Kapitel sechsunddreißig

Michael Long hatte Vera schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Zumindest nicht in Ruhe. Manchmal sah er sie kurz auf der Straße, und einmal war er zu ihr hingegangen, aber sie hatte ihm nur freundlich zugewinkt und war weitergelaufen, als hätte sie zu viel zu tun. Wenigstens glaubte er, dass sie diesen Eindruck erwecken wollte, und das ärgerte ihn. Er hatte Besseres verdient. Nicht nur, dass er Jeanies Vater war, er hatte Vera doch auch auf die richtige Spur gebracht, was Keith Mantel betraf. Und er war ein wichtiger Zeuge, der Letzte, der Christopher Winter lebend gesehen hatte. Michael hätte es nie so ausgedrückt, aber er kam sich vor wie ein sitzengelassener Liebhaber. Er wollte, dass Vera ihm wieder Beachtung schenkte. Er blieb zu Hause, falls sie anrief. Wann immer es an der Tür klopfte, hoffte er, dass sie es war.

Dann dachte er: Pfeif drauf. Für keine Frau der Welt würde er seine Zeit mit Warten vertun. Er würde eigene Nachforschungen anstellen, seine eigenen Informationen sammeln, und die würde er ihr dann zeigen. Er stellte sich vor, wie er ihr einen dicken Ordner über Mantel überreichte, alles fein säuberlich abgeheftet und mit der Maschine geschrieben. Darin würde alles stehen, was sie brauchte, um zu belegen, dass der Mann ein Mörder war. Denn genau das wollte Michael ihr beweisen. Mantel war ein Monster, der seine eigene Tochter und den jungen Winter umgebracht hatte. Und Mantel war schuld daran, dass Jeanie all die Jahre im Gefängnis gesessen hatte, er war schuld an ihrer Verzweiflung und dem Selbstmord.

Michael nahm den Bus nach Crill, wo Mantel seinerzeit das erste Geld gemacht hatte. Er wusste, dass es dort eine große Bücherei gab. Auch die High School war dort, und im Bus waren lauter Kinder auf dem Weg zur Schule. Er redete sich ein, wie lästig das doch sei, und tatsächlich brachte ihn der Lärm der kreischenden Mädchen und Jungen, die sich pausenlos mit irgendwas bewarfen, schier zur Weißglut. Leise brummelte er etwas von pflichtvergessenen Eltern und der Wiedereinführung des Wehrdienstes vor sich hin. Doch es hatte auch seine guten Seiten. Der Bus war voll, und er saß eingezwängt neben einem Mädchen von vierzehn oder fünfzehn Jahren mit einem hellgepuderten Gesicht und schmalen, schwarz umrandeten Augen. Sie schien über das Chaos um sich herum erhaben zu sein, und das Geschrei und die herumfliegenden Wurfgeschosse nervten sie ebenso wie ihn. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da, ihre Tasche auf dem Schoß. «Warum wirst du nicht einfach erwachsen?», schnauzte sie einen Jungen mit einem von Akne entstellten Gesicht an, als ein Bleistiftspitzer sein Ziel verfehlte und sie am Arm traf. Dann wandte sie sich zu Michael und verdrehte verschwörerisch die Augen, als wären sie beide die einzig Vernünftigen im ganzen Bus.

Als sie in Crill ausstiegen, auf dem windgepeitschten Platz unweit der Strandpromenade, ließ er sie nur ungern ziehen. Er war versucht, ihr zu folgen, nur um des Vergnügens willen, sie gehen zu sehen. Sie hielt den Rücken gerade, hatte lange Beine und eine hochmütige Kopfhaltung. Aber er sagte sich, dass er noch zu tun habe. Auf dem Platz waren Gemeindearbeiter damit beschäftigt, von einem Laster mit Hebebühne aus die Weihnachtsbeleuchtung anzubringen. Die Bücherei war ein großes Gebäude mit Säulen neben dem Eingang und breiten Steinstufen, die zu einer Glastür führten. Sie war geschlossen und öffnete erst um halb zehn. Sein Ärger kochte wieder hoch. Heftig schimpfte er über die Faulheit der Mitarbeiter. Immerhin hätte er mit dem Mädchen bis zur Schule gehen können. Dann sagte er sich, dass es nicht gut wäre, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. Peg hatte ihm immer gesagt, dass er eines Tages in ernsthafte Schwierigkeiten geraten würde, wenn er nicht lernte, sich zu beherrschen.

