Kapitel drei
Was geschehen war, nachdem sie Abigail gefunden hatte, das konnte Emma nicht als eine ihrer Geschichten erzählen. Der Erzählfaden war nicht stark genug. Es war alles zu einem zu großen Kuddelmuddel in ihrem Kopf geworden. Einzelheiten fehlten. Sie hatte damals kaum verstanden, was vor sich ging. Im Schockzustand hatte sie sich auf nichts mehr konzentrieren können. Selbst heute noch tauchte das Bild der kalten, stummen Abigail immer dann vor ihrem inneren Auge auf, wenn sie es am wenigsten erwartete. An jenem Abend, dem Abend, nachdem sie die Leiche gefunden hatte, als sie alle in der Küche von Springhead House saßen, hatte es sich in ihren Gedanken eingenistet, es lähmte ihre Wahrnehmung und ließ alle Fragen wie von sehr weit her kommen. Und es war schuld daran, dass ihre Erinnerungen zusammenhanglos und unzuverlässig waren.
Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, dass sie mit ihrer Mutter zurück nach Hause gegangen war, doch sie sah sich am Hintereingang zögern, weil sie ihrem Vater nicht gegenübertreten wollte. Sie hatte es immer schon gehasst, ihn zu enttäuschen. Vielleicht hatte er sich gerade noch eine Standpauke zurechtgelegt, als er sie kommen hörte, doch die vergaß er schnell. Mary nahm ihn beiseite, den Arm um seine Schultern gelegt, und erklärte ihm im Flüsterton, was passiert war. Einen Augenblick lang stand er wie versteinert da. «Nicht hier», sagte er. «Nicht in Elvet.» Er drehte sich um und schloss Emma in die Arme, sodass sie seine Rasierseife riechen konnte. «Niemand sollte so etwas sehen müssen», sagte er. «Nicht mein kleines Mädchen. Es tut mir so leid.» Als wäre er auf irgendeine Weise schuld daran, als hätte er sie davor beschützen müssen. Dann wickelten sie sie in die kratzige Decke, die sie immer zum Picknicken benutzten, und riefen bei der Polizei an. In ihrem Schockzustand hatte sie das Gefühl, dass Robert, nachdem er einmal begriffen hatte, was geschehen war, das Drama ziemlich genoss.
Doch als dann die Kommissarin eintraf, um mit Emma zu reden, merkte er wohl, dass seine Anwesenheit nur störte, und ließ die drei Frauen in der Küche allein. Das musste ihm schwergefallen sein. Robert war in Krisenzeiten immer zur Stelle, er kümmerte sich um alle möglichen Notfälle: um seine Schützlinge, die sich vor seinem Büro die Pulsadern aufschnitten oder psychotische Anfälle bekamen oder die Kaution hatten verfallen lassen und nun auf der Flucht waren. Emma fragte sich, ob er seine Arbeit deshalb so liebte.
Vielleicht war mit der Kommissarin auch noch jemand anders nach Springhead House gekommen, der nun im Nebenzimmer mit Robert sprach, denn hin und wieder, während sie sich abmühte, die Fragen der Kommissarin zu beantworten, meinte Emma, gedämpfte Stimmen zu hören. Doch bei dem Heulen des Windes war das schwer zu sagen. Möglich, dass ihr Vater mit Christopher sprach und sie sich die dritte Stimme nur einbildete. Christopher musste an jenem Tag jedenfalls da gewesen sein.
Mary goss Tee auf in der großen braunen Steingutkanne, und sie setzten sich an den Küchentisch.
«Im Haus ist es so kalt», hob Mary an. «Hier haben wir wenigstens den Herd …» Und ausnahmsweise funktionierte der einmal vorschriftsmäßig und spendete etwas Wärme. Den ganzen Tag über war das Kondenswasser die Fenster heruntergelaufen und hatte auf den Fensterbänken kleine Seen gebildet. Damals kam Mary noch nicht mit dem Herd zurecht und trat ihm jeden Morgen gegenüber, als zöge sie in die Schlacht, wobei sie leise ein Gebet vor sich hin murmelte: Bitte heiz dich heute auf. Bitte geh mir nicht aus. Bitte bleib lange genug heiß, dass ich Essen kochen kann.
