Kapitel dreiunddreißig
Vera und Joe fuhren zurück in ihr trostloses Hotel. Die Bar war fast leer, nur ein paar Managerinnen, die mit abgehackten, hohen Stimmen über eine Schulung für Software-Berater diskutierten, saßen noch dort. Nach ein paar Sätzen hörte Vera nicht mehr hin. Was die Frauen da sprachen, war einfach völlig unverständlich. Wie konnte das Hotel auch nur den geringsten Gewinn abwerfen?, fragte sie sich. Dann fiel ihr ein Buch von Agatha Christie ein, über ein ehrwürdiges Hotel, das sich nicht rentierte. Und das sich am Ende als Deckadresse für kriminelle Machenschaften entpuppte. Sie versuchte sich an den Titel zu erinnern, aber sie kam nicht drauf.
Auf dem Tisch vor ihr stand ein großer Scotch. Sie starrte in die Flüssigkeit und dachte, dass das wahrscheinlich die schönste Farbe der ganzen Welt war. Sie wusste, dass sie schon genug getrunken hatte und sich nach dem Glas kein weiteres genehmigen durfte. Dieser Scotch wollte also ganz langsam getrunken werden. Sie hob das Glas an den Mund und nippte daran.
«Was halten Sie von Bennett?», fragte Joe Ashworth. «Oder wie immer er auch heißen mag.»
«Bennett», sagte sie. «Von Rechts wegen heißt er Bennett.»
«Jahrelang mit einer Lüge zu leben …»
«War es denn eine Lüge?»
«Er hat seiner Frau erzählt, dass seine Eltern beide tot sind. Dabei ist seine Mutter mit einem Versicherungsvertreter zusammengezogen und wohnte gleich die Straße runter. Die arme Frau hat einen Enkelsohn, von dem sie nichts weiß.»
«Das ist kein Verbrechen», sagte Vera gelassen. «Und wir lügen doch alle.» Aber in seiner rechtschaffenen Entrüstung hörte er ihr gar nicht zu. Nur am Rande nahm sie wahr, dass er sich darüber ausließ, wie er es fände, wenn seine Frau ihm so etwas antun würde. Doch ihre Gedanken gingen eigene Wege. Wenn mich jemand fragen würde, wie viel ich heute Abend schon getrunken habe, würde ich eine Zahl aus dem Ärmel schütteln. Ganz automatisch. Ich würde gar nicht darüber nachdenken. Um mich selbst in ein besseres Licht zu setzen. Machen wir das nicht alle? Ausreden finden, Rechtfertigungen? Selbst der heilige Joe Ashworth. Er liebt seine Arbeit. Es macht ihm nicht mal was aus, von seiner Frau und seinem Kind getrennt zu sein. Jedenfalls nicht viel. Dann kann er nachts mal durchschlafen und hat Pause von den dreckigen Windeln. Aber was redet er sich ein? Dass er ein Opfer bringt. Und dass er es gern bringt, weil es der Gesellschaft dient. Der reinste Märtyrer.
Plötzlich merkte sie, dass Joe aufgehört hatte zu reden, und sie merkwürdig ansah.
«Und?», fragte er.
«Tut mir leid. Ich war ganz woanders.»
«Glauben Sie, dass Bennett Mantels Tochter umgebracht hat, um den Selbstmord seines Vaters zu rächen?»
«Nein», sagte sie. Wenn man sie drängen würde, dann könnte sie bestimmt auch eine vernünftige Begründung liefern, aber selbst das wäre eine Art Lüge. Ihre Antwort gründete darauf, dass sie ihrem eigenen Urteil traute. Auf Vertrauen, nicht auf Vernunft. «Aber den Bruder könnte er umgebracht haben», fuhr sie fort. «Falls Christopher etwas über seine Vergangenheit herausgefunden hat. Um seine neue Identität zu schützen, die glückliche Familie und alles. Ja, ich kann mir durchaus vorstellen, dass Bennett einen Mord begehen würde, um das geheim zu halten.»
«Sie glauben also, dass es zwei Mörder gegeben haben könnte?» Joe war skeptisch, blieb aber höflich. Das war er immer.
