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DER TORUS AUS ZERFASERTEN, fragmentierten String-Schleifen war verschwunden. Jetzt kreuzten kosmische Strings durch den Leerraum: Große, wilde, triumphierende Wirbel, die von dem Projektor der Himmelskuppel in einem elektrostatischen Falschfarben-Blau abgebildet wurden.

Diese eine gewaltige, komplexe und multiple String-Schleife füllte die Höhle am Grund der Gravitationsquelle aus. Es war – eine erstaunliche und fast unerträgliche Tatsache – ein einziges Objekt, ein Artefakt, mit einem Durchmesser von mindestens zehn Millionen Lichtjahren.

Louise Ye Armonk schwebte – zusammen mit Mark, Lieserl und Morrow – auf Null-Gravo-Gleitern unter dem Scheitelpunkt der Lebenskuppel. Unterhalb von Louise waren die – von ihr entfernt wahrgenommenen – Schichten des Waldes mit den vielfältigen und tröstenden Lauten angefüllt: Den Schreien von Vögeln und Affen und den leisen Rülpsern von Fröschen, Geräusche des prallen Lebens, das sich selbst hier am Ende der Zeit noch durchsetzte…

Hinter der transparenten Kuppel zogen sich Strings durch das Universum.

Hier, hunderttausend Jahre in der Vergangenheit, stürzten die sich auflösenden und blauverschobenen Galaxien noch immer in die tiefste Gravitationsquelle des Universums. Und die Northern hatte den Flug durch die Raumzeit-Defekte der String-Schleife nur absolviert, um sich aufs neue in einem sternenverkleideten Leerraum wiederzufinden, am Boden dieser Universalen Quelle.

Damit endeten die Gemeinsamkeiten aber auch schon, überlegte Louise. Die Wände des Leerraums waren viel glatter als in der Zukunft und enthielten viel weniger von den zerklüfteten Löchern, die ihr zuvor aufgefallen waren… Die Wände wirkten hier fast künstlich glatt, dachte sie unbehaglich.

Und da war natürlich auch der Ring, unversehrt und majestätisch.

Der Ring war ein Kranz, der aus einem eine Milliarde Lichtjahre langen String geflochten war. Die Northern befand sich irgendwo oberhalb der Ebene des Rings. Die dem Schiff zugewandte Seite bildete einen verworrenen, undurchdringlichen Zaun über der Lebenskuppel, der sich keck zu Bögen und Spitzen verdrillte, wobei zersplitterte Abbilder von Galaxien durch den Morast der Raumzeit-Defekte glitzerten. Und die entgegengesetzte Seite des Objekts war als ein fahles, hartes Band sichtbar, das entfernt am blauverschobenen Himmel stand.

Der vom Ring scheibenförmig eingeschlossene Weltraum – Louise erinnerte sich, daß es eine nicht weniger als zehn Millionen Lichtjahre durchmessende Scheibe war – schien praktisch leer zu sein. Vielleicht, so spekulierte sie, waren die Xeelee in dieser Ära aktiv damit beschäftigt, die Zentralregion freizuhalten.

… Frei, wie Louise bei näherer Betrachtung sah, bis auf einen einzigen glühenden Lichtpunkt direkt im geometrischen Mittelpunkt des Rings. Sie sah, wie Lieserl mit halb geöffnetem Mund auf diesen Lichtpunkt starrte.

Seilspinnerins überstürzte Aktion hatte sie in die Vergangenheit gebracht, und dort wieder zu einem Streiflicht dieses Himmelskrieges… und es hatte den Anschein, daß sie in einer Ära gelandet waren, in welcher der finale Fall des Rings nicht mehr weit entfernt war.

Sie wußte, daß ihre Augen – die von Mark, Lieserl und Morrow – erwartungsvoll auf ihr ruhten. Auf ihr.

Denk an Lieserls Worte, sagte sie zu sich. Ich bin ein Überlebensmechanismus. Das ist alles. Ich muß weiter funktionieren, nur noch etwas länger… Sie blickte tief in ihr Inneres.

Sie klatschte in die Hände. »In Ordnung, Leute -Mark, Lieserl. Wir haben Arbeit. Es dürfte wohl offensichtlich sein, daß wir mitten in einem Kriegsgebiet herausgekommen sind. Wir wissen, daß die Photino-Vögel in diesem Moment den Ring von allen Seiten angreifen – denn wie wir ebenfalls wissen, wird der Ring in hunderttausend Jahren zerstört sein. Das vermittelt mir das Gefühl, daß wir nicht mehr viel Zeit haben, bis die eine oder andere Seite von unserer Anwesenheit Wind bekommt…«

»Ich glaube, du hast recht, Louise«, stimmte Mark ihr zu. Beide Virtuellprojektionen waren über Hochgeschwindigkeits-Datenbusse mit den Zentralprozessoren verbunden und befaßten sich mit verschiedenen Aspekten der Situation. »Wir sollten uns nicht durch die Tatsache täuschen lassen, daß dieser unglaubliche Krieg zum größten Teil nur mit Unterlichtgeschwindigkeit geführt wird, so daß er – in diesem Maßstab – die Dynamik eines die Sahara durchquerenden Ameisenhaufens hat. Wir dürfen nicht vergessen, daß die Xeelee über einen Hyperantrieb verfügen – den wir gestohlen haben –, und nach unseren Erkenntnissen haben die Photino-Vögel auch einen. Wir könnten also jederzeit entdeckt werden.«

»Gib mir also einen Lagebericht.«

Mark nickte. »Zunächst unsere Position in der Zeit: Seilspinnerin hat so viele geschlossene zeitgleiche Pfade konstruiert, daß wir aus der Ära, in die unser erster Flug uns geführt hatte, hunderttausend Jahre in die Vergangenheit reisen konnten.« Er blickte zur Himmelskuppel hinauf und erhob sich ein paar Meter in die Luft, wobei er zerstreut vergaß, seinen Virtuell-Gleiter mitzunehmen. »Soweit wir sagen können, ist der Ring in dieser Ära noch intakt. Er hat eine gigantische Masse – sie übt daher eine Anziehungskraft auf uns aus. Eine große sogar… Der Ring zieht uns auf einer Kreisbahn durch den Raum. Seilspinnerin scheint das zu korrigieren…«

»Lieserl. Sag mir, was du hast.«

Lieserl schien den Blick von diesem quälenden Lichtpunkt im Herzen des Rings schier losreißen zu müssen. Sie schaute zu Louise hinunter.

»Ich habe den Ring, Louise. Wir sind in eine Zeit vor seiner Zerstörung versetzt worden. Bolders Ring besteht aus einer einzigen kosmischen Stringschleife – aber einer gigantischen, mit einem Durchmesser von mindestens zehn Millionen Lichtjahren und einer Masse von Zehntausenden Galaxien, die ein nahtloses Ganzes ergeben. Der String ist zusammengerollt wie ein Wollknäuel; die Topographie des Rings besteht aus Stringbogen, die sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit bewegen, und aus Scheitelpunkten, die tatsächlich die Lichtgeschwindigkeit erreichen. Ihre Bewegung ist zwar komplex, aber – soweit ich sagen kann – kohärent. Der Ring könnte im Grunde ewig existieren.

Louise, dieses Monster kann auf keinen Fall auf natürliche Art entstanden sein. Unseren gesicherten Theorien