Doch der Kommissarin war offenbar immer noch kalt. Sie behielt den Mantel an und umklammerte ihren Teebecher mit beiden Händen. Sie musste Emma vorgestellt worden sein, aber ihr Name war Emmas Gedächtnis entwischt, kaum dass er einmal ausgesprochen war. Sie erinnerte sich daran, dass sie dachte, die Frau müsse bei der Polizei sein, obwohl sie in Zivil war und so chic gekleidet, dass es Emma sofort aufgefallen war. Unter dem Mantel trug sie einen dezent figurbetonten, knöchellangen Rock und braune Lederstiefel. Die ganze Befragung hindurch versuchte Emma krampfhaft, sich zu entsinnen, wie die Frau hieß, die schließlich die einzige Verbindung der Familie zur Polizei werden und sie über neue Entwicklungen in dem Fall informieren sollte, damit sie sie nicht erst aus der Zeitung erfahren mussten.
Die Kommissarin – Kate? Cathy? – saß noch kaum, da stellte sie schon diese Frage: «Was hast du denn da gemacht, allein draußen im Sturm?»
Es war so schwierig zu erklären. Emma konnte ja schlecht sagen: Na ja, es war halt Sonntagnachmittag. Obwohl ihrer Meinung nach keine weitere Erklärung nötig gewesen wäre. An den Sonntagen waren sie oft so gereizt, alle waren daheim und versuchten, eine mustergültige Familie zu sein. Es gab nicht viel, was man nach der Kirche noch unternehmen konnte.
An jenem Sonntag war es schlimmer gewesen als sonst. Emma hatte durchaus ein paar gute Erinnerungen an die gemeinsamen Mahlzeiten in Springhead House, Gelegenheiten, bei denen Robert aufgeräumt und mitteilsam war und Witze erzählte, über die sie sich vor Lachen kugelten, oder bei denen ihre Mutter über ein Buch, das sie gerade las, ins Schwärmen geriet. Dann schien es fast so, als kehrten die guten Zeiten, die sie in York verlebt hatten, zurück. Doch das war, bevor Abigail ums Leben kam. Das Mittagessen an jenem Sonntag markierte einen Wendepunkt, einen Stimmungsumschwung, jedenfalls kam es Emma später so vor. Sie erinnerte sich mit erstaunlicher Klarheit daran: Sie saßen alle vier am Tisch, Christopher war schweigsam und wie üblich vollkommen in seine eigenen Unternehmungen versunken, Mary teilte mit einer Art verzweifelter Energie das Essen aus, wobei sie unentwegt redete, Robert war ungewöhnlich still. Emma nahm sein Schweigen als gutes Zeichen auf und flocht ihre Frage ganz beiläufig ins Gespräch ein. Fast hoffte sie, dass er sie gar nicht hören würde.
«Es ist doch okay, wenn ich später noch zu Abigail gehe, oder?»
«Mir wäre es lieber, du bleibst hier.» Er sprach ganz ruhig, doch sie ging in die Luft.
«Wieso denn?»
«Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn du einmal einen Nachmittag mit deiner Familie verbringst.»
Das fand sie so ungerecht! Sie verbrachte jeden Sonntag eingepfercht in diesem schrecklichen, feuchten Haus, während ihre Freundinnen sich trafen und etwas unternahmen. Und noch nie hatte sie einen Aufstand gemacht.
Sie half ihm beim Abwasch, wie sonst auch, doch ihre Wut nahm nur weiter zu, schwoll an wie ein Fluss, der sich hinter einem Damm aufstaut. Als ihre Mutter später hereinschaute, sagte sie: «Ich gehe jetzt zu Abigail. Ich komme nicht so spät zurück.» Sie sagte es zu Mary, nicht zu ihm. Und dann stürmte sie an ihnen vorbei, ohne auf die flehentlichen Bitten ihrer Mutter zu achten.
