Vera fuhr langsam von Springhead House nach Elvet. Es war schon spät, aber seit ihrer Ankunft in East Yorkshire hatte sie sich nicht wacher gefühlt. Ihre Gedanken waren klar und scharf und richteten sich auf Caroline Fletcher. Sie zogen ihr durch den Kopf, formvollendet und wunderschön wie die Eiskristalle am Fenster von Christopher Winters Zimmer.
Nachdem der Abigail-Mantel-Fall wieder aufgerollt worden war, hatte Caroline bestimmt auf einen Anruf gewartet. Sie musste gewartet haben. Auf einen Anruf oder einen Brief, eine förmliche Aufforderung, zu einer Befragung auf dem Revier zu erscheinen. Bestimmt hatte sie sich die Fragen schon durch den Kopf gehen lassen. Können Sie uns Ihre Gründe dafür darlegen, dass Sie die Verdächtige zu diesem Zeitpunkt angeklagt haben? Warum haben Sie nur in diese eine Richtung ermittelt? Und sie würde die Antworten einstudiert haben. Bis sie saßen.
Caroline musste mitbekommen haben, dass man Vera und ihr Team hinzugezogen hatte. Sie hatte sicher noch Freunde in der Polizeidirektion. Vielleicht hatte sie ein paar Nachforschungen angestellt, sich über Veras Vorgehensweise erkundigt, alte Fälle angeschaut. Sie musste gewappnet gewesen sein und bereit. Doch die Tage waren vergangen, und nichts war geschehen. Ihre Nerven mussten langsam zum Zerreißen gespannt gewesen sein. Vielleicht war sie ja deswegen bei dem Lagerfeuer aufgetaucht. Es gehörte schon einiger Mumm dazu, einfach nur dazusitzen und zu warten. Und jetzt musste sie angespannter sein denn je. Noch ein Mord und sie am Schauplatz.
Vera überlegte, wie sie vorgehen wollte. Sie würde einfach vor Carolines Tür auftauchen. Keine Warnung. Nichts Offizielles. Ich dachte, wir könnten ein wenig miteinander plaudern, Herzchen. Wir brauchen doch keinen Anwalt, oder? Setz einfach das Teewasser auf, und wir schauen, ob wir das nicht unter uns klären können. Sie würde auf die Solidarität unter Frauen vertrauen, darauf, dass sie beide darum kämpfen mussten, von den männlichen Kollegen ernst genommen zu werden. Sie stellte sich vor, wie sie Caroline einwickeln und entwaffnen würde. Schöne Frauen empfanden die fetten, hässlichen nie als Bedrohung. Am liebsten hätte sie es sofort mit Caroline aufgenommen, war fast zu zappelig, um zu warten, aber sie wusste, dass das nicht ging. Es war schon Mitternacht, und falls die Frau tatsächlich einen fähigen Anwalt aufgetrieben hatte, wollte Vera sich keinesfalls des Hausfriedensbruchs beschuldigen lassen. Sie würde zurück ins Hotel fahren, einige Whiskys trinken und ein paar Stunden schlafen und morgen als Allererstes bei Caroline Fletcher aufschlagen.
Ihr Handy klingelte. Sie fuhr an den Straßenrand. Die Straße war vereist und glatt, und selbst zu ihren besten Zeiten war sie nicht gut darin, zwei Dinge auf einmal zu tun. Der Empfang war nicht besonders, und sie stieg aus. Die Kälte verschlug ihr den Atem. Unter ihren Füßen zersplitterten die gefrorenen Grashalme.
«Ma’am.» Schwach und vertraut, ein Hauch von Ironie. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Grinsen aus.
«Joe Ashworth. Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?»
«Sie haben gesagt, ich soll ein paar Tage abwarten. Aber als jetzt die Meldung von dem Mord an dem Winter-Jungen durchkam, dachte ich, Sie würden mich vielleicht gern sofort dahaben.»