Er fragte einen der Arbeiter, wo er einen Kaffee trinken könne, und der zeigte eine enge Straße hinunter. Das Café hieß Val’s Diner und war laut und dampfig. Es erinnerte ihn an den Imbiss auf der Landspitze. Der Bacon in seinem Sandwich war genau so, wie er ihn mochte, dünn und knusprig, und seine Laune besserte sich. Es brauchte im Moment wirklich nur Kleinigkeiten, dachte er, und seine Stimmung kippte. Er fragte sich, ob er wohl schon immer so gewesen war und ob es anderen auch so ging.

Die Frau, die in der Bibliothek die Abteilung für Heimatgeschichte leitete, kannte er. Sie hieß Lesley, war tüchtig und vergnügt und hatte eine laute Stimme, weshalb die Besucher im Lesesaal oft aufschauten und missbilligend mit der Zunge schnalzten. Das erste Mal war er ihr kurz vor seinem Ruhestand begegnet. Er war plötzlich nostalgisch geworden, was den Beruf betraf, den er im Begriff war aufzugeben. Lesley führte das Archiv über die Rettungswache und die Lotsenstation auf der Landspitze, und er war hergekommen, um etwas über die Geschichte dieses Orts zu lesen. Er hatte ein Foto von dem Haus gefunden, in dem er und Peg all die Jahre über gelebt hatten. Es stammte aus den zwanziger Jahren, die Landspitze hatte damals noch ganz anders ausgesehen. Die Sanddünen waren größer gewesen, und außer den beiden Cottages und dem Leuchtturm gab es keine Gebäude. Vor ihrem Cottage lehnte ein Mann mit einem großen grauen Schnurrbart an der Eingangstür und blickte finster in die Kamera.

Lesley saß an ihrem Schreibtisch und schaute hoch, als sie ihn kommen sah. Er merkte sofort, dass sie über das mit Jeanie in der Zeitung gelesen hatte, aber sie sagte nichts. Sie zeigte nicht einmal, dass sie ihn wiedererkannte, was er ernüchternd fand, denn als er seine Nachforschungen über die Landspitze angestellt hatte, hatte er gedacht, sie würde ihn mögen. Er fragte nach alten Ausgaben der Lokalzeitung, die zwanzig oder dreißig Jahre zurückreichten. «Kann man die einsehen?»

«Aber sicher», sagte sie und lächelte. «Suchen Sie nach etwas Bestimmtem?» So wie sie von ihrem Schreibtisch zu ihm hochblickte, sah es aus, als blinzelte sie ihm zu.

«Nein, nichts Bestimmtes. Ich bin nur allgemein daran interessiert.» Gleich darauf tat es ihm leid, dass er so grob gewesen war, aber sie hatte es offenbar gar nicht bemerkt. Sie setzte ihn vor das Mikrofiche-Gerät und zeigte ihm, wie man es bediente, wobei sie ihre Anweisungen geduldig wiederholte, als er sie darum bat.

«Wenn Sie irgendetwas brauchen, rufen Sie mich einfach.» Ihre Stimme war im ganzen Saal zu hören.

Er fing mit dem Zeitpunkt des Mordes an Abigail an und arbeitete sich von dort aus zurück. Über die Berichte von dem Mord ging er schnell hinweg, und als er auf ein Foto von Jeanie stieß, schloss er die Augen. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass sie hier in diesem Gerät gefangen war, wo jeder herkommen und sie anstarren konnte. Es waren die weniger spektakulären Geschichten, die seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Das größte Containerschiff, das je auf dem Humber gefahren war. Kühe, die bei Ebbe den Fluss überquerten und auf einer Sandbank strandeten. Eine festliche Veranstaltung mit prächtigen Schiffen in der Flussmündung. Als er auf die Uhr an der Wand sah, war es schon fast elf, und er hatte noch nichts Brauchbares gefunden. Er zwang sich, schneller zu arbeiten, und nach und nach stieß er auf immer mehr Berichte, in denen Keith Mantel erwähnt wurde. Kleine Meldungen und Fotos. Michael folgte ihm in seine Vergangenheit, es war, als würde er sich einen flackernden alten Film anschauen, der rückwärts abgespult wird.