All das kam ihr dumm und bedeutungslos vor, nun da sie wusste, dass Abigail tot war. Der Tobsuchtsanfall einer Zweijährigen. Und als dann ihre Mutter neben ihr saß und die schicke Frau sie ansah und auf etwas wartete, konnte sie ihren Frust und ihr Bedürfnis, da rauszukommen, kaum noch erklären.
«Mir war langweilig», sagte sie schließlich. «Sonntagnachmittag, Sie wissen schon.»
Die Kommissarin nickte, offenbar verstand sie das.
«Abigail war der einzige Mensch, den ich kenne. Auf der Straße sind es ein paar Meilen. Es gibt eine Abkürzung über die Felder.»
«Wusstest du denn, ob Abigail zu Hause sein würde?», fragte die Kommissarin.
«Ich habe sie Freitagabend im Jugendzentrum getroffen. Sie hat gesagt, sie will ihrem Vater am Sonntag was ganz Besonderes zum Essen kochen. Weil sie ihm dankbar ist.»
«Wofür war sie ihrem Vater denn dankbar?» Doch Emma hatte den Eindruck, dass die Kommissarin die Antwort darauf schon kannte oder zumindest eine Vermutung hatte. Aber woher denn? Wann hätte sie das denn herausfinden sollen? Vielleicht war es ja nur diese Aura der Allmacht, die sie umgab.
«Dafür, dass er Jeanie Long gebeten hat auszuziehen, sodass sie das Haus wieder für sich allein haben.»
Und da nickte die Kommissarin wieder, zufrieden, als wäre sie eine Lehrerin und Emma hätte eine Prüfungsfrage richtig beantwortet.
«Und wer ist Jeanie Long?», fragte sie, und erneut hatte Emma das Gefühl, dass sie die Antwort schon kannte.
«Das war die Freundin von Mr Mantel. Sie hat bei ihnen gewohnt.»
Die Kommissarin notierte sich etwas in einem Buch, sagte aber nichts dazu.
«Erzähl mir alles über Abigail, was du weißt.»
Emma war kein bisschen aufsässig mehr, das hatte der Schock ihr ausgetrieben. Sie wollte einen guten Eindruck machen und fing sofort an zu reden. Zu erzählen gab es schließlich mehr als genug, wenn man einmal damit anfing.
«Abigail war meine beste Freundin. Als wir hierhergezogen sind, war es echt schwer, so anders, wissen Sie. Wir waren an die Stadt gewöhnt. Abigail hat die meiste Zeit ihres Lebens hier gewohnt, aber sie hat auch nicht so richtig hierhergepasst.»
Wenn die eine einmal bei der anderen übernachtet hatte, dann hatten sie darüber gesprochen, wie viel sie doch gemein hätten. Dass sie Seelenverwandte seien. Doch selbst damals hatte Emma gewusst, dass das nicht stimmte. Sie waren beide Außenseiter, mehr nicht. Abigail, weil sie keine Mutter mehr hatte und ihr Vater ihr jeden Wunsch erfüllte. Emma, weil sie aus der Stadt kam und ihre Eltern vor dem Essen ein Tischgebet sprachen.
«Abigail und ihr Dad wohnten ganz allein. Na ja, bis Jeanie einzog, und Abigail konnte sie nicht ausstehen. Sie haben jemanden, der für sie putzt und kocht, aber die wohnt in einer Wohnung über der Garage, und das zählt ja nicht so richtig, oder? Abigails Vater ist ein Geschäftsmann.»
