Kapitel dreiundzwanzig

Schweigend fuhren sie nach Springhead House. Vera dachte unablässig an die Winters und daran, wie es für Emma und Christopher gewesen sein musste, dort aufzuwachsen. Es grenzte fast schon an Märchenerzählen, dachte sie, dieser Versuch, die Vergangenheit wiederaufleben zu lassen. Aber wie sollte sie sonst vorgehen? Auf die Erinnerungen der Beteiligten konnte sie sich nicht verlassen. Selbst wenn sie meinten, ihr die Wahrheit zu erzählen, gab es da doch Lücken nach all der Zeit, Erinnerungssplitter, die sich mit den Erzählungen über die Jahre verändert hatten.

Sie blieben einen Augenblick lang vor dem Haus stehen. Der alte Hof war leer. Roberts Auto war nicht da, um etwas Schutz vor dem Wetter zu bieten.

«Ein trostloser Ort», sagte Ashworth. «Man kann verstehen, dass der Junge nicht gern nach Hause kam. Wie sind die Eltern eigentlich so?»

«Anständige Leute. Arbeiten hart. Wenigstens nach außen hin. Bei Familien weiß man ja nie, nicht wahr, alter Knabe?» Sie sah spitzbübisch zu ihm hinüber. Was Familien anging, war er der Experte.

Vera klopfte an die Küchentür und war überrascht, als Mary ihnen aufmachte. Sie trug einen grauen Trainingsanzug und eine vom vielen Waschen verfilzte Strickjacke. Mary war über Nacht gealtert, in sich zusammengefallen.

«Was ist los? Gibt es was Neues?» Vera konnte nicht erkennen, ob sie sich an diese Möglichkeit klammerte oder ob sie Angst hatte, dass sie noch schlimmere Nachrichten für sie hatten.

«Noch nicht, Herzchen.» Sie schwieg kurz. «Wo ist Linda?» Linda war die Polizistin, die über Nacht geblieben war.

«Ich habe sie weggeschickt. Sie war sehr nett, aber manchmal muss man einfach allein sein.»

«Und Robert?», fragte Vera vorsichtig.

«Er ist in der Kirche.» Mary trat beiseite, um sie hereinzulassen. «Ich habe ihm gesagt, er soll gehen. Er konnte keine Ruhe finden. Die ganze Nacht habe ich ihn im Haus herumlaufen gehört. Ich dachte, vielleicht findet er dort etwas Frieden. Aber er müsste langsam wieder hier sein. Deshalb bin ich so erschrocken, als Sie geklopft haben.»

Vera sagte nichts. Ihr Vater hatte sie in dem Glauben erzogen, dass der Atheismus den einzig vernünftigen Standpunkt darstelle, und das zu einer Zeit, in der all ihre Freunde zur Sonntagsschule gingen. Sie hatte die anderen beobachtet, wie sie vom Gemeindesaal nach Hause bummelten und dabei ihre bunten Bildchen umklammert hielten, mit den Jüngern beim Fischen und Jesus, der auf dem Wasser geht, und sie hatte sich gewünscht dazuzugehören. Die Kirche war eine verbotene Verlockung, der einzige Ort in ihrer Kleinstadt, wo alle zusammenkamen. Abgesehen vom Pub. Einmal hatte sie sich beim Erntedankfest hineingeschlichen, und das Brausen der Orgel, der Gesang, die Farben der Buntglasfenster und die aufgestapelten Feldfrüchte hatten ihr gefallen. Aber sie verstand nicht, was Robert in einem solchen Moment in der Kirche suchte. War nicht das eine düstere Gebäude so gut wie das andere? Sollte er nicht besser hier sein und seine Frau trösten?

Mary schien ihre Missbilligung zu spüren, jedenfalls hob sie zu einer Erklärung an: «Er ist ganz aufgelöst und wütend. Es ist eine Zeit der Prüfung.»

«Für Sie beide.»

«Der Glaube hat ihm immer mehr bedeutet als mir.» Sie hielt inne und fuhr dann hastig fort: «Er tut so viel Gutes hier. Im Dorf. Mit seiner Arbeit. Es wäre schrecklich, wenn er das nicht mehr könnte. Es war schon immer meine Rolle, ihn dabei zu unterstützen.»

Vera hätte das gern weiterverfolgt, aber sie wusste nicht, welche Fragen sie stellen sollte. Das hier ging über ihren Horizont. Sie wollte sagen: Sie sind doch eine intelligente Frau, und er ist ein erwachsener Mann. Warum kann nicht er Sie bei Ihrer Arbeit unterstützen? Aber sie wollte Mary nicht kränken. Sie sah Ashworth an. Auch ihm schien der Gedanke an den Glauben unbehaglich zu sein.

