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DAS LICHT DER NEUEN SONNE wurde von der transparenten Hülle des Bootes reflektiert, grell und blendend. Louise musterte die Gesichter von Mark, Seilspinnerin und Morrow, als sie den neuen Kosmos betrachteten. Das Beiboot drehte sich langsam um seine Achse, und die hellen jungen Sterne dieses neuen Universums wirbelten um sie herum und tauchten ihre Profile in intensives weißes Licht.

Als neue Sonne hatte die Besatzung der Northern ein besonderes SMO ausgesucht: Ein Sehr Massives Objekt, einen Stern mit tausend Sonnenmassen – einen typischen Vertreter dieses Alternativ-Kosmos. Dieser Stern driftete durch den galaktischen Halo, außerhalb der Hauptscheibe der Galaxis. Große Schalen aus Materie – die der Stern in einem jüngeren Stadium emittiert hatte – umgaben die Neue Sonne und strebten mit annähernder Lichtgeschwindigkeit von ihr weg.

Die Great Northern selbst hing ein paar Kilometer vom Boot entfernt im All. Im grellen, farblosen Licht der Neuen Sonne konnte Louise die massigen Konturen der Lebenskuppel ausmachen, an deren Basis noch immer die schlanke, dunkle Form des Nightfighters angedockt hatte – und dort, nach wie vor gut sichtbar, war die Narbe in der Hülle, die durch die Kollision mit dem Abschnitt des kosmischen Strings verursacht worden war.

Das angeschlagene Schiff umkreiste die neue Sonne so langsam, wie die Eiskometen einst um Sol selbst gekreist waren – in einem so großen Orbit, daß jedes ›Jahr‹ mehr als einer Million terrestrischer Jahre entsprochen hätte. Das Schiff stand so weit entfernt, daß die Helligkeit des SMO aufgrund der Entfernung in etwa auf die Intensität der alten Sonne reduziert wurde. Doch selbst unter diesen Umständen, dachte Louise, war es ausgeschlossen, daß das SMO mit einem moderaten G-Typ-Stern wie Sol verwechselt werden konnte. Das SMO hatte nur den zehnfachen Durchmesser der alten Sonne, so daß die Masse des Sterns aus dieser riesigen Entfernung auf einen bloßen Lichtpunkt reduziert wurde – aber seine Photosphäre war hundertmal so heiß wie die von Sol. Das SMO war ein greller Punkt, der in der Dunkelheit hing; wenn sie es zu lange betrachtete, hinterließ der Lichtpunkt Spuren auf ihrer verschlissenen Netzhaut.

Äußerlich hatte sich die Lebenskuppel der Northern im Verlauf ihrer langen und unglaublichen Dienstzeit kaum verändert: Die Lichter des Schiffs glühten trotzig gegen diesen neuen grellen Kosmos an, und der Wald war ein erdgrüner Tupfen, der im gefilterten Licht der Neuen Sonne aufblühte. Aber im Innern hatte sich die Northern sehr gewandelt. In dem seit dem Durchfliegen des Rings verstrichenen Jahr, war die Kuppel zu einer Werkstatt umfunktioniert worden, einer Fabrik für die Herstellung exotischer Materie und ferngelenkter Scout-Schiffe.

Morrow stand neben Louise und blinzelte ins Licht der neuen Sonne. Seine gekrümmte Hand beschattete die Augen, wobei sich die Schatten der Finger konturiert auf seinem Gesicht abzeichneten. Er runzelte die Stirn, als er Louises Blick auffing. »Die Dinge sind hier sicherlich anders«, sagte er leise.

Sie lächelte. »Wenn wir jemals eine Welt hier aufbauen, wird sie keine Sonne am Himmel haben. Statt dessen werden die Tage von dieser einen Punktquelle definiert werden, die wie eine immerwährende Supernova strahlt. Die Schatten werden lang und tief sein… und nachts wird der Himmel leuchten. Es wird ein sehr fremdartiger Anblick sein.«

Er sah sie durchdringend an. »Nun, ich schätze, daß es vor allem für diejenigen von euch fremdartig sein wird, die sich noch an die Erde erinnern«, sagte er. »Aber, offen gesagt, davon dürfte es wohl nicht mehr allzu viele geben…«

Die Sonne verschwand aufgrund der Rotation des Bootes außer Sicht und sank unter den engen Horizont des Raumers. Und – langsam, majestätisch – erhoben sich die Lichter der neuen Galaxis über sie.

Bei dieser Galaxis handelte es sich um einen flachen Ellipsoiden, der im Vergleich zu den großen Galaxien auf der anderen Seite des Rings jedoch nur ein Zwerg gewesen wäre: Mit einer Masse von einer Milliarde Sonnen wies das System gerade ein Prozent der Masse der Milchstraße oder der Andromedagalaxis auf und war nicht einmal viel größer als die alten Magellanschen Wolken, die ›Juniorparther‹ der Milchstraße. Und – weil die durchschnittliche Größe der Sterne die der Milchstraße um das Hundertfache übertraf – existierten in dieser Galaxis nur zehn Millionen Sterne, verglichen mit den hundert Milliarden der Milchstraße… Aber jeder einzelne dieser Sterne war ein gleißendes weißes SMO, die diese Galaxis in einen Teppich aus extrem hellen Lichtpunkten verwandelten. Louise kam es so vor, als ob sie ein Feld aus zehn Millionen Edelsteinen betrachten würde, die auf einem Samtkissen ausgebreitet waren.

