sein. Die radikalen Elemente im Gürtel wollen einen Krieg.«

»Die Phoebe-Station.«

»Ja. Das wirft man uns jetzt vor. Und die verlorene Tochter der bekannten Unternehmer auf Luna …«

»Sie glauben, ihr sei etwas zugestoßen.«

»Sie war auf der Scopuli«, erklärte Dawes. Als Miller nicht sofort reagierte, fügte er hinzu: »Das ist der Frachter, den der Mars als Köder benutzt hat, um die Canterbury zu vernichten.«

Miller dachte eine Weile darüber nach, dann stieß er einen leisen Pfiff aus.

»Wir wissen nicht, was passiert ist«, fuhr Dawes fort. »Und solange wir es nicht wissen, wollen wir nicht, dass Sie Unruhe stiften. Es ist alles schon schlimm genug.«

»Und welche Informationen bieten Sie dafür?«, fragte Miller. »Sie waren doch auf einen Handel aus, oder?«

»Ich berichte Ihnen, was wir in Erfahrung bringen. Nachdem wir Julie ausfindig gemacht haben«, erklärte Dawes. Miller kicherte, worauf der AAP-Vertreter fortfuhr: »Wenn man bedenkt, wer Sie sind, ist das ein großzügiges Angebot. Angestellter der Erde, Partner eines Erders. Manch einer könnte Sie allein schon deshalb für einen Feind halten.«

»Aber nicht Sie«, entgegnete Miller.

»Ich glaube, wir verfolgen gemeinsame Ziele. Stabilität. Sicherheit. In schwierigen Zeiten werden seltsame Bündnisse geschlossen.«

»Ich habe noch zwei Fragen.«

Dawes war auf alles gefasst und breitete die Arme aus.

»Wer hat die Krawallausrüstung geklaut?«, fragte Miller.

»Was für eine Krawallausrüstung?«

»Vor der Vernichtung der Canterbury hat irgendjemand unsere Krawallausrüstung gestohlen. Vielleicht wollte man erreichen, dass schwer bewaffnete Einheiten in den Kampf ziehen. Vielleicht wollte irgendjemand verhindern, dass wir den Krawall beilegen. Wer hat die Sachen geklaut? Und warum?«

»Das waren wir nicht«, antwortete Dawes.

»Das ist keine Antwort. Versuchen wir es hiermit: Was ist mit der Golden Bough Society passiert?«

Dawes sah ihn verständnislos an.

»Loca Greiga?«, fuhr Miller fort. »Sohiro?«

Dawes öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Miller warf die Bierflasche in den Recycler.

»Ist nicht persönlich gemeint, mein Freund«, sagte er, »aber Ihre Fähigkeiten als Ermittler beeindrucken mich nicht. Wie kommen Sie auf die Idee, Sie könnten das Mädchen finden?«

»Dieser Test ist unfair«, sagte Dawes. »Geben Sie mir ein paar Tage Zeit, dann habe ich Antworten für Sie.«

»Dann sprechen Sie mich wieder an. Ich versuche, inzwischen keinen offenen Krieg anzuzetteln, aber von Julie lasse ich nicht ab. Sie können jetzt gehen.«

Dawes schnitt eine verdrossene Miene und stand auf.

»Sie machen einen Fehler«, sagte er.

»Das wäre nicht mein erster.«

Nachdem der Mann gegangen war, setzte Miller sich an den Tisch. Er war dumm gewesen. Noch schlimmer, er hatte sich gehen lassen. Er hatte sich einen Rausch angetrunken, statt sich um die Arbeit zu kümmern. Statt Julie zu suchen. Inzwischen wusste er allerdings etwas mehr. Die Scopuli. Die Canterbury. Ein paar neue Verbindungslinien zwischen den Punkten.

Er räumte die Flaschen weg, duschte und nahm das Terminal, um etwas über Julies Schiff in Erfahrung zu bringen. Nach einer Stunde fiel ihm etwas auf. Es war eine kleine Angst, die umso größer wurde, je länger er sich mit der Sache befasste. Gegen Mitternacht rief er Havelock zu Hause an.