«Hat er Christopher sehr nahegestanden?», fragte sie schließlich. «Seinem einzigen Sohn?»

Diese Wendung kam ihr vage bekannt vor, aber sie dachte nicht weiter darüber nach und fragte sich, wieso Mary sie so merkwürdig ansah.

«Robert war natürlich stolz auf Christopher.» Ihre Stimme klang klar und bestimmt. Worte waren ihr wichtig. «Er war so ein kluges Kind, immer gut in der Schule, ohne sich groß anzustrengen. Aber ich glaube nicht, dass sie sich wirklich nahegestanden haben. Nein. Nicht wie manch andere Väter und Söhne.» Sie hielt inne, um ihre Gedanken zu sammeln, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme wehmütig. «Ich arbeite in einer Bücherei. Wir sind dort fast nur Frauen, und die anderen reden immer von ihren Familien. Ich höre, was sie von ihren Männern erzählen, die die Söhne zum Fußball oder zum Angeln mitnehmen, oder später dann in den Pub. So eine Familie sind wir nicht. Wir gehen nicht so ungezwungen miteinander um. Verstehen Sie? Vielleicht war das ja das Opfer, das wir alle bringen mussten. Für Roberts Arbeit. Die kam an erster Stelle. Für die Kinder war es hart.»

«Aber James und Emma und Ihr Enkelkind, die sehen Sie doch regelmäßig.» Vera spürte das Bedürfnis, sie zu beruhigen.

«O ja, und das ist wunderbar! Ein solcher Segen! Sonntags essen wir immer zusammen zu Mittag.» Sie schwieg und fügte dann traurig hinzu: «Aber das ist eher förmlich. Im Spontansein sind wir nicht sonderlich gut, wir gehen alle sehr vorsichtig miteinander um. Vielleicht kommt das ja durch Abigails Tod. Wenn man weiß, dass das Unglück jeden Augenblick zuschlagen kann, will man nicht streiten. An jenem Nachmittag hatten wir uns gestritten …» Sie verstummte, doch Vera wartete ab. Das war genau das, was sie brauchte. Eine Vorstellung von dem Haushalt, in dem Christopher aufgewachsen war.

Und Mary sprach auch schon weiter: «Ich gebe Robert nicht die Schuld dafür, dass wir so steif miteinander umgehen, darum geht es mir wirklich nicht. Genau genommen ist Robert sogar geselliger als ich. Erst letzte Woche hat er vorgeschlagen, zu meinem fünfzigsten Geburtstag ein Fest zu feiern. Die ganze Familie einzuladen, und Freunde. Normale Menschen würden genau so was machen, nicht wahr? Als wir noch in York wohnten, haben wir oft Partys gegeben, sind ausgegangen, haben mit Freunden gegessen. In der Stadt ist das natürlich ganz anders. Vielleicht bin ich ja menschenscheu geworden, aber die Vorstellung, hier so eine Feier zu veranstalten, hat mir Angst eingejagt.» Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf. «Jetzt habe ich wohl eine Entschuldigung, um es abzusagen.» Kaum waren die Worte heraus, da schaute sie hoch, das Gesicht schreckverzerrt. «Wie furchtbar, so etwas zu sagen. Wie konnte ich nur? Ich würde tausend Partys durchstehen, wenn ich Christopher damit wieder lebendig machen könnte.»

«Ich weiß», sagte Vera. «Ich weiß.»

Geistesabwesend ging Mary zum Herd. Sie hob den Deckel hoch und hievte einen gewaltigen Kessel auf die heiße Platte. «Ich mache uns einen Tee, ja? Sie trinken doch einen Tee?»

«Können wir uns mit Ihnen über gestern unterhalten?», fragte Vera.

«Natürlich. Ich fühle mich so hilflos. Wenn ich Ihnen wenigstens mit Ihren Fragen helfen kann …»

«Wussten Sie, dass Christopher vorhatte, nach Elvet zu kommen?»

«Nein. Aber das war nicht ungewöhnlich. Manchmal ist er einfach so vorbeigekommen, aus heiterem Himmel. Vielleicht hatte er die Gabe der Spontaneität ja nicht verloren. Ich habe mich immer gefreut, ihn zu sehen, aber ich hätte nicht gewollt, dass er es als ein Muss betrachtet, als eine Verpflichtung.»

