Kapitel eins

Emma sitzt am Schlafzimmerfenster und sieht auf den nächtlichen Platz hinaus. Im Wind, der scharf vom Friedhof her fegt, treibt eine Coladose über die Straße, ein Dachziegel klappert. An jenem Nachmittag, an dem Abigail Mantel ums Leben kam, hatte ein Sturm getobt, und es ist, als habe sich der Wind seither nicht gelegt, als dauere der Sturm seit zehn Jahren an, mit Hagelkörnern, die wie Gewehrkugeln gegen die Fenster prasseln, und entwurzelten Bäumen. Zumindest seit das Baby auf der Welt ist, ist es so. Wann immer sie seither nachts aufwacht, um den Kleinen zu stillen, oder wenn James spät von der Arbeit kommt, hört sie den Wind, ein Tosen um ihren Kopf, wie das Rauschen einer Muschel, die man sich ans Ohr hält.

James, ihr Mann, ist noch nicht zu Hause, aber seinetwegen ist sie nicht wach geblieben. Unverwandt blickt sie zur Alten Schmiede hinüber, in der Dan Greenwood seine Töpferei hat. Licht schimmert durch das Fenster, und hin und wieder bildet sie sich ein, einen Schatten zu sehen. Sie stellt sich vor, dass Dan noch arbeitet, in seinem blauen Kittel aus Segeltuch, die Augen zusammengekniffen, während er mit seinen kräftigen braunen Händen den Ton formt. Dann stellt sie sich vor, dass sie das schlafende Baby gut eingepackt in seinem Bettchen liegen lässt. Sie sieht sich auf den Platz hinausschlüpfen und zur Schmiede hinübergehen, wobei sie sich stets im Schatten hält. Sie stößt eine der beiden großen Türen auf, die einen Torbogen bilden, wie bei einem Kirchenportal. Der Raum ist hoch, und durch das verwinkelte Gebälk kann sie bis zu den Dachziegeln sehen. In ihrer Vorstellung fühlt sie die Hitze des Brennofens und sieht die staubigen Regale, auf denen unglasierte Tontöpfe stehen.

Dan Greenwood blickt auf. Sein Gesicht ist ganz dunkel, und in den Falten seiner Stirn klebt roter Staub. Er ist nicht überrascht, sie zu sehen, verlässt die Werkbank, an der er gearbeitet hat, und steht schon vor ihr. Sie spürt, wie ihr Atem schneller geht. Er küsst sie auf die Stirn und knöpft dann langsam ihre Bluse auf. Er berührt ihre Brüste, streichelt sie und hinterlässt dabei Streifen von rotem Ton, wie eine Kriegsbemalung. Sie fühlt, wie der Ton auf der Haut trocknet und ihre Brüste zu kribbeln beginnen.

Dann verblasst das Bild, und sie ist wieder in ihrem ehelichen Schlafzimmer. Sie weiß, dass ihre Brüste schwer von der Milch sind, nicht fest von trocknendem Ton. Das Baby fängt an zu weinen und greift mit den Händen ins Leere. Emma hebt es aus dem Bettchen, um es zu stillen. Dan Greenwood hat sie nie berührt und wird es wahrscheinlich auch nie tun, ganz gleich, wie oft sie davon träumt. Die Kirchturmuhr schlägt Mitternacht. Mittlerweile sollte James sein Schiff sicher in den Hafen gebracht haben.

 

Das also malte Emma sich aus, als sie in Elvet an ihrem Schlafzimmerfenster saß. Es war, als würde sie beständig ihr Befinden kommentieren, sich von außen selbst betrachten. So war es schon immer gewesen – ihr Leben als eine Abfolge erfundener Geschichten. Bevor Matthew auf die Welt kam, hatte sie sich gefragt, ob seine Geburt sie aus ihren Träumen herausreißen würde, schließlich gab es doch nichts Wirklicheres als die Wehen. Doch während sie jetzt mit dem kleinen Finger seinen Mund von ihrer Brustwarze löste, dachte sie, dass das nicht stimmte. Sie fühlte sich Matthew nicht enger verbunden als James. War sie eine andere gewesen, bevor sie Abigail Mantels Leiche gefunden hatte? Wahrscheinlich nicht. Sie legte sich ihren Sohn an die Schulter und rieb ihm über den Rücken. Er streckte eine Hand aus und umklammerte eine Strähne ihres Haars.