Dieses Universum war mit kleinen Spielzeuggalaxien übersät; so weit das Auge reichte, füllten sie den Raum in allen Richtungen in einer zufälligen, aber einheitlichen Konfiguration. Dieser Kosmos war jung – zu jung, als daß die gigantischen, langsamen Zeitabläufe schon die großen Strukturen von galaktischen Clustern, Superclustern, Barrieren und Leerräumen hätten entstehen lassen können, die eines Tages den Weltraum dominieren würden.

Mit Unbehagen schaute Morrow zu der dräuenden Kontur der Galaxis auf. Unbewußt legte er beide Hände auf den Bauch.

»Morrow, geht es Ihnen gut?«

»Ja, es geht mir gut«, bestätigte er Louise wenig glaubhaft. »Ich scheine nur etwas empfindlich auf die Zentrifugalkraft zu reagieren.«

Louise lächelte und tätschelte seine Hände. »Es wird wohl eher die Corioliskraft sein – die Tangentialkraft. Aber lassen Sie sich durch die Rotation des Bootes nicht beunruhigen«, empfahl sie ihm. Sie überlegte. »Vielmehr sollten Sie sich über Ihre Raumkrankheit freuen.«

Morrow hob seine rasierten Augenbrauen. »Wirklich?«

»Diese Empfindung sagt Ihnen nämlich, daß Sie existieren, Morrow. Eingebettet in dieses neue Universum…«

Louise erklärte ihm, daß die Gesetze der Physik Ausdruck fundamentaler Symmetrien waren. Und Symmetrien zwischen Bezugsrahmen gehörten zu den stärksten Symmetrien überhaupt.

Morrow ließ Skepsis erkennen. »Und was hat das jetzt mit meiner Raumkrankheit zu tun?«

»Nun, schauen Sie: Hier existiert eine bestimmte Art der Symmetrie. Das Boot rotiert, im Mittelpunkt eines stationären Universums. Also unterliegen Sie der Zentrifugal- und Corioliskraft – zwei sich überlagernden Kräften. Es sind diese Kräfte, die Ihr Unwohlsein verursachen. Aber was ist nun mit der Symmetrie? Versuchen Sie einmal ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, daß das Boot stationär im Zentrum eines rotierenden Universums stünde.« Sie wies mit den Händen auf die sich über ihnen drehende Galaxis. »Wie würden Sie den Unterschied definieren? Die Sterne, die sich um das Boot herumbewegen, sähen nämlich alle gleich aus.«

»Und wir würden auch dem gleichen Drehmoment unterliegen?«

»Ja, genau. Sie würden sich genauso schwindlig fühlen wie jetzt auch, Morrow.«

»Aber wodurch würden diese Kräfte denn verursacht werden?«

Sie lächelte. »Das ist eben der Punkt. Sie würden durch den Inertialzug des rotierenden Universums verursacht: ein Zug, der durch den großen Strom von Sternen und Galaxien ausgeübt wird, der Sie umfließt.

Ihr Schwindelgefühl muß Sie also nicht beunruhigen oder Ihnen gar peinlich sein. Es ist lediglich das Gefühl Ihres neuen Universums, das mit den Fingern des Inertialzuges an Ihnen zieht.«

Er rang sich ein Lächeln ab und fuhr mit der Hand über seine schweißbedeckte Glatze. »Ja, danke für diese Belehrung«, meinte er. »Aber irgendwie fühle ich mich trotzdem nicht viel besser.«

Seilspinnerin und Mark saßen auf den zwei Sitzen hinter Louise und Morrow. Jetzt beugte Mark sich nach vorne. »Eigentlich sollte es Ihnen aber jetzt besser gehen«, bemerkte er. »Die Tatsache, daß die allgemeine Relativitätstheorie auch hier Gültigkeit hat – wie unserem Kenntnisstand zufolge auch alle anderen uns bekannten Naturgesetze –, ist wohl der Grund, weshalb wir überhaupt noch am Leben sind.«

Seilspinnerin schnaubte; das Licht der SMO wurde von der Pfeilspitze reflektiert, die noch immer auf ihrer Brust hing. »Ja, vielleicht. Aber wenn dieses Universum dem unseren so verdammt ähnlich ist, begreife ich nicht, warum es dann so anders sein sollte. Wenn ihr wißt, was ich meine.«

Mark spreizte die Hände, legte den Kopf in den Nacken und schaute zu der Zwerg-Galaxis hinauf. »Der einzige Unterschied, Seilspinnerin, ist folgender Aspekt: Es ist alles eine Frage des Wann.«

Seilspinnerin runzelte die Stirn. »Was meinst du mit ›wann‹?« Hinter der Brille wirkte Seilspinnerins kleines, rundes Gesicht ruhig und lernbegierig, aber Louise bemerkte, daß sie permanent an ihren Händen zupfte, die sich wie kleine Tiere in ihrem Schoß krümmten. Seilspinnerin war zu lange in der Pilotenkanzel dieses Nightfighters gewesen, dachte Louise. Sie hatte zu viel zu schnell gesehen…

Seit sie aus dem Käfig befreit worden war, hatte Seilspinnerin zumindest einen gesunden Eindruck gemacht, und Mark versicherte Louise, daß sie ihre geistige Gesundheit bewahrt hatte. Selbst ihre Illusion des Kontaktes mit Michael Poole – eine Illusion, die sie gleich nach Verlassen des Rings ablegte – schien irgendeine unergründliche reale Grundlage gehabt zu haben, sagte Mark.