«Sind Sie unter die Gedankenleser gegangen, alter Knabe?»
«Ehrlich gesagt kam die Idee vom Chef.»
Aber du hast sie ihm unterbreitet, dachte sie. Du wolltest nichts verpassen. «Wo sind Sie?»
«An der Raststätte auf der M62. Etwa eine halbe Stunde von Hull entfernt. Man hat mir ein Zimmer im selben Hotel gebucht wie Ihnen.»
«Tatsächlich! Das ist ein hochanständiges Haus. Ich hoffe, es sprengt nicht das Polizeibudget.»
Sie stand noch einen Moment lang da, ehe sie weiterfuhr. Ashworth war ihr Sergeant. Er war nicht perfekt, beim allerbesten Willen nicht. Ein bisschen leichtgläubig und zu sehr Stadtmensch, zu sehr mit seiner Frau und seinem Baby beschäftigt. Aber er wäre ein Verbündeter gegen diese verdammten Yorkies. Und er kam dem am nächsten, was sie an Familie hatte.
Früh am nächsten Morgen fuhren sie vor Caroline Fletchers Haus vor. Das ruhige Wetter hatte nicht lange gehalten. Von Osten her wehte ein schneidender Wind, und der Regen war vermischt mit Graupelkörnern, scharf und grau wie Flintsteinchen. Es war sieben Uhr, und die Straße wachte gerade auf. Caroline wohnte von Elvet aus ein paar Orte landeinwärts, die Siedlung war neu und chic. Man sah Doppelgaragen und aufwendige Gesimse, und hinter jedem Haus machte sich ein riesiger Wintergarten breit. Es war genau die Art Siedlung, in der Ashworth eines Tages gern wohnen würde, nach seiner Beförderung. Vera würde man wegen ihres ungepflegten Gartens und der flegelhaften Freunde dort gar nicht erst dulden.
Sie stand in der Auffahrt und sah sich um, forderte die Nachbarn geradezu heraus, von ihr Notiz zu nehmen. «Ich finde, wir waren wirklich diskret», sagte sie. «Wir hätten ja auch in einem Panda kommen können.»
Ashworth wusste genau, dass sie ihren Spaß hatte, und war klug genug, ihr den nicht zu verderben. Durch die Vorhänge des Nachbarhauses linste ein kleines Kind heraus. Ein Mädchen mit Lockenkopf in einem pinkfarbenen Bademantel, ungefähr so alt wie sein Sohn. Er winkte ihm zu, und es verschwand. Vera hämmerte schon gegen Carolines Eingangstür. In einem der oberen Fenster brannte Licht. Sie hörten Schritte.
Die Tür ging auf. Ein großer Mann mit Molchgesicht und langem Hals starrte sie an. Er trug einen unauffälligen Anzug mit dunkler Krawatte. Bestatter oder Buchhalter, dachte Vera. Seine Haare waren noch nass vom Duschen.
«Könnten Sie Caroline ausrichten, dass wir sie gern kurz gesprochen hätten?» Vera schenkte ihm ein friedliches, breites Lächeln.
Ein Zeitungsjunge in einem schwarzen Anorak kam herangeschlendert. Wie bei einer Frau in einer Burka verbarg die Kapuze sein Gesicht bis auf die Augen. Er stopfte dem Molch ein Exemplar der Financial Times in die Hand. Buchhalter also. Der Molch sah auf die Schlagzeile und antwortete nicht gleich.
«Wir haben nicht ewig Zeit.»
«Ich bin mir nicht sicher …»
Vera atmete tief ein, dann sagte sie laut und übertrieben deutlich: «Mein Name ist Vera Stanhope. Kriminalpolizei Northumberland. Ich möchte mit Caroline Fletcher sprechen.»