Glaube ich das? «Wir dürfen keine Möglichkeit ausschließen.» Und ich weiß, dass das eine Ausflucht ist, weil ich mich gerade jetzt nicht gut genug konzentrieren kann, um es gründlich zu durchdenken.
«Eine Gelegenheit hätte er gehabt», sagte Joe. «Er hätte sich vom Feuer wegstehlen können. Die ganze Zeit über sind Leute gekommen und gegangen. Sie waren doch auch da. Stimmt das mit Ihrer Erinnerung überein?»
«Aye», sagte sie. «Im Lichtschein des Feuers konnte man nur die Leute sehen, die einem am nächsten standen. Die anderen waren bloß Umrisse.» Sie nahm einen Schluck Whisky, behielt ihn im Mund, schluckte ihn bedächtig hinunter. «Bennett hätte wissen müssen, dass Christopher da sein würde. Er hätte ein Treffen mit ihm ausmachen müssen.»
«Vielleicht war es ja Bennett, den Christopher versucht hat anzurufen.»
«Aye», sagte sie. «Vielleicht.» Aber sie konnte sich nicht mehr auf die Einzelheiten konzentrieren. Ihre Phantasie hob ab, wie ein Habicht, der aus dem Kielder Forest aufsteigt, ganz in der Nähe ihres Zuhauses in den Bergen. Sie hatte das Gefühl, sie müsste auf dieses flache, leere Land hier hinunterschauen können, um das Gesamtbild zu erkennen.
«Was haben Abigail Mantel und Christopher Winter gemeinsam?», fragte sie plötzlich und merkte, noch während sie sprach, dass ihre Stimme zu laut war.
Joe Ashworth sah sie an. «Nicht viel. Sie war eine verzogene Göre und er ein verkorkster Student.»
«Beide waren verkorkst, meinen Sie nicht auch?» Sie stieß die Frage heftig hervor.
«Ich nehme es an.»
«Von den Eltern?» Vera hätte jetzt Larkin zitieren können, aber Joe wäre entsetzt gewesen.
«Nun, die Kleine konnte sich an ihre Mutter ja kaum erinnern. Aber ihr Dad war nicht gerade ein Vorbild, wenn Bennett uns die Wahrheit gesagt hat.»
«Und die Winters? Was halten Sie von denen?»
«Die sind seltsam», sagte er schließlich. Er schwieg kurz. «Ich weiß nicht, ob ich in der Familie aufwachsen wollte.»
«Ich frage mich, wie Caroline Fletchers Eltern so sind.» Und die von Michael Long. Und Dan Greenwood. Und wie die Großeltern waren. Wie weit konnte man zurückgehen? Der Moment der Klarheit, in dem sie den Fall als großes Ganzes gesehen hatte, war verstrichen. Der Habicht hatte eine Bruchlandung hingelegt. Sie war mit Kopfschmerzen hinter den Augen zurückgeblieben – und dem Wissen, dass sie morgen wieder einen Kater haben würde und das flüchtige Aufblitzen einer Lösung vermutlich ein aus dem Alkohol geborenes Trugbild gewesen war.
«Ich gehe hoch», sagte Joe. «Ich muss zu Hause anrufen …»
«Natürlich.»
«Wenn es nichts mehr gibt …»
«Nein», sagte sie. «Nun verschwinden Sie schon. Ich werde mich selbst gleich aufmachen.» Aber sie blieb sitzen und schaute in das leere Glas, außerstande, den Blick in den quadratischen, überheizten Raum mit dem an der Wand befestigten Fernseher zu wenden. Die Managerinnen legten eine kurze Gesprächspause ein und sahen mitleidig zu ihr hinüber. Das setzte sie in Bewegung. Sie stand auf, ging an der Rezeption vorbei und hinaus in die Dunkelheit.