Das Zimmer lag unterm Dach eines gepflegten Hauses im georgianischen Stil. Es hatte eine symmetrische Fassade aus rotem Backstein und roten Ziegeln, die Tür war in der Mitte. Ein Seefahrer, der Handel mit Holland trieb, hatte es gebaut, und das hatte James gefallen. «Wir führen eine Tradition fort», sagte er, als er ihr alles zeigte. «Es ist, als würde man es im Familienbesitz halten.» Emma fand, dass es zu nah an zu Hause lag, an den Erinnerungen an Abigail Mantel und Jeanie Long, und schlug Hull vor, wo es auch günstiger für seine Arbeit sei. Oder Beverly. Beverly war eine hübsche kleine Stadt. Aber er sagte, Elvet gefalle ihm genauso gut.

«Für dich wird es nett sein, so nah bei deinen Eltern zu wohnen», sagte er, und sie lächelte und sagte ja, denn so lief es nun einmal zwischen ihr und James. Sie machte es ihm gern recht. In Wirklichkeit war ihr nicht allzu viel an der Gesellschaft von Robert und Mary gelegen. Da mochten die beiden noch so viel Hilfe anbieten, sie fühlte sich in ihrer Nähe unbehaglich und irgendwie schuldig.

In das Heulen des Windes mischte sich ein neues Geräusch – der Motor eines Wagens. Scheinwerferlicht ergoss sich über den Platz und erhellte kurz die Kirchenpforte, vor der sich aus herumwirbelnden Blättern ein Haufen gebildet hatte. James parkte auf dem Kopfsteinpflaster, stieg aus und warf die Tür mit einem kräftigen Schlag zu. In dem Moment kam Dan Greenwood aus der Alten Schmiede. Er war genau so angezogen, wie Emma es sich vorgestellt hatte, trug Jeans und den blauen Kittel. Sie erwartete, dass er die großen Türflügel zuziehen und mit einem Schlüssel zusperren würde, den er an einer Kette an seinem Gürtel trug. Dann würde er ein schweres Vorhängeschloss aus Messing durch die Eisenringe schieben, die sich an beiden Türen befanden, und das Schloss zurechtrücken. Dieses Ritual hatte sie schon oft vom Fenster aus beobachtet. Doch jetzt ging er über den Platz auf James zu. Er trug schwere Arbeitsstiefel, die laut auf den Pflastersteinen hallten, sodass James sich umdrehte.

Als sie die beiden zusammen sah, fiel ihr auf, wie verschieden sie doch waren. Dan war so dunkel, dass man ihn für einen Ausländer halten konnte. In einem Horrorfilm hätte er gut den Mörder spielen können. Und James war ein blasser, höflicher Engländer. Plötzlich beunruhigte es sie, dass die beiden Männer sich einfach so begegneten. Auf keinen Fall konnte Dan etwas von ihren Phantasien ahnen. Sie hatte nichts getan, was sie verraten könnte. Vorsichtig schob sie das Fenster nach oben, um zu hören, was die beiden sprachen. Die Vorhänge blähten sich im Wind. Eine Brise, die leicht nach Salz schmeckte, wehte herein. Sie kam sich vor wie ein Kind, das heimlich der Unterhaltung von Erwachsenen lauscht, einem Elternteil und dem Lehrer vielleicht, die über seine schulischen Leistungen sprachen. Keiner der beiden Männer hatte sie bemerkt.

«Hast du Nachrichten gesehen?», fragte Dan.

James schüttelte den Kopf. «Ich komme gerade von einem lettischen Containerschiff. Hab mich in Hull nur kurz abgemeldet und bin direkt nach Hause gefahren.»

«Dann hat Emma dir auch nichts gesagt?»

«Sie interessiert sich nicht sonderlich für die Nachrichten.»