Vera erinnerte sich, dass Michael Long etwas Ähnliches gesagt hatte. Kinder schulden ihren Eltern nichts. Nachdem Christopher einmal aus dem Haus war, blieb Mary also nichts übrig, als geduldig und still darauf zu warten, dass ihr Sohn aus einer Laune heraus vorbeischneite.

«Sie müssen ihn vermisst haben. Es war ja nicht wie bei Emma, die ein paar Straßen weiter wohnt.»

«Das habe ich», sagte Mary. «Sehr.»

«Wer hatte die Idee, zu der Benefizveranstaltung zu gehen?»

«Das war Robert. Er hatte sich ganz kurzfristig dazu entschlossen. Ich glaube, er hat gemerkt, dass wir alle eine Aufheiterung brauchten. Das Wetter ist so deprimierend. Irgendwann macht es einen fertig. Und Emma war seit Matthews Geburt nicht mehr aus dem Haus gekommen.»

«Waren Sie mit Mr Mantel befreundet?»

«Befreundet? Nein!» Der Gedanke kam ihr offenbar völlig abwegig vor.

«Ihre Töchter waren einmal eng miteinander befreundet. Es hätte sein können, dass Sie sich damals auch privat kennengelernt haben.»

«Nein, er hat doch immer so viel zu tun. Und er ist ja auch etwas Besseres, mit dem schicken Haus und seinem blankpolierten Auto. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns viel zu sagen gehabt hätten. Man kannte sich und hat sich gegrüßt. Bei Dorffesten sind wir ihm über den Weg gelaufen. Aber da herrschte immer so eine Verlegenheit. Ich weiß, es ist lächerlich, aber ich habe mich immer schuldig gefühlt, wenn wir uns gesehen haben.»

«Weil Ihre Tochter am Leben war und seine nicht?»

Sie sah dankbar hoch. «Ja, genau.» Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann fügte sie hinzu: «Jetzt, wo wir beide den Verlust eines Kindes erlitten haben, wäre es vielleicht anders.»

Plötzlich fing der Kessel an zu pfeifen. Das Geräusch war unerträglich, und Vera musste an sich halten, um nicht aufzuspringen und ihn vom Herd zu nehmen. Einen Augenblick lang schien Mary es überhaupt nicht zu hören. Schließlich stand sie auf und goss das heiße Wasser in die Kanne.

«Können Sie uns den Ablauf des gestrigen Abends schildern?», fragte Vera, als Mary sich wieder an den Tisch gesetzt hatte. «Von da an, wo Sie zur Alten Kapelle gekommen sind, wenn es Ihnen nichts ausmacht.»

«Wir haben wie alle anderen an der Zufahrt geparkt und sind um das Haus herumgegangen. Da standen die Leute schon Schlange und warteten darauf, Keith und seine junge Freundin zu begrüßen. Wie auf einer Hochzeit, wo das Brautpaar am Eingang des Festsaals steht, um die Gäste zu empfangen. Wie bei königlichen Hoheiten.»

«Sie klingen, als könnten Sie Mr Mantel nicht allzu gut leiden.»

«Wirklich?» Mary runzelte die Stirn. «Das meine ich nicht so.»

«Wie fanden Sie es, dass Emma und Abigail sich anfreundeten?»

«Wir waren erleichtert, dass Emma überhaupt eine Freundin gefunden hatte. Wir hätten nicht gedacht, dass der Umzug von York sie so aus der Bahn werfen würde.» Einen Moment lang schwieg sie. «Es hat beide Kinder belastet, aber auf verschiedene Weise. Bevor sie Abigail begegnet ist, hat Emma sich ziemlich abgekapselt.»

«Aber war Abigail der Umgang, den Sie sich für Emma vorgestellt hätten?»

«Wieso nicht? Sie hatte ein ganz anderes Naturell als unsere Tochter. Selbstbewusster. Sie fiel vielleicht mehr auf. Aber wir hatten nichts Schlechtes über sie gehört. Ich glaube, ich habe mir mehr Sorgen gemacht, dass sie sich plötzlich mit Emma langweilen und sie für ein anderes Mädchen fallenlassen könnte. Ich glaube nicht, dass Emma das verkraftet hätte.»

Vera fragte nicht weiter in diese Richtung und kam auf den Vorabend zurück. «Sie haben Keith und seine Freundin also begrüßt? Was ist dann passiert?»