Das Hotel lag an der Hauptstraße außerhalb des Dorfs, und es gab zwar Straßenlaternen, aber keinen Bürgersteig. Als ihr ein Lkw entgegenkam, musste sie die Böschung hochklettern und sich in eine Hecke ducken. Sie ging Richtung Elvet, ohne recht zu wissen, warum, doch sie genoss es, an der Luft zu sein und allein. Ihre Kopfschmerzen wurden langsam besser. Auf den Straßen im Dorfzentrum war alles ruhig. Der Anchor hatte noch offen, und durch das kleine Fenster erhaschte sie das Bild zweier Männer, die an der Bar standen, die Münder lachend aufgesperrt, neben der riesigen Whiskyflasche, in der Kleingeld für das Rettungsboot gesammelt wurde. Hinter ihnen stand ein Barmädchen mit einem Diamantstecker in der Nase. Aber Vera ging weiter, und das Bild verschwand beinahe sofort wieder.
Im Captain’s House waren die Vorhänge zugezogen. Ob James und Emma Bennett wohl am Feuer saßen und gemütlich miteinander plauderten? Ob er ihr wohl gerade die wahre Geschichte seines Lebens erzählte?
In der Alten Schmiede war Licht. Sie hämmerte gegen die Türen. Nichts rührte sich.
«Na, komm schon, Mann. Lass mich rein. Ich muss dringend mal pinkeln.»
Schließlich hörte sie Schritte, dann schob Dan Greenwood heftig einen Riegel zurück und machte die Tür auf. Er sah ganz benommen aus, als hätte sie ihn aus dem Tiefschlaf gerissen oder bei etwas unterbrochen, das äußerste Konzentration verlangte.
«Du arbeitest aber noch spät, Danny, mein Junge.»
«Umso besser, wenn du wirklich so dringend musst, wie du behauptest. Die Toilette ist hinten im Hof.»
Sie durchquerte die Töpferei, doch an der rückwärtigen Tür blieb sie stehen und wandte sich zu ihm um. Er stapelte ein paar Unterlagen auf seinem Schreibtisch zusammen und stopfte sie in eine Schublade. Als sie wiederkam, war der Schreibtisch leer.
«Arbeitest du immer so spät?», fragte sie.
«Ist eine Gewohnheit, die man nur schwer loswird, wenn man mal Polizist gewesen ist. Davon abgesehen, gibt es nicht viel, was mich nach Hause zieht.»
«Keine Frau in deinem Leben, hm?» Ihr fiel die letzte Bemerkung ein, die er zu diesem Thema gemacht hatte, und sie dachte, dass er um diese späte Zeit vielleicht geneigter war, darüber zu reden.
Er zuckte unverbindlich die Schultern, lächelte kurz. «Wer weiß. Ich bin mir nicht sicher.»
«Das ist mir etwas zu kryptisch für diese nachtschlafende Zeit. Weswegen bist du dir nicht sicher?»
«Ich habe sie sehr gern. Aber ich weiß nicht, was sie von mir hält. Wo das Ganze hinführen soll.»
«Vielleicht solltest du sie fragen. Ich persönlich ziehe den direkten Angriff immer vor.» Aber schau her, wohin mich das gebracht hat, dachte Vera. In ihrem Leben gab es schon seit Jahren keinen Mann mehr.
Wieder lächelte er, und sie nahm an, dass er das Gleiche dachte, aber zu sehr Gentleman war, um es auszusprechen. «Und was ist mit dir los, dass du nach Einbruch der Dunkelheit ganz allein herumspazierst?», fragte er. «Liest du die Regeln zur Verbrechensverhütung nicht?»
«Ich kann nur nicht schlafen», sagte sie. «Das kennst du doch auch.»
«Wie läuft es denn?»
«Es gleitet mir aus der Hand», sagte sie. «Das Gesamtbild. Hier geht einfach zu viel vor sich. Du weißt ja, wie das mit Ermittlungen von dieser Größenordnung ist. Die ganzen Informationen. Die ganzen Einzelheiten. Zu viel, um alles zu behalten. Man ertrinkt darin.»
«Aye», sagte er. «Ich erinnere mich.»
«War es das erste Mal beim Mantel-Fall auch so?»
«Das erste Mal sah es so aus, als würde es nur die eine Verdächtige geben. Von Anfang an.»
«Aber du hast nie geglaubt, dass es Jeanie Long war.»
«Sie hätte es sein können. Es kam mir nur unwahrscheinlich vor.»
«Wieso?»
«Das klingt blöd», sagte er. «Abgedroschen. Aber sie wirkte einfach nicht wie der Typ dafür.»