Sein Partner brauchte geschlagene zwei Minuten, ehe er sich meldete. Mit struppigen Haaren und glasigen Augen erschien sein Gesicht auf dem Bildschirm.

»Miller?«

»Havelock, hast du noch ein paar Tage Urlaub?«

»Ein paar, ja.«

»Kannst du dich krankmelden?«

»Klar«, sagte Havelock.

»Nimm dir frei«, sagte Miller. »Jetzt sofort. Verlasse die Station und gehe an einen sicheren Ort, falls du einen findest. Geh irgendwohin, wo sie keine Erder aus nichtigen Gründen umbringen, wenn etwas schiefläuft.«

»Das verstehe ich nicht. Was redest du da?«

»Heute Abend hat mich ein Agent der AAP besucht. Er wollte mich überreden, den Entführungsjob bleiben zu lassen. Ich glaube … er ist nervös. Ich glaube, er hat Angst.«

Havelock schwieg einen Moment, während die Worte in sein schlaftrunkenes Hirn einsickerten.

»Jesus«, erwiderte er schließlich. »Was macht der AAP Angst?«

Leviathan erwacht - Corey, J: Leviathan erwacht - Leviathan Wakes
cover.html
Leviathan_erwacht_ePub.html
Leviathan_erwacht_ePub-1.html
Leviathan_erwacht_ePub-2.html
Leviathan_erwacht_ePub-3.html
Leviathan_erwacht_ePub-4.html
Leviathan_erwacht_ePub-5.html
Leviathan_erwacht_ePub-6.html
Leviathan_erwacht_ePub-7.html
Leviathan_erwacht_ePub-8.html
Leviathan_erwacht_ePub-9.html
Leviathan_erwacht_ePub-10.html
Leviathan_erwacht_ePub-11.html
Leviathan_erwacht_ePub-12.html
Leviathan_erwacht_ePub-13.html
Leviathan_erwacht_ePub-14.html
Leviathan_erwacht_ePub-15.html
Leviathan_erwacht_ePub-16.html
Leviathan_erwacht_ePub-17.html
Leviathan_erwacht_ePub-18.html
Leviathan_erwacht_ePub-19.html
Leviathan_erwacht_ePub-20.html
Leviathan_erwacht_ePub-21.html
Leviathan_erwacht_ePub-22.html
Leviathan_erwacht_ePub-23.html
Leviathan_erwacht_ePub-24.html
Leviathan_erwacht_ePub-25.html
Leviathan_erwacht_ePub-26.html
Leviathan_erwacht_ePub-27.html
Leviathan_erwacht_ePub-28.html
Leviathan_erwacht_ePub-29.html
Leviathan_erwacht_ePub-30.html
Leviathan_erwacht_ePub-31.html
Leviathan_erwacht_ePub-32.html
Leviathan_erwacht_ePub-33.html
Leviathan_erwacht_ePub-34.html
Leviathan_erwacht_ePub-35.html
Leviathan_erwacht_ePub-36.html
Leviathan_erwacht_ePub-37.html
Leviathan_erwacht_ePub-38.html
Leviathan_erwacht_ePub-39.html
Leviathan_erwacht_ePub-40.html
Leviathan_erwacht_ePub-41.html
Leviathan_erwacht_ePub-42.html
Leviathan_erwacht_ePub-43.html
Leviathan_erwacht_ePub-44.html
Leviathan_erwacht_ePub-45.html
Leviathan_erwacht_ePub-46.html
Leviathan_erwacht_ePub-47.html
Leviathan_erwacht_ePub-48.html
Leviathan_erwacht_ePub-49.html
Leviathan_erwacht_ePub-50.html
Leviathan_erwacht_ePub-51.html
Leviathan_erwacht_ePub-52.html
Leviathan_erwacht_ePub-53.html
Leviathan_erwacht_ePub-54.html
Leviathan_erwacht_ePub-55.html
Leviathan_erwacht_ePub-56.html
Leviathan_erwacht_ePub-57.html
Leviathan_erwacht_ePub-58.html
Leviathan_erwacht_ePub-59.html
Leviathan_erwacht_ePub-60.html
Leviathan_erwacht_ePub-61.html
Leviathan_erwacht_ePub-62.html