Schön. Aber dennoch spürte Louise, daß Seilspinnerin sich noch immer nicht ganz von dieser Tortur erholt hatte. Sie war noch immer nicht ganz beisammen. Es würde lange dauern – Jahrzehnte vielleicht, bis sie den posttraumatischen Streß bewältigt hatte. Nun, dazu war Louise entschlossen, Seilspinnerin würde die Zeit bekommen, die sie brauchte.

»Seilspinnerin«, sagte Mark, »dieses Universum entspricht genau dem unseren – mit dem einen Unterschied, daß es etwa zwanzig Milliarden Jahre jünger ist.

Dies ist ein ›Baby-Universum‹. Sein Urknall liegt noch nicht einmal eine Milliarde Jahre zurück. Und es ist kleiner – die Raumzeit konnte sich noch nicht so weit entwickeln wie in unserem alten Universum, so daß es nur etwa ein Prozent von dessen Volumen hat. Und die Sterne…«

»Ja?«

»Seilspinnerin, das sind die ersten Sterne, die überhaupt hier leuchten. Nicht einer der Sterne, die wir dort draußen sehen, ist älter als eine Million Jahre.«

Durch die nach dem Urknall in der Singularität erfolgte Nukleosynthese waren Wolken aus Wasserstoff und Helium entstanden, die nur wenige Verunreinigungen durch schwerere Elemente aufwiesen. Das neue Universum war dunkel gewesen, nur durch das verhallende Echo der Strahlung erhellt, die von der Singularität generiert worden war. Dann hatten sich die Gaswolken zu protogalaktischen Klumpen mit einer Milliarde Sonnenmassen verdichtet. Thermische Instabilitäten hatten einen weiteren Kollaps der Proto-Galaxien bewirkt, zu Knoten mit hundert Sonnenmassen oder mehr.

Bald waren die ersten dieser ruhig brennenden Sterne flackernd zum Leben erwacht: Gleißende Monster, manche mit einer Million Sonnenmassen.

Langsam hatte sich das Universum mit Licht gefüllt.

»Die Art, in der diese Sterne geboren werden, ist einmalig«, sagte Mark, »denn sie sind die ersten. Es gab vorher keine Sterne. Also waren die Proto-Galaxien viel ruhiger – die Gaswolken wurden nämlich nicht von der Hitze und Gravitation früherer Sternengenerationen verwirbelt. Und das Gas war frei von schweren Elementen. Schwere Elemente üben einen Kühleffekt auf junge Sterne aus und begrenzen dadurch die Größe der entstehenden Sterne. Aus diesem Grund sind diese ›Babies‹ auch so riesig.

Sie stellen das dar, was wir als Sterne der Population III bezeichnen, Seilspinnerin. Oder als SMO – ›Sehr Massive Objekte‹.«

»Wenn sie so massiv sind«, erwiderte Seilspinnerin nachdenklich, »nehme ich an, daß sie auch eine kürzere Lebensdauer haben als Sterne wie Sol.«

Louise sah sie wohlwollend an. »Gut, Seilspinnerin. Du hast recht. Die SMO verbrennen ihren Wasserstoffvorrat schnell. Jeder dieser Sterne wird höchstens ein paar Millionen Jahre in der Hauptreihe verbleiben – maximal zwei oder drei. Die Sonne indessen hätte ohne die Intervention der Photino-Vögel noch Dutzende Milliarden Jahre überleben müssen.«

»Was dann?« fragte Seilspinnerin. »Was werden wir tun, wenn die Neue Sonne auch erlischt?«

Morrow lächelte. »Dann werden wir wohl weiterziehen: Zu einem anderen Stern, wieder einem anderen, und so fort… Wir haben hier genügend Zeit, um uns etwas einfallen zu lassen, Seilspinnerin.«

Nun ging die Neue Sonne wieder auf und erhob sich über die Kante des Bootes. Die vier wandten sich instinktiv dem Licht zu, dessen bleiches Weiß die Altersund Erschöpfungsfalten in ihren Gesichtern abmilderte.