«Jeanie Long hat Selbstmord begangen. Ihr Antrag auf Bewährung wurde erneut abgelehnt. Das war vor ein paar Tagen. Sie haben die Meldung ein paar Tage zurückgehalten.»

James stand da, den Autoschlüssel in der Hand. Er hatte immer noch seine Uniform an und sah auf eine altmodische Weise flott aus, als gehörte er der Zeit an, in der das Haus erbaut worden war. Die Messingknöpfe an seiner Jacke schimmerten matt im Licht der Laternen. Seine Mütze trug er unter dem Arm. Emma erinnerte sich an die Zeit, als sie noch Phantasien über ihn gehabt hatte.

«Ich glaube nicht, dass sich für Em dadurch viel ändert. Nicht nach all der Zeit. Sie hat Jeanie doch nicht gekannt, höchstens mal gesehen. Und sie war noch sehr jung, als das alles passiert ist.»

«Sie wollen den Fall Abigail Mantel wiederaufnehmen», sagte Dan Greenwood.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Emma fragte sich, woher Dan das alles wusste. Hatten die beiden Männer schon zu anderen Gelegenheiten über sie gesprochen, ohne dass sie es beobachtet hatte?

«Weil Jeanie Long sich umgebracht hat?», fragte James.

«Weil sich ein neuer Zeuge bei der Polizei gemeldet hat. Scheint ganz so, als hätte Jeanie Long die Kleine gar nicht umbringen können.» Er hielt inne. Emma sah, wie er sich mit seinen kräftigen Fingern die Stirn rieb, als versuchte er, die Erschöpfung wegzureiben. Sie fragte sich, weshalb er einen zehn Jahre alten Mordfall so wichtig nahm. Dass er ihn wichtig nahm, dass er darüber nachgegrübelt hatte, spürte sie. Dabei hatte er damals noch nicht einmal hier im Dorf gewohnt. Er ließ die Hände vom Gesicht sinken. Auf seiner Haut waren keine Spuren vom Ton zurückgeblieben. Er musste sich die Hände gewaschen haben, bevor er aus der Schmiede gekommen war. «Eine Schande, dass niemand sich die Mühe gemacht hat, es Jeanie zu erzählen, was?», sagte er. «Sonst wäre sie vielleicht noch am Leben.»

Ein plötzlicher Windstoß schien die beiden Männer auseinanderzuwehen. Dan lief eilig zurück zur Alten Schmiede, um die Türen zu versperren. Der Volvo verriegelte sich mit einem Klicken, das Standlicht leuchtete auf, und James stieg die Treppenstufen zur Eingangstür hoch. Emma trat vom Fenster weg und setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Sie hielt den Kleinen sanft im Arm und legte ihn an die andere Brust.

So saß sie noch da, als James hereinkam. Sie hatte eine kleine Lampe eingeschaltet, der Rest des großen Dachzimmers war in Schatten getaucht. Das Baby hatte aufgehört zu trinken, und die Augen waren ihm zugefallen, doch sie hielt es noch an der Brust, und ab und zu nuckelte es im Schlaf. Ein Tropfen Milch lief ihm über die Wange. Sie hatte gehört, wie James unten vorsichtig hin und her ging, dann hatten die Treppenstufen geknarzt. Ruhig und beherrscht saß sie nun da, ein Lächeln auf den Lippen. Mutter und Kind. Wie auf einem Gemälde der holländischen Meister in der Ausstellung, in die er sie geschleppt hatte. Er hatte dort einen Druck für das Haus gekauft, ihn in einen großen, vergoldeten Rahmen gehängt. Ihr Anblick verfehlte seine Wirkung nicht, auch er lächelte nun und sah plötzlich unsagbar glücklich aus. Sie fragte sich, wieso sie sich bloß von Dan Greenwood so angezogen fühlte, der immer ein bisschen schmuddelig wirkte und seine dünnen Zigaretten aus losem Tabak drehte.