Die jüngsten Berichte, zu denen er zuerst kam, waren alle lobend, und er musste an sich halten, um nicht höhnisch aufzulachen. Da war ein Foto von Keith Mantel, wie er neben einem riesigen Scheck aus Pappe stand, der Spende der Mantel Development an eine Wohlfahrtseinrichtung, die Tagesbetreuung für behinderte Kinder anbot. Ein strahlendes Mädchen im Rollstuhl streckte die Arme aus, um das andere Ende des Schecks zu halten. Keith Mantel, der mit ein paar anderen zum Vermögensverwalter des National Health Service für das örtliche Krankenhaus ernannt wurde. Keith Mantel in Gummistiefeln, wie er einen Baum im Abenteuergarten einer Grundschule pflanzte. Michael grummelte etwas vor sich hin, darüber, wie leichtgläubig die Öffentlichkeit doch sei, aber als er das selbstgewisse Lächeln in dem Gesicht betrachtete, dachte er, dass auch er darauf hereingefallen wäre, wenn er es nicht besser gewusst und sich nicht mit Mantel angelegt hätte. Er hätte an Mantel geglaubt, den Geschäftsmann mit dem sozialen Gewissen.

Während er Mantels Werdegang zurückverfolgte, erwachte auch sein Gedächtnis wieder. Manch eine Formulierung rief die Erinnerung an ein Ereignis hervor, dem er früher schon einmal nachgegangen war, als er Mantel bloß für ein arrogantes Schwein gehalten hatte, das versuchte, Michaels Stellung im Dorf zu untergraben. Ein kurzer Bericht über die feierliche Eröffnung eines Freizeitzentrums versetzte ihn in ein Gespräch zurück, das er mit einem alten Freund geführt hatte. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, aber Lawrence Adams war im Familienunternehmen aufgestiegen und plötzlich vornehm geworden. Er fing an, Golf zu spielen, und ließ sich für die Konservativen in den Gemeinderat wählen. Damals waren ein paar wichtige Aufträge an Mantel vergeben worden, und Michael hatte herumgeschnüffelt, um herauszukriegen, wieso. Auf Lawrence’ Bitte hin trafen sie sich in einem heruntergekommenen kleinen Pub in der Nähe des Gefängnisses von Hull. Es war ein merkwürdiger Ort für ein Treffen, kein Lokal, in dem Lawrence für gewöhnlich verkehrte.

«Warum denn hier?», fragte Michael.

«Hier erkennt mich keiner.»

Und damit wusste Michael, dass dort eine verwandte Seele saß, jemand, der seine Paranoia in Bezug auf Mantel nicht nur teilte, sondern verstand.

«Aber dich kann Mantel doch nicht in der Hand haben?» Lawrence hatte doch zu viel Geld, um bestechlich zu sein.

«Er hat jeden in der Hand. Komm ihm einfach nicht in die Quere.»

Und dann faselte Lawrence unzusammenhängendes Zeug über das Freizeitzentrum, und Michael dachte, dass er wohl vorher schon was getrunken hatte. «Der Auftrag hätte nie an ihn gehen sollen. Wir hatten im Planungsausschuss eine Entscheidung getroffen. Alles geregelt, dachten wir. Dann zog der Bewerber, den wir wollten, sein Angebot auf einmal zurück. Ohne Angabe von Gründen. So bekam am Ende Mantel den Auftrag.» Lawrence sah von seinem Bier auf. «Du weißt ja, wie er angefangen hat, oder? Wie er sein erstes Geld gemacht hat?» Und da hörte Michael die Geschichte von der alten Dame, die Mantel ihr Haus hinterlassen hatte, die Geschichte, die er später Vera Stanhope erzählte, als sie an seine Tür klopfte. Aber er wusste nicht, wie viel Wahrheit tatsächlich darin steckte.

Als sie anschließend zu ihren Autos gingen, eigentlich zu betrunken, um sich noch ans Steuer zu setzen, sagte Lawrence: «Ich meine es ernst. Halt dich fern von ihm. Schau doch nur, was mit Marty Shaw passiert ist. Er war nicht gerade mein Freund, aber so was wünsche ich niemandem. Dahinter hat Mantel gesteckt, das sage ich dir.»