»Es sieht so aus«, sagte Mark, »als ob sich der von uns ausgesuchte Stern – die Neue Sonne – schon weit in seinem zweiten Lebensabschnitt befände. Er hat vielleicht noch eine Lebenserwartung von einer dreiviertel Million Jahren.«

Seilspinnerin runzelte die Stirn. »Das ist doch Schwachsinn. Warum suchen wir uns dann nicht einen jungen Stern aus und nehmen Kurs auf ihn, solange wir noch können? Es ist nämlich möglich, daß wir uns nicht mehr bewegen können, wenn die Neue Sonne stirbt.«

»Nein«, widersprach Mark geduldig. »Seilspinnerin, wir brauchen einen älteren Stern.«

Der Neue Sonne genannte Stern näherte sich bereits dem Ende des zweiten Stadiums seiner Existenz. Im ersten war Wasserstoff zu Helium fusioniert. Jetzt fusionierte das Helium seinerseits, und ein Regen komplexerer Elemente hatte einen neuen inneren Kern entstehen lassen: Hauptsächlich aus Sauerstoff, aber auch mit Neon, Silizium, Magnesium und anderen Elementen.

Und später, in der dritten Phase, wenn die Sauerstoffusion begann, würde der Stern sterben… wie, war indessen noch völlig unklar.

»Entzückend«, meinte Seilspinnerin. »Und wir werden mit ihm sterben.«

»Nein«, erwiderte Mark ernst. »Im Gegenteil, Seilspinnerin, wir sterben ohne ihn. Begreif doch, die Neue Sonne ist ein Sauerstoffreservoir…«

Morrow zeigte aufgeregt mit dem Finger. »Schaut. Schaut. Dort ist das Wurmloch… Ich glaube, es ist fast soweit.«

Louise drehte sich auf ihrem Sitz um.

Eine neue Entität tauchte nun über dem Horizont des rotierenden Bootes auf: Die vertrauten Konturen eines Wurmloch-Interfaces. Dieses Interface hatte eine Höhe von nur hundert Metern – viel kleiner als das kilometerhohe Ungetüm, das von der Northern durch eine fremde Raumzeit geschleppt worden war –, aber, genauso wie seine größeren Verwandten aus der Vergangenheit, verfügte es auch über den klassischen Tetraeder-Rahmen, das schimmernde elektrostatische Blau der Verstrebungen aus exotischer Materie und die in herbstlichem Gold glitzernden Flanken. Ein Dutzend Robot-Drohnen patrouillierte um das Interface und wartete geduldig.

Louise spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten; sie wischte sie unwirsch weg. Wir errichten schon Dinge hier, dachte sie. Wir rekonstruieren bereits dieses Universum.

»Wenn es hier Planeten gäbe«, sagte Mark zu Seilspinnerin, »könnten wir auf einem landen und versuchen, ihn zu terraformen. Aber es gibt keine Planeten, auf denen wir landen könnten. Nirgendwo. Dies ist ein sehr junges Universum. Es sind hier, von den Kernen der Protosterne abgesehen, bestenfalls Spuren schwerer Elemente vorhanden. Es gibt weder Monde noch Kometen oder Asteroiden… Wir haben keine Rohstoffe, außer der Hülle der Northern – und dem, was wir sonst noch mitgebracht haben. Wir können nicht einmal unsere Atmosphäre wiederaufbereiten.«

Morrow nickte. »Also«, folgerte er, »werden wir den Stern ausbeuten.«

Die andere Endstelle dieses Wurmlochs war im Korpus der Neuen Sonne versenkt worden. Lieserl hatte das Interface eskortiert – genauso, wie sie einst in das Herz von Sol vorgedrungen war.


Bald würde angereichertes Gas aus dem Herzen des neuen Sterns in den Raum strömen – und würde hier, weit entfernt von der heißen Neuen Sonne, abgezapft werden können.

Die Robotschiffe verfügten über Öffnungen mit elektromagnetischen Feldern, die Sternenstaub in einem Volumen von vielen Millionen Kubikkilometern ansaugen konnten. Wenn das Wurmloch in Betrieb genommen wurde, würden die Schiffe die paar Körner der wertvollen schweren Elemente herausfiltern.

»Atmosphärische Gase haben erste Priorität«, sagte Mark. »Wir haben nach der Kollision mit dem String einen Großteil unserer Luftreserven verloren. Noch so ein Vorkommnis, und wir wären am Ende.«

»Enthält der Stern denn all die Gase, die wir benötigen?«

»Nun, er enthält reichlich Sauerstoff, Seilspinnerin«, erwiderte Louise. »Aber das ist nicht genug. Eine reine Sauerstoff-Atmosphäre ist nämlich nicht besonders stabil – sie ist feuergefährlich. Deshalb brauchen wir ein neutrales Puffergas, um das Druckniveau von mehreren hundert Millibar zu erreichen, das zum Überleben erforderlich ist.«

»Wie zum Beispiel Stickstoff«, wußte Seilspinnerin.