Der Zeitungsjunge blieb am Tor stehen und drehte sich neugierig um. Noch ehe er aus der Schule wieder zu Hause war, würde sich die Nachricht in der ganzen Siedlung verbreitet haben. Das Gesicht des Mannes lief leuchtend rot an, die gleiche Farbe wie der Vorhang, der in dem kleinen Fenster neben ihm hing. Ausgesprochen hübsch, dachte Vera. Vielleicht ist er ja doch kein Molch, sondern eine Art Chamäleon. «Dann gehen Sie rein», sagte er hastig. «Caroline ist drinnen im Wohnzimmer.» Und dann, im Versuch, seine Würde zu wahren: «Sie müssen mich leider entschuldigen. Ich bin auf dem Weg zur Arbeit.» Er schnappte sich den Autoschlüssel von einem Tischchen im Flur und eine Aktentasche, die neben der Treppe stand, und schob sich an ihnen vorbei.
Caroline stand im Wohnzimmer. Sie musste den Wortwechsel gehört haben, doch sie wartete, bis die beiden eingetreten waren und die Tür hinter sich zugemacht hatten, bevor sie etwas sagte.
«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?» Wie eine dieser frostigen Damen in den Edel-Kaufhäusern, die Parfum verkauften. Solche, die Vera für gewöhnlich ungehindert an sich vorbeiziehen ließen. Es war noch nicht halb acht, aber sie war angezogen und zurechtgemacht – als hätte sie gewusst, dass Vera aufkreuzen würde, auch ohne Insiderinformationen zu bekommen. Vera hatte auf der Polizeidirektion niemandem von ihren Plänen erzählt. Aber Caroline hatte sechs Jahre lang bei der obersten Polizeibehörde gearbeitet. Sie war schnell befördert worden, gut in ihrem Job gewesen. Vera hatte sie unterschätzt. Genauso hätte Caroline die Sache auch angepackt.
«Wer war das?», fragte Vera. «Ihr Mann?» Immer noch standen sie alle.
«Sie wissen, dass ich nicht verheiratet bin. Das haben Sie doch sicher nachgeprüft. Alex und ich leben seit vier Jahren zusammen.» Sie sah sehr streng aus, trug einen schwarzen Rock über schwarzen Stiefeln und ein Rollkragentop von der Farbe reifer Pflaumen. Nirgendwo beulte sich etwas aus oder schlabberte herum, alles saß perfekt da, wo es hingehörte.
«Wie nett», sagte Vera vage. Sie setzte sich in einen Sessel neben dem Gaskaminofen und zog Notizblock und Kugelschreiber aus der Tasche. «Wie alt sind Sie jetzt?»
«Das haben Sie doch auch nachgeprüft. Sechsundvierzig.»
«Man sieht es Ihnen nicht an», sagte Vera bewundernd. Das meinte sie auch so. Sie waren ungefähr im gleichen Alter, aber Caroline sah zehn Jahre jünger aus. «Was fangen Sie denn jetzt so mit sich an?»
«Ich bin Immobilienmaklerin.»
«Sind Sie eine gute Maklerin?»
«Ich verkaufe mehr Immobilien als irgendjemand sonst in dem Unternehmen.»
Du musst natürlich in allem, was du angehst, die Beste sein, dachte Vera. Woher kommt das wohl? Und bist du deshalb bei der Polizei ausgestiegen? Es gibt nichts Unheilvolleres als die Angst, etwas falsch zu machen. Denn in diesem Job unterlaufen einem zwangsläufig Fehler.
«Kaffee?», fragte Caroline.
«Aye, wieso nicht? Mit Milch, ein Stück Zucker. Joe hier trinkt ihn schwarz.»