Michael kannte den Namen Marty Shaw nicht, er hatte keine Ahnung, wovon Lawrence sprach, aber er fragte herum und fand heraus, dass das der Mann war, den es ans Flussufer gespült hatte. Davon hatte er sehr wohl gehört. Ein armes Schwein aus Crill, das in den Fluss gegangen war, um sich zu ertränken. An dem Tag, als er gefunden wurde, hatten sie im Anchor über nichts anderes geredet. Damals war ihm nicht klar gewesen, dass es eine Verbindung zu Mantel gab, sonst hätte er dem mehr Beachtung geschenkt.

Es war ihm leichtgefallen, mehr über die Gerüchte zu erfahren. Damals hatte Michael überall Freunde. Er war gesellig gewesen. Nicht so wie heute, wo er sich in seinem Bungalow verkroch und allein trank. Damals hatte es kaum einen Pub auf der Halbinsel gegeben, in dem man ihn nicht kannte. Wo er auch hinkam, überall traf er jemanden, mit dem er zur Schule gegangen war, im Ausschuss für das Rettungsboot gesessen hatte oder der ihm einen Gefallen schuldete. Und nun saß er in dieser stillen Bücherei und starrte auf die Schlagzeilen in dem Mikrofiche-Gerät. Sie mochten eine Geschichte erzählen. Aber erst durch die Erinnerungen an Gespräche, die vor Jahren stattgefunden hatten, ließen sich die Lücken darin füllen.

Wieder tauchte er in die Vergangenheit ein. Er fand einen Artikel über die gerichtliche Untersuchung von Shaws Tod. Selbstmord. Shaw hatte eine Nachricht hinterlassen, es war ein klarer Fall. Was ihn dazu gebracht hatte, stand nicht da. Armer dämlicher Trottel, dachte Michael jetzt. Damals war er nicht so mitfühlend gewesen. Er hatte Selbstmord immer für feige gehalten. In dem Bericht stand, dass der Tote eine Frau und einen Sohn hinterlasse. Michael konnte sich nicht entsinnen, ob er das damals mitbekommen hatte. Plötzlich fühlte er sich schäbig, hier in der Vergangenheit herumzuwühlen, und wollte schon aufgeben. Dann sah er durch das hohe Fenster nach draußen über den Platz zu den Männern, die immer noch dabei waren, die billigen Lichter aufzuhängen, und ihm wurde bewusst, dass er nichts Besseres zu tun hatte.

Beinahe hätte er das Foto nicht weiter beachtet. Es sah fast genauso aus wie die Bilder aus den jüngeren Berichten. Keith Mantel als Lokalmatador. Es zeigte die Einweihung eines Gebäudekomplexes für Senioren im betreuten Wohnen. An so einem Ort würde auch Michael enden, wenn er nicht besser auf sich aufpasste. Das Bild war in einem gepflasterten Innenhof voller Blumenkübel aufgenommen worden. Das Ziegelsteingebäude hinter den versammelten Menschen sah erbarmungslos neu und nüchtern aus. Die Bürgermeisterin, eine mollige Frau in mittleren Jahren, hielt eine Schere in der Hand, um das Band, das vor die Eingangstür gespannt war, durchzuschneiden. Neben ihr stand Mantel, und um die beiden drängten sich zahlreiche Ratsmitglieder mit ihren Familien. Da muss es wohl ein kostenloses Buffet gegeben haben, dachte Michael, wenn so viele Leute gekommen sind. Ohne großes Interesse las er sich die Namen durch. Vielleicht konnte er den Zeitpunkt, an dem er die behagliche Bibliothek verlassen musste, ja noch etwas hinauszögern. Ratsmitglied Martin Shaw. James Shaw. James stand neben seinem Vater. Es war nicht zu übersehen, dass die beiden Vater und Sohn waren. Die Ähnlichkeit war verblüffend. Marty Shaws Gesicht kam ihm irgendwie bekannt vor, und Michael überlegte, ob er, als Shaw ums Leben kam, vielleicht Fotos von ihm gesehen hatte. Da blitzte in seinem Kopf das Bild des Mannes in Uniform auf. In der Uniform eines Lotsen. Natürlich war es nicht Marty. Es war Martys Sohn.

Und dann packte ihn die alte Paranoia wieder, und er stellte sich vor, dass Keith Mantel und James Bennett zusammenarbeiteten, in einem Netz der Verschwörung, das Jeanies Selbstmord, seinen eigenen erzwungenen Ruhestand und zwei Morde umspannte.