»Ja. Aber die Stickstoffvorkommen der Neuen Sonne sind nicht sehr groß. Wir könnten uns jedoch mit Neon behelfen…«

»Außerdem können wir unsere übrigen Speicher auffüllen. Wasser und Nahrungsmittel aus dem Sauerstoff synthetisieren.«

»Wir haben auch noch andere Möglichkeiten, Seilspinnerin«, ergänzte Mark. »Auf lange Sicht können wir auch schwerere Elemente gewinnen: Magnesium, Silizium, Kohlenstoff – vielleicht sogar Eisen. Sie sind in der Neuen Sonne zwar nur als Spurenelemente vorhanden, aber sie sind da. Wir könnten sogar eine ganze Flotte von Northerns bauen, wenn wir die Geduld dazu aufbrächten. Ja, wir könnten sogar Steine herstellen.«

Seilspinnerin betrachtete die Neue Sonne, und die punktförmige Lichtquelle glitzerte in ihren Augen und ließ sie sehr jung aussehen, dachte Louise. »Bei dem Gedanken, daß wir allein hier sind, in diesem Universum«, sagte Seilspinnerin, »…mit Ausnahme vielleicht der Xeelee – läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Sterne wie dieser haben einst auch in unserem Universum geleuchtet – aber sie sind alle ausgelöscht und vernichtet worden, lange bevor die Menschheit das Bewußtsein erlangte.«

»Wir mögen hier vielleicht Millionen Jahre überleben. Aber irgendwann werden wir dann auch verschwunden sein. Die Neue Sonne und all diese anderen Sterne werden sich selbst zerstören. Schließlich wird sich eine neue Generation von Sternen in der komplexer gewordenen Galaxis herausbilden – Sterne wie Sol. Und dann wird hier vermutlich auch Leben entstehen…

Aber erst Milliarden Jahre nach unserem Abgang.«

Mit großen Augen und einem sorgenvollen Gesichtsausdruck, der ihre psychische Labilität verriet, drehte Seilspinnerin sich zu Louise um. Sie zupfte an den Fingern und spielte am Pfeilspitzen-Anhänger auf der Brust herum. »Louise, wir könnten nichts erschaffen, das eine so lange Zeit überdauert. Kein wie auch immer geartetes Monument oder Aufzeichnung könnte so lange existieren. Wir werden in Vergessenheit geraten. Niemand wird jemals von unserer Existenz erfahren.«

Louise drehte sich auf ihrem Sitz um, ergriff Seilspinnerins Hände und beruhigte sie. Erneut spürte sie ein intensives Gefühl der Verantwortung für Seilspinnerins instabilen Zustand. »Das ist nicht wahr, Seilspinnerin«, widersprach sie sanft. »Wir werden auch dann noch existieren. Diese SMO legen Spuren im Mikrowellen-Hintergrund – Energiespitzen, welche die flachen Strahlungskurven überlagern. Vergleichbare Spuren gab es auch im Mikrowellen-Spektrum unseres Heimatuniversums – daher haben wir nämlich auch die Kenntnis von der Existenz unserer eigenen urzeitlichen SMO. Und es wird noch andere Spuren geben, Relikte dieser Zeit. Diese riesigen Protosterne werden die Substanz der hiesigen jungen Galaxien mit schweren Elementen anreichern. Denn ohne die schweren Elemente hätten sich Sterne wie die alte Sonne nie bilden können… und wir werden ein Teil dieser Anreicherung sein, Seilspinnerin, winzige Spuren, Atome, die in einem anderen Universum entstanden sind.«

Seilspinnerin runzelte die Stirn. »Ein Echo im Mikrowellen-Hintergrund? Sollte das vielleicht unser letztes Vermächtnis sein?«

»Es könnte vielleicht ausreichen, um die Intelligenzen der Zukunft auf unsere Spur zu bringen. Und außerdem haben wir möglicherweise ohnehin noch eine Milliarde Jahre vor uns, Seilspinnerin. Zeit genug, um sich etwas einfallen zu lassen.« Sie tätschelte Seilspinnerins Hände. »Es würde zwar lange dauern, aber wir könnten uns einen Planeten erschaffen, hier draußen am Rande der Gravitationsquelle der Neuen Sonne.« Sie lächelte. Vielleicht könnten sie sogar einen Ozean schaffen, der so groß ist, daß die Great Britain wieder in See stechen kann. Das wäre etwas für den alten Isambard gewesen! Und…

»Nein«, sagte Morrow entschieden.

Überrascht wandte sich Louise ihm zu. Sein hagerer und schmaler Kopf war zuversichtlich dem Licht der Neuen Sonne zugewandt.

»Was haben Sie gesagt?« fragte Louise.

Er drehte sich zu ihr um. »Planeten sind ineffizient, Louise. Oh, sie sind wohl bequeme Plattformen, wenn sie bereits existieren. Aber – einen Planeten erschaffen? Warum sollte man die ganze mühevoll gewonnene Materie denn unter der bewohnbaren Oberfläche vergraben?«

Louise ertappte sich dabei, wie sie die Stirn runzelte; sie wußte, daß Mark sie auf eine enervierende Art angrinste. »Aber was wäre dann die Alternative?«

»Wir können Strukturen im Raum konstruieren«, entgegnete Morrow. »Ringe, Hohlkugeln – der Punkt ist, den verfügbaren Lebensraum für eine gegebene Population zu maximieren – ihn so weit wie möglich auszudehnen. Louise, ein sphärischer Planet bietet nur ein Minimum an Fläche für eine gegebene Anzahl von Menschen.«

Louise musterte Morrow neugierig. Die Raumkrankheit stand ihm noch immer in seinem blassen, schmalen Gesicht geschrieben, aber dennoch sprach er mit einer Energie und Klarheit, die sie nie für möglich gehalten hätte, als sie ihm kurz nach seinem Abstieg von den Decks zum ersten Mal begegnet war. War es möglich, daß die Jahrhunderte der körperlichen und seelischen Unterdrückung, die er dort erlitten hatte, nun langsam ihre Wirkung verloren?