Behutsam hob sie den Kleinen in sein Bettchen. Er spitzte die Lippen, als würde er noch nach der Brustwarze suchen, seufzte tief vor Enttäuschung, wachte aber nicht auf. Emma machte die Lasche des wenig kleidsamen Still-BHs wieder zu und wickelte sich in ihren Bademantel. Die Heizung lief, aber in diesem Haus zog es immer. James beugte sich herab, um sie zu küssen, seine Zungenspitze tastete nach ihren Lippen, er war genauso beharrlich wie das Baby beim Stillen. Er hätte gern mit ihr geschlafen, aber sie wusste, dass er sie nicht drängen würde. Nichts war so wichtig für ihn, dass es eine Szene rechtfertigen würde, und in letzter Zeit war sie unberechenbar gewesen. Er wollte doch nicht, dass sie am Ende in Tränen ausbrach. Sanft schob sie ihn von sich weg. Er hatte sich unten ein kleines Glas Whisky eingeschenkt, das er noch in der Hand hielt. Er nahm einen Schluck, bevor er das Glas auf den Nachttisch stellte.

«Alles in Ordnung bei dir?», fragte sie, um die Zurückweisung versöhnlicher zu machen. «Es war so windig heute Abend. Ich habe an dich gedacht, da draußen im Dunkeln mit den hohen Wellen.»

Sie hatte an nichts dergleichen gedacht. Nicht heute Abend. Anfangs, kurz nachdem sie ihn kennengelernt hatte, da hatte sie von ihm draußen auf dem dunklen Meer geträumt. Doch jetzt war der Zauber irgendwie verflogen.

«Wir hatten Ostwind», sagte er. «Richtung Küste. Hat uns geholfen reinzukommen.» Er lächelte sie liebevoll an, und sie war froh, dass sie das Richtige gesagt hatte.

Langsam zog er sich aus, lockerte die verspannten Muskeln. Er war Lotse. An der Mündung des Humber ging er an Bord der Schiffe und brachte sie sicher in den Hafen von Hull, Goole oder Immingham, oder er lotste sie aus dem Fluss in die Nordsee. Er nahm seine Arbeit sehr ernst, war sich der Verantwortung bewusst, und er war einer der jüngsten auf dem Humber zugelassenen Lotsen. Sie war sehr stolz auf ihn.

Das sagte sie sich nun, doch die Wörter zogen ihr ohne Bedeutung durch den Kopf. Sie versuchte, sich gegen die Panik zu wehren, die in ihr aufkam, seit sie die Männer draußen hatte reden hören. Die Panik schwoll an wie eine riesige Welle, die sich auf dem Meer aus dem Nichts heraus auftürmt.

«Ich habe dich draußen mit Dan Greenwood reden hören. Was war denn so wichtig um diese nachtschlafende Zeit?»

Er saß auf dem Bett. Sein Oberkörper war nackt, überzogen mit feinem blondem Haar. Niemand wäre darauf gekommen, dass er fünfzehn Jahre älter war als sie, so gut hielt er sich in Form.

«Jeanie Long hat sich letzte Woche umgebracht. Jeanie Long, du weißt schon. Ihr Vater war Steuermann auf dem Lotsenboot an der Landspitze. Die Frau, die Abigail erwürgt haben soll.»

Sie wollte ihn anbrüllen: Natürlich weiß ich, wer das ist. Ich weiß mehr über diesen Fall, als du jemals wissen könntest. Doch sie sah ihn nur an.

«Eine schreckliche Geschichte, ein furchtbarer Zufall. Dan sagt, ein neuer Zeuge hätte sich gemeldet. Der Fall ist wiederaufgenommen worden. Jeanie wäre vielleicht freigesprochen worden.»

«Woher weiß denn Dan Greenwood das alles?»

Er antwortete nicht. Sie kam zu der Überzeugung, dass er schon wieder an etwas anderes dachte, an eine tückische Strömung vielleicht, ein überladenes Schiff, einen feindseligen Kapitän. Er machte seinen Gürtel auf und erhob sich, um aus der Hose zu steigen. Sorgfältig legte er sie zusammen und hängte sie in den Schrank.

«Komm ins Bett», sagte er. «Schlaf ein bisschen, solange es geht.» Abigail Mantel und Jeanie Long hatte er wohl schon wieder vergessen.