Dieses Wort beschwor für Emma noch immer den gleichen Zauber herauf wie damals, als sie es zum ersten Mal gehört hatte. Sie musste dabei an das große, elegante Auto denken, mit den Ledersitzen, mit dem sie manchmal von der Schule abgeholt wurden, an Abigail, die sich feingemacht hatte, um mit ihrem Vater und seinen Geschäftsfreunden essen zu gehen, an den Champagner, den Keith Mantel an ihrem fünfzehnten Geburtstag aufgemacht hatte. An den Mann selbst, so gewandt, charmant und aufmerksam. Aber das konnte sie der Frau nicht erklären. Für die war «Geschäftsmann» bestimmt einfach nur ein Beruf. So wie «Bewährungshelfer» oder «Priester».
«Weiß Abigails Vater es schon?», fragte Emma plötzlich mit einem flauen Gefühl im Magen.
«Ja», sagte die Kommissarin. Sie sah sehr ernst aus, als sie das sagte, und Emma fragte sich, ob sie wohl diejenige war, die es ihm mitgeteilt hatte.
«Sie waren sich so nahe», murmelte Emma, aber sie spürte, wie unzulänglich diese Worte waren. Sie sah Vater und Tochter vor sich, wie sie sich in dem märchenhaften Haus auf dem Sofa aneinanderkuschelten und über eine Serie im Fernsehen lachten.
Sie musste der Kommissarin bei jenem ersten Zusammentreffen noch mehr über Jeanie Long erzählt haben, darüber, wieso Abigail sie nicht hatte ausstehen können, doch die Einzelheiten wollten ihr einfach nicht mehr einfallen, als sie jetzt neben James im Bett lag. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, Christopher vor dem späten Abend noch einmal im Haus gesehen zu haben. Christopher war mittlerweile wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität, er erforschte das Brutverhalten der Papageientaucher und verbrachte jedes Jahr einige Monate auf den Shetlandinseln. Damals war er ihr kleiner Bruder gewesen, eigenbrötlerisch und auf enervierende Weise aufgeweckt.
Aber war er immer schon so unnahbar gewesen? Vielleicht hatte er sich damals ja auch verändert, obwohl er das Drama nur aus zweiter Hand miterlebt hatte, und ihre Erinnerung trog sie. War er seit dem Umzug nach Elvet so in sich gekehrt und ernsthaft gewesen oder erst nach Abigails Tod? Nach all den Jahren konnte sie das nicht mehr beurteilen. Sie fragte sich, wie viel von jenem Tag er wohl noch wusste und ob er mit ihr darüber reden würde.
Auf jeden Fall war er in York aufgeschlossener gewesen, und … sie hielt in Gedanken inne, zögerte, das Wort zu benutzen, sogar ganz im Stillen: aufgeschlossener und normaler. Sie erinnerte sich an einen lebhaften kleinen Jungen, der mit seinen Freunden durchs Haus tobte und mit einem Plastikschwert herumfuchtelte oder im Auto auf dem Rücksitz saß und über einen Witz lachte, den er aus der Schule kannte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen.
Sie war sich jetzt sicher, dass er an dem Tag, an dem Abigail ums Leben kam, auch da gewesen war. Er hatte keinen seiner einsamen Spaziergänge unternommen. Später, als die Kommissarin gegangen war, saßen sie gemeinsam in seinem Zimmer auf dem Dachboden, von dem aus man über die Felder blicken konnte. Der Wind riss eine Lücke in die Wolken, und es war Vollmond. Sie sahen dem emsigen Treiben auf dem Bohnenfeld zu, das Suchlicht der Scheinwerfer brachte seltsame Schatten hervor, die Männer dort unten sahen sehr klein aus. Christopher zeigte auf zwei von ihnen, die sich mit einer Tragbahre durch den Matsch kämpften.
«Das ist sie bestimmt.»
Dann stolperte einer der beiden Träger und fiel auf ein Knie, und die Bahre kippte besorgniserregend. Emma und Christopher sahen sich an und stießen ein peinlich berührtes Kichern aus.
Die Kirchturmuhr schlug zwei. Der Kleine schrie im Schlaf auf, als hätte er schlecht geträumt. Emma nickte ein, und dann erinnerte sie sich, ganz als würde sie selbst schon träumen: Die Kommissarin hatte Caroline geheißen. Caroline Fletcher.