Mark lächelte ihr zu. »Du solltest dich lieber damit auseinandersetzen, Louise. Du und ich, wir sind auf Planeten aufgewachsen und denken daher in den Kategorien, das Verlorene wieder aufzubauen. Wir sollten besser zur Seite treten und die Zukunft diesen brillanten jungen Leuten überlassen.«

Sie erwiderte sein Grinsen. »Gut«, flüsterte sie, »ich gehe mit dir konform. Aber – Morrow als ein brillanter junger Mann?«

»Vielleicht werden wir auch nur Schiffe bauen«, spekulierte Seilspinnerin begeistert. »Ganze Flotten. Wir könnten einfach nur fliegen; denn wer muß schon irgendwo landen? Wir könnten dort draußen expandieren. Vielleicht sind die Xeelee auch schon hier – schließlich sind wir ja durch ihr Tor gekommen. Wir könnten uns auf die Suche nach ihnen machen…«

Mark kratzte sich am Kinn. »Das ist eine gute Agenda, Seilspinnerin. Weißt du, Garry Uvarov wäre sicher stolz auf dich.«

Sie funkelte ihn an. Sie entzog Louise ihre Hände, und für einen Moment – mit dem roten Streifen im Gesicht und der Brille, in der sich das Licht der Neuen Sonne spiegelte – erinnerte Seilspinnerin Louise wieder an das wilde kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war.

»Vielleicht wäre er das«, erwiderte sie. »Aber was soll’s? Ich bin schließlich kein Produkt von Garry Uvarov. Uvarov war doch ein irrer Despot.«

Louise hob die Schultern. »Vielleicht war er das zuletzt wirklich – und kapriziös. Aber er war auch weitsichtig und ein ›Bilderstürmer‹. Er hat in jeder Situation dafür gesorgt, daß wir uns der Wahrheit stellten, egal, wie unbequem sie auch war…«

Uvarov hatte es nicht verdient, blind und einsam in einer entfernten, toten Zukunft zu sterben.

Vielleicht waren auch Uvarovs Motive bezüglich seines großen eugenischen Experiments richtig gewesen. Nicht jedoch seine Methoden… Aber vielleicht war eine natürliche, technologieunabhängige Unsterblichkeit ein wertes Ziel für die Spezies.

Louise wußte, daß sie und ihre Besatzung sich intensiv bemüht hatten, im Zuge des Untergangs des baryonischen Universums wenigstens die Essenz der Menschlichkeit zu bewahren. Sie hatten nämlich nicht nur Aufzeichnungen der Menschheit oder menschliche Virtuellprojektionen durch den Ring geschickt: Sie hatten Menschen mitgebracht, mit all ihren Fehlern und Ambivalenzen und Schwächen; und Ausrüstung. Und jetzt, da sie es geschafft hatten, war es vielleicht an der Zeit, das menschliche Potential voll zu realisieren: Die Überwindung der Grenzen des Körpers und des Geistes, die letztlich die Auslöschung der Menschheit in dem alten, aufgegebenen Universum verursacht hatten.

Sie fragte sich, ob Seilspinnerins Nachkommen in einigen Generationen wirklich schon dieses neue Universum in ihren glitzernden Schiffen durchfliegen würden. Wenn sie dann tatsächlich auf die Xeelee trafen, würde es eine Begegnung unter Gleichrangigen sein; vielleicht waren die neuen Menschen dann stark, unsterblich – und vernünftig.

»Es geht los!« sagte Morrow mit hoher und angespannter Stimme. Er deutete hinaus, wobei der Ärmel nach hinten rutschte. »Schaut euch das an.«

In einer plötzlichen Eruption aus Licht wallte Gas aus den vier Flanken des Interfaces. Das Gas hatte sich beim Austritt noch im Fusionsprozeß befunden und expandierte nun schnell zu einer sich abkühlenden Wolke. Louise konnte die Tetraederstruktur des Interfaces selbst im lodernden Herzen dieser lebendigen Skulptur aus Gas erkennen.

Diffuses Licht durchflutete das Beiboot. Es war, als ob ein neuer, winziger Stern gezündet worden wäre, hier am Rande der Gravitationsquelle der Neuen Sonne. Die Robotschiffe öffneten ihre elektromagnetischen Stutzen und sammelten gemächlich die glühenden, expandierenden Wolken ein.

»Hol mich der Teufel«, keuchte Morrow. »Es ist schön, wie eine Blume.«

»Mehr noch als das«, meinte Mark mit einem Grinsen. »Es ist schön, weil es, verdammt noch mal, konstruiert wurde.« Er drehte sich zu Louise um, seine blauen Augen strahlten, und sein Gesicht wirkte jugendlich und lebendig.

»Louise«, sagte er, »ich glaube, daß wir es schaffen können.«

Louise griff nach der Steuerung des Bootes. Die ersten Ladungen der Atmosphärengase würden bald ankommen. Und es mußten Unterkünfte errichtet werden. Es war an der Zeit, zur Northern zurückzukehren und wieder an die Arbeit zu gehen.