Während Caroline draußen war, kritzelte Vera auf ihrem Notizblock herum. Spinnen und ineinander verwobene Netze. Joe Ashworth, der ihr von der anderen Seite des Zimmers aus zusah, dachte, dass ein Psychologe seine helle Freude an ihr hätte. Caroline musste in der Küche schon alles vorbereitet, aufs Tablett gestellt und das Wasser schon gekocht haben, denn sie kam beinahe sofort wieder zurück, umhüllt von Kaffeeduft. Sie stellte alles auf den Tisch – eine silberne Kaffeekanne, drei zusammenpassende Kaffeebecher, Zuckerdose, Milchkännchen, eine Auswahl Shortbread auf einem braunen Teller. Vera schaute auf.
«Waren Sie noch bei Mantels Feier, als gestern Abend die Leiche von dem Jungen gefunden wurde?»
«Nein.» Caroline widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Einschenken des Kaffees. «Ich habe nur eine Karte gekauft, weil es sich um einen guten Zweck handelte. Ich bin nicht lange geblieben.»
«Aber Sie haben gehört, wer umgebracht wurde?»
«Es kam heute Morgen im Radio.» Und jemand hat dich angerufen, dachte Vera. Musste dich anrufen.
«Christopher Winter, der Bruder von der Kleinen, die Abigail Mantels Leiche gefunden hat.»
«Ein merkwürdiger Zufall», sagte Caroline ruhig. Sie reichte Ashworth einen Becher Kaffee.
«Nun ja. Möglicherweise.»
«Glauben Sie etwa, sein Tod ist für die alten Ermittlungen von Bedeutung?»
Darauf zu antworten, erachtete Vera nicht der Mühe wert. «Sie müssen damals mit dem Jungen gesprochen haben. Was war Ihr Eindruck?»
Es entstand eine kurze Pause, während Caroline an ihrem Kaffee nippte. Sie hinterließ einen Lippenstiftfleck auf dem weißen Porzellan. «Ich kann mich nicht erinnern», sagte sie. «Ich meine, ich kann mich nicht mal daran erinnern, mit ihm gesprochen zu haben. Er war doch bloß ein Kind. Jünger als Abigail. Nicht im gleichen Jahrgang in der Schule.»
«Er hätte aber ein Zeuge sein können.» Immer noch sprach Vera in ruhigem, vernünftigem Ton.
«Er war den ganzen Tag mit seiner Familie zusammen. Kirche um halb elf, dann nach Hause zum Essen. Er war nicht mehr draußen. Dan Greenwood hat am Mordtag kurz mit ihm geredet.»
Dann erinnerst du dich ja doch. Oder du hast in deinen Aufzeichnungen nachgesehen. Zumindest hast du deine Geschichte vorbereitet. Als sie Caroline genauer ansah, merkte Vera, wie müde die Frau war. Hatte sie geschlafen? War sie überhaupt im Bett gewesen? Oder hatte sie ihr Gedächtnis die ganze Nacht über nach Fakten durchforstet, die zu ihrer Entlastung dienen konnten? Vera versuchte, eine Woge des Mitgefühls abzuwehren. «Haben Sie jemals sein Zimmer gesehen?»
Es entstand eine Pause. Caroline antwortete nicht sofort. Sie ist gut, dachte Vera. Vor Gericht wäre sie brillant gewesen. Durch nichts zu erschüttern. Die Staatsanwaltschaft hätte ihr zu Füßen gelegen.
«Ich erinnere mich nicht», sagte sie. «Ich müsste in meinen Notizen nachsehen.»
Vera beugte sich nach vorn. «Schauen Sie», sagte sie. «Ich kapiere nicht, wieso es hier ein Problem gibt. Was haben Sie zu verlieren, wenn Sie mir gegenüber mit offenen Karten spielen? Den Dienst haben Sie doch schon quittiert. Niemand wird sagen, dass Sie nachlässig waren. Wozu auch? Und wenn doch, wird es in einem internen Bericht stehen, den die Presse niemals zu sehen bekommt.»
«Ich bin also der ideale Sündenbock, nicht wahr?»