«Wir haben uns etwas zu trinken geholt und uns zu den anderen gesellt. Es waren viele alte Freunde da. Leute von der Kirche. Robert ist eine Figur des öffentlichen Lebens, weil er doch Gemeindevorsteher ist. Im Dorf kennt ihn jeder. Ich bin ein Weilchen drinnen geblieben. Von den älteren Leuten saßen die meisten dadrinnen. Draußen war es kalt, und es ging ziemlich wild zu. Laute Musik. Ich habe mich mit ein paar Frauen von der Mothers’ Union unterhalten, dann bin ich rausgegangen, um Robert zu suchen.»

«Können Sie sicher sagen, dass Christopher nicht da war?»

«Wie denn? Als ich rausging, war da ein ziemliches Gedrängel. Und es war dunkel. Die Leute auf der Wiese beim Feuer waren bloß Schatten.»

«Haben Sie Caroline Fletcher bemerkt?»

«Verzeihung, der Name sagt mir nichts.»

«Das war die Kommissarin, die damals den Mord an Abigail Mantel untersucht hat.»

«Ach ja, natürlich. Ich hatte ganz vergessen, wie sie hieß. Das hätte ich aber noch wissen müssen, sie war uns damals eine Stütze. War sie denn da? Ich bin mir nicht sicher, ob ich sie erkannt hätte. Nicht nach all der Zeit. Heißt das, sie ist mit Mr Mantel in Verbindung geblieben? Wie aufmerksam!»

«Tja», brummte Vera. «So kann man es auch sehen.»

«Warum sind Sie zur Zufahrt zurückgegangen, Mrs Winter?» Das war das Erste, was Ashworth sagte, und er schien Mary damit aus dem Konzept zu bringen. Sie sah zu Vera, als bräuchte sie die Erlaubnis zu antworten.

Vera lächelte ermutigend.

«Ich habe mich auf dem Fest nicht so wohl gefühlt», sagte Mary. «Das geht mir in letzter Zeit immer so, wenn es voll ist. Komisch, wie sich die Dinge ändern, nicht wahr? Als wir jünger waren, hätte ich es genossen … Ich habe Robert gefragt, ob wir nicht fahren könnten. Irgendjemand hätte Emma und James dann schon ins Dorf mitgenommen. Ich habe gesagt, mir wäre kalt, was stimmte, aber es war auch ein Vorwand, fürchte ich. Robert nahm mich beim Wort. Er sagte, im Auto würde eine dickere Jacke liegen. Er bot mir an, sie zu holen, aber ich nahm die Schlüssel und ging selbst. Ich war froh, ein paar Augenblicke allein zu sein.»

«Warum haben Sie in den Graben geschaut?», fragte Ashworth.

«Bitte was?»

«Auf dem Zufahrtsweg war es dunkel. Die Straßenbeleuchtung ist dort nicht der Rede wert. Nur eine Laterne gleich vorm Haus. Der Mond schien zwar, aber Sie mussten aufpassen, wo Sie hintraten. Es war am Frieren. Ich versuche zu verstehen, wie es dazu kam, dass Sie die Leiche Ihres Sohnes entdeckt haben. Wenn Sie sich doch darauf konzentrieren mussten, nicht auszurutschen. Es tut mir leid, dass Sie das alles noch einmal durchleben müssen, aber manchmal sind es die Einzelheiten, die uns weiterhelfen. War irgendetwas in der Hecke, das Ihre Aufmerksamkeit erregt hat?»

«Nein», sagte sie. «Nichts in der Art. Der Wagen war am Straßenrand geparkt, damit andere Autos vorbeikamen. Die Wiese ist uneben, und der Wagen stand schräg. Es war Roberts Wagen. Er nimmt ihn für die Arbeit, und ich fahre nie damit. Ich wusste, dass am Armaturenbrett ein Hebel ist, mit dem man den Kofferraum öffnet, aber ich konnte ihn nicht gleich finden. Während ich da herumsuchte, habe ich aus Versehen die Scheinwerfer angemacht. Der Lichtstrahl fiel in den Graben. Da sah ich Christopher.»

Sie starrte sie mit ausdruckslosem Gesicht an.

«Kann er schon da gelegen haben, als Sie zur Alten Kapelle kamen?», fragte Ashworth. «Oder hätten Sie ihn gesehen, als Sie parkten?»

«Ich saß hinten mit Emma. Wir haben uns unterhalten. Ich habe versucht, so zu tun, als würde es mir nichts ausmachen, dass Christopher schon wieder abgereist war, ohne uns zu besuchen. Aber James und Robert hätten ihn gesehen, wenn er da gelegen hätte. Nein, Christopher muss ums Leben gekommen sein, während wir bei Mantel waren. Er war ganz nah. Und wir konnten nichts tun, um ihm zu helfen.»