Das Leben würde weitergehen, dachte sie: So kompliziert und schwer und wertvoll wie immer.


Erneut breitete Lieserl die Arme aus und jagte durch das Innere eines Sterns. Aber nun war ihr Spielplatz nicht mehr ein bloßer gelber Zwerg vom G-Typ wie die Sonne: Dies war die Neue Sonne – ein Superriese, der für sie vom Anbeginn der Zeit aufbewahrt worden war, mit einem Durchmesser von sechzehn Millionen Kilometern.

Beim Teufel und seiner Hölle. Ich hatte schon ganz vergessen, wie wundervoll das ist – wie einschränkend und eng ein menschlicher Körper ist…

Dafür bin ich geboren, dachte sie.

Sie bewegte sich in einer Kurve auf die Photosphäre zu – die Oberfläche des Sterns war eine Wand aus Gas, die den Raum mit einer Temperatur von hunderttausend Grad versengte –, und dann tauchte sie mit einem Freudenschrei in den Kern ein. Bei Sol hatte der Fusionskern nur ein paar Prozent des Sternendurchmessers eingenommen. Hier war der Kern der Stern und erstreckte sich fast bis zur Photosphäre. Das Fusionsfeuer war überall. Überall um sie herum verschmolz Helium zu Sauerstoff, wodurch dem undurchsichtigen Leib des Sterns üppige Quantitäten von Wärmeenergie zugeführt wurden. Als Reaktion hierauf zogen gigantische Konvektionszellen – von denen manche so groß waren, daß ganz Sol in ihnen Platz gehabt hätte – durch das Innere.

Dieser Stern war nicht älter als ein paar Millionen Jahre. Aber sie vermißte bereits – zu ihrem großen Bedauern – eine der interessantesten Phasen seiner Existenz.

Der Stern war als eine Kugel aus fusionierendem Wasserstoff entstanden, mit der zweitausendfachen Masse der Sonne. Dann hatten sich auch Konvektionszellen gebildet, die zu Instabilitäten in dem riesigen Stern führten; er hatte pulsiert und täglich um ganze zehn Prozent seines Durchmessers geschwankt. Die Instabilitäten waren exponentiell gewachsen und hatten schließlich dazu geführt, daß große Materieschichten von der Oberfläche abgestoßen wurden, wie multiple Nova-Explosionen; die Northern war auf ihrem Kurs in den Orbit um die neue Sonne in diese alten Schichten eingedrungen.

In der Zwischenzeit hatte der Kern die Hälfte der Masse des ursprünglichen SMO erreicht – etwa eintausend Sonnenmassen. Und eine Schale aus Wasserstoff entzündete sich um den Kern.

Die Masse von drei Sonnen wurde innerhalb weniger Stunden in Energie umgewandelt – ein Energiebetrag, der Sol eine konstante Brenndauer von zehn Milliarden Jahren beschert hätte. Der durch die Explosion verursachte Wind riß die noch immer fusionierende Hülle weg und legte eine weitere expandierende Schale um einen Rumpfstern aus Helium.

Jetzt, als Lieserl durch den Stern flog, verbrannte das Helium seinerseits zu Sauerstoff, der sich auf dem Kern des Sternes ablagerte. Irgendwann würde sich der Sauerstoff entzünden. Und dann…

Und dann war das Resultat unsicher. Ihre Prozessoren arbeiteten noch immer nur auf der Grundlage von Hypothesen, der Sammlung von Daten und der Entwicklung von Szenarien. Alles hing von den kritischen Werten der Sternenmasse ab. Wenn die Masse niedrig genug war, konnte der Stern noch viele Millionen Jahre überleben, wobei sein Durchmesser langsam oszillierte… und ziemlich leuchtschwach, dachte Lieserl. Aber etwas größer, und der Stern konnte sich in einer Supernova-Explosion selbst zerstören – oder, falls er massiv genug war, zu einem Schwarzen Loch kollabieren.

Lieserl studierte die in ihr Bewußtsein tröpfelnden Datenströme. Sie würde es bald wissen. Sie spürte einen Schauder der Erregung. Wenn der Stern instabil war, würde das Ende binnen einer Million Jahre eintreten. Und dann…

Lieserl?

Die Stimme von Louise Ye Armonk brach in ihre Gedanken ein.

Verdammt. Lieserl hob die Arme über den Kopf und stürzte sich in eine große Konvektionsquelle; die fusionierende Sternenmaterie spielte über ihren virtuellen Körper und wärmte sie bis ins Innerste.

Aber vor Louises Stimme gab es kein Entrinnen, genauso wenig wie sie Kevan Scholes hatte entkommen können.

Komm schon, Lieserl. Ich weiß, daß du mich hören kannst. Denk daran, daß ich deine Datenströme überwache…

Lieserl seufzte. »In Ordnung, Louise. Ja, ich höre dich.«

Lieserl – Louise zögerte ganz untypisch.