«Ich schreibe den Bericht. Sie werden den ganzen Mist am Ende nicht allein ausbaden müssen. Jedenfalls nicht, wenn Sie mich nicht für dumm verkaufen. Ich weiß, wie es ist, als Frau mit diesem Haufen zu arbeiten.» Sie schwieg kurz. «Ich frage Sie also noch einmal. Haben Sie sich das Zimmer des Jungen angesehen?»
«Nein», sagte Caroline. Ganz gegen ihren Willen klang ihre Stimme interessiert: «Warum hätte ich das tun sollen?»
«Von seinem Zimmer aus konnte er auf das Feld sehen, wo Abigails Leiche gefunden wurde. Er war den ganzen Nachmittag dort oben. Er ist vielleicht Zeuge ihrer Ermordung geworden.»
Sie sackte zusammen, als hätte ihr jemand in den Bauch getreten, und wand sich. «Scheiße», sagte sie. «So eine Scheiße. Wie konnte ich das nur übersehen?»
«Sie hatten Scheuklappen an. Waren von Anfang an davon überzeugt, dass Jeanie Long den Mord begangen hat.»
«Aber es deutete doch alles darauf hin. Sie hatte Motiv und Gelegenheit, und ihr Alibi ließ sich nicht überprüfen.»
«Aber es gab keine gerichtsmedizinischen Spuren. Und kein Geständnis, auch nach zehn Jahren nicht.»
«Ein junges Mädchen war ermordet worden. Ein hübsches junges Mädchen. Sie wissen doch, wie das ist. Jeden Abend ihr Bild in den Nachrichten. Die Presse, die Politiker, alle gieren nach einem Ergebnis. Es herrscht Druck, die Sache schnell aufzuklären.»
«Das ist nur zu wahr», sagte Vera.
Sie saßen schweigend da. Der Regen prasselte gegen das Fenster.
«Es war also nichts Persönliches?», fragte Vera.
«Wie meinen Sie das?» Carolines Kopf schoss in die Höhe. Sie war wieder bereit zu kämpfen.
«Vielleicht hatten Sie ja eine Abneigung gegen Jeanie Long.»
«Aber ich bin ihr vor dem Mord nie begegnet.»
«Das habe ich nicht gemeint. Manchen Verdächtigen gegenüber kann man doch schwer auf Distanz bleiben … Sie gehen einem auf die Nerven …»
«Vielleicht war da was in der Art», räumte Caroline ein. «Sie hat es einem nicht leichtgemacht. Das war wohl ihre Arroganz. Die Überheblichkeit. Als ob ein Abschluss an der Uni und ein paar Kenntnisse von diesem Klassikgedudel sie zu was Besserem machen würden.»
«Ich kenne den Typ.»
«Und sie hasste Abigail. Ich sehe mittlerweile ein, dass sie das Mädchen nicht umgebracht haben kann. Aber sie war froh, dass die Kleine tot war.»
«Stand jemals irgendjemand anders unter Verdacht? Ich meine, bevor Sie sie eingebuchtet haben?»
«Eigentlich nicht. Keith Mantel hat uns sehr schnell auf sie gebracht. Er sagte, Jeanie sei immer eifersüchtig auf Abigail gewesen, und als er sie bat auszuziehen, habe sie dem Mädchen die Schuld gegeben.»
«Haben Sie die hiesigen Minderbemittelten und Sexualstraftäter überprüft?»
«Natürlich, auch wenn ich es nie für die Tat eines Perversen gehalten habe. Es gab keine Vergewaltigung. Ihre Kleider waren nicht mal durcheinandergebracht. Und wenn es das nicht war, wer außer Jeanie Long könnte ein Motiv gehabt haben? Abigail war erst fünfzehn, um Himmels willen. Ein Schulmädchen. Kein Geld, das man erben könnte. Und sie hat ja wohl kaum lange genug gelebt, um sich Feinde zu machen.»