«Wer dann? Du musst doch einen Verdacht gehabt haben.»
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und reckte sich. «Nein», sagte er. «Keinen ernsthaften. Ich habe nur nicht geglaubt, dass Jeanie es war.»
«Könnte es Caroline Fletcher gewesen sein?»
«Völlig ausgeschlossen. Sie hat ein paar Regeln gebrochen, überhastet gehandelt. Und sie war völlig verrückt nach Mantel. Aber eine Mörderin ist sie nicht.»
«Fletcher meint, dass Emma Bennett was damit zu tun haben könnte.»
«Wirklich?» Er sah überrascht aus, beinahe entgeistert. «Das hat sie damals nie erwähnt. Ich habe Emma zwar nicht befragt, aber es ist doch ziemlich unwahrscheinlich. Sie wirkt immer noch so zaghaft und schüchtern. Damals war sie noch ein junges Mädchen. Caroline muss sich irren.»
«Du denkst von jedem nur das Beste, was, Dan?»
Er stand unvermittelt auf und trat ein Stück weg, wollte, wie es schien, ein bisschen auf Abstand gehen. «Ich nehme mal an, du hättest gern einen Kaffee.»
«Ach, Danny, das wäre schrecklich nett. Und wenn du die Schokoladenkekse wieder ausgraben könntest … Das Hotel, wo wir untergebracht sind … die Größe der Portionen da, man könnte meinen, sie beköstigen Kleinkinder.»
Sie sah ihm hinterher, wie er in die kleine, unaufgeräumte Kammer mit dem Tablett und dem Wasserkocher ging. Die Tür fiel hinter ihm zu. Vera zog die Schublade auf, in die er den Stapel Papiere gestopft hatte, als sie aufgetaucht war. Unter einem Haufen Rechnungen lag ein Fotoalbum mit festem Einband und Ringbindung. Sie hob es auf den Schreibtisch und blätterte die Seiten um. Es war eine Dokumentation der Ermittlungen im Mantel-Fall. Grobkörnige Zeitungsartikel, die ausgeschnitten und eingeklebt worden waren. Über jedem Artikel stand mit schwarzem Kugelschreiber der Name der jeweiligen Zeitung und das Erscheinungsdatum. Es waren überregionale und regionale Zeitungen und manche vom selben Datum. Waren die Artikel zu groß, so waren sie nur mit dem oberen Teil eingeklebt und gewissenhaft gefaltet. Sie waren oft angeschaut worden, an manchen Stellen war der Falz schon ganz brüchig. Dann gab es noch verblasste Kopien des forensischen und des gerichtsmedizinischen Berichts. Ein Foto von Abigail, wie sie am Tatort lag, und eins von ihr im Leichenschauhaus auf dem Edelstahltisch.
Auf der letzten Seite klebte ein Foto des Mädchens, als es noch lebte. Ein Atelierbild, ein Porträt, sie saß seitlich zur Kamera, hatte ihr das Gesicht zugedreht. Abigail lächelte verführerisch. Im Hintergrund sah man einen lose drapierten Vorhang, das Licht war möglicherweise gefiltert worden, jedenfalls wirkte das Bild wie mit Weichzeichner gemacht. Abigail trug Make-up, das professionell aussah, und ihre Haare waren hochgesteckt. Hals und Schultern waren bloß bis auf eine Perlenkette. Sie sah viel älter aus als fünfzehn, und das Bild konnte nicht lange vor ihrem Tod aufgenommen worden sein. Vielleicht war es ja ein Geburtstagsgeschenk von ihrem Vater, dachte Vera. Das wäre genau sein Stil. Genau seine Art. Aber wie war Dan Greenwood dann daran gekommen?
Sie hörte, wie sich der Wasserkocher in der Kammer mit einem Klicken ausschaltete und Teelöffel gegen Becherwände klapperten. Sie faltete die Zeitungsausschnitte wieder zusammen und schloss das Album. Als Dan hereinkam, das Tablett in der Hand, war der Schreibtisch wieder leer. Sie saß zurückgelehnt in ihrem Sessel, als hätte sie ein bisschen gedöst.