»Ich glaube, ich weiß, was du sagen willst, Louise.«

Ja. Jede Wette, daß du das tust, knurrte Louise. Lieserl, wir sind dir dankbar dafür, daß du mit dem Wurmloch-Interface in die Neue Sonne gegangen bist. Und du schickst uns auch eine Menge sehr brauchbarer Daten. Aber…

»Ja, Louise?«

Lieserl, du hast keine Sicherungskopie von dir angelegt.

»Aha.« Lieserl lächelte und schloß die Augen. Der Neutrino-Fluß aus dem Herzen der Sonne fächelte über ihr Gesicht, so zart wie ein Schmetterlingsflügel. »Ich habe mich schon gefragt, wann dir das endlich mal auffallen würde.«

Verdammt, Lieserl, das ist die einzige Kopie von dir dort drinnen!

»Ich weiß. Ist das denn nicht wundervoll?«

Du verstehst nicht. Was, wenn dir etwas zustößt?

Schwer atmend fuhr Louise fort, Lieserl, wir haben noch nie zuvor ein Wurmloch in einem SMO deponiert. Wir wissen nicht, was sich ereignen wird.

»Nein. Nun, vor meiner Zeit hatte auch noch niemand ein Wurmloch in die Sonne versenkt. Die Dinge ändern sich im Grunde nie, stimmt’s?«

Verdammt, Lieserl. Ich will dir doch nur begreiflich machen, daß du sterben könntest.

»Glaubst du vielleicht, ich wüßte das nicht? Siehst du das denn nicht – das ist doch gerade der Punkt.«

Louise antwortete nicht.

»Louise, ich bin sehr alt. Ich habe meinen Heimatstern altern und sterben sehen. Ich danke euch dafür, daß ihr mich aus der Sonne geborgen habt: Ich hätte die Hälfte meines Datenspeichers für diesen Flug durch den Ring gegeben. Aber, Louise, ich glaube nicht, daß ich noch länger ein Mensch sein kann – nicht einmal in Form einer virtuellen Kopie. Und ich will auch keine Welten erschaffen… das überlasse ich Seilspinnerin und Froschfängerin und den anderen Kindern aus dem Wald und von den Decks. Für mich ist das nichts.«

Lieserl, willst du sterben?

»Oh, Louise. Ich bin schon einmal gestorben – oder das glauben wir zumindest, auf dem Neutronenstern-Planeten zusammen mit dem armen Uvarov – und ich habe es nicht einmal gespürt. Das möchte ich nie mehr durchmachen.

Hier will ich bleiben, Louise. Hier, im Innern dieses neuen Sterns.« Sie lächelte. »Dafür bin ich schließlich auch konstruiert worden, wie du weißt.«

Louise schwieg für eine Weile. Dann: Komm heim, Lieserl.

»Louise – liebe Louise – ich bin daheim.«

Lieserl…

Betrübt unterbrach sie die akustische Verbindung mit der Northern. Sie wollte sie später wieder aktivieren, wenn Louise sich an die Vorstellung gewöhnt hatte, daß Lieserl hier war – hier und nirgendwo sonst – und auch hier bleiben würde.

Und bis dahin, stellte sie mit zunehmender Erregung fest, waren die in dem kühlenden Wurmloch installierten Prozessoren auch zu einem Urteil über das Schicksal ihres Sterns, der Neuen Sonne, gelangt.

Sie rief eine Virtuelldarstellung des Sterns auf; sie rotierte als eine grob strukturierte Zwiebelschale vor ihr.

Sie wußte, daß sich bereits Sauerstoff in Taschen durch den Stern fraß und die komplexeren Elemente -Kohlenstoff, Silizium, Neon, Magnesium – ablagerte, die von dem Wurmloch gefördert werden sollten. Mit der Zeit würde sich der Heliumfusions-Kern des Sterns zusammenziehen und einen Mantel aus sich abkühlendem Helium und Asche um ein Zentrum deponieren, das ständig heißer wurde.

Schließlich – vielleicht in einer halben Million Jahren, so extrapolierten die Prozessoren – würde die Fusion von Sauerstoff im Kern einsetzen…

Mit steigender Erregung betrachtete Lieserl das virtuelle Diorama, bereit, ihre Todesursache zu erfahren.

Wenn die Sauerstoff-Fusion im Kern begann, würde der Stern augenblicklich instabil werden.

Der Mantel würde explodieren. Ein asymmetrischer Kollaps des rotierenden Sterns würde eintreten.

Dann würde der Kern in einer heftigen Implosion vergehen.

Die gravitationale Bindungsenergie des riesigen Sterns würde in eine Flut aus Neutrinos umgewandelt werden, die durch den kollabierenden Kern wogte. Einige Neutrinos würden von der Implosion des Kerns eingefangen werden. Andere würden in den letzten paar Millisekunden, bevor das SMO endgültig zu einem Schwarzen Loch kollabierte, als ein immenser Neutrino-Puls entweichen…

Sie erinnerte sich an die ersten Momente ihres Lebens: Wie ihre Mutter sie in den Händen gehalten und ein blendendes Licht ihr ins Gesicht geschienen hatte. Die Sonne, Lieserl. Die Sonne!

In den letzten Momenten ihres langen Lebens würde ein Neutrino-Feuerball über die Knochen ihres Gesichts spielen.

Lieserl lächelte. Es würde glorreich sein.