«War sie noch Jungfrau?» Obwohl Vera das natürlich wusste. Sie hatte jeden Bericht gelesen, den es über den Fall gab.
«Nein, aber das ist nicht ungewöhnlich für eine Fünfzehnjährige. War es auch vor zehn Jahren nicht.»
«Haben Sie irgendwelche Freunde von ihr aufgespürt, Jungs?»
«Keinen, der zugegeben hätte, mit ihr geschlafen zu haben. Aber das hätten sie ja sowieso nicht, oder? Sie war noch minderjährig.»
«Wie ist ihr Vater damit zurechtgekommen?»
«Es war kein Schock für ihn, dass sie schon Sex gehabt hatte. Er sagte mir, den superstrengen Vater habe er nie gespielt. Das sei nicht seine Art gewesen. Er habe ihr nur gesagt, sie solle verhüten.»
«Hat sie ihn denn um Rat gebeten? Mit ihm über die Jungs gesprochen, mit denen sie unterwegs war?»
«Er hat gesagt, nein, und das habe ich ihm geglaubt. Warum sollte er lügen?»
«Emma, die Kleine, die die Leiche gefunden hat …»
«Ja?»
«Man hätte meinen können, dass sie vielleicht wusste, mit wem Abigail schlief.»
«Vielleicht.» Caroline zögerte. «Ich habe sie nicht gefragt. Als wir Jeanie Long einmal inhaftiert hatten, schien es nicht mehr von Bedeutung zu sein. Ich sah nicht ein, wieso man in der Vergangenheit eines jungen Mädchens wühlen sollte.»
Vera ließ sich das durch den Kopf gehen, ohne etwas zu sagen. Auch Ashworth war offenbar in Gedanken versunken. Draußen vor dem Fenster maunzte eine Katze, aber trotz des Regens stand niemand auf, um sie hereinzulassen.
«Warum haben Sie eigentlich den Dienst quittiert?», fragte Vera.
Das war eine Frage, auf die Caroline nicht vorbereitet war. Ein so blödsinniger Fehler wie der, Christopher nicht zu befragen. Sollte das alles sein, worauf ihr Versagen am Ende hinauslief?, dachte Vera. Mangelnde Sorgfalt bei der Bearbeitung ihrer Fälle?
«Das hatte persönliche Gründe», sagte Caroline schließlich. «Mit der Arbeit hatte es nichts zu tun.»
«Da müssen Sie mir schon was Besseres erzählen», fuhr Vera auf. «Persönliche Gründe, das gibt es bei mir nicht.»
«Ich war verlobt. Ich dachte, das wäre, was ich wollte. Ehe, Kinder, das ganze Paket. Ich sah nicht, wie der Job da hineinpassen sollte.»
«Und was ist passiert?»
«Es hat nicht funktioniert. Ich meine, ich konnte es nicht durchziehen. Vielleicht bin ich nicht der Typ zum Heiraten.»
«Aber Sie sind nicht wieder zur Polizei gegangen.»
«Ich hatte mich an regelmäßige Arbeitszeiten gewöhnt, an meinen Schlaf in der Nacht, an die hohen Provisionen.»
«Machen Sie Ihren Job gern?»
«Ich habe Ihnen ja schon gesagt, dass ich gut darin bin. Verkaufen. Manchmal glaube ich, ich bin dafür geboren.»
Wofür bin ich wohl geboren?, fragte sich Vera. Dafür, Menschen, die mich anlügen, zu durchschauen? Warum begreife ich dann nicht, was hier los ist? Sie wusste, dass sie noch mehr Fragen hatte, aber sie fand nicht die richtigen Worte, um sie zu stellen. Also stand sie auf. Joe Ashworth folgte ihr, überrascht, dass die Befragung so schnell vorbei war. Als sie gingen, ließ Caroline Fletcher keine Erleichterung erkennen. Sie hatte wohl verstanden, dass sie wiederkommen würden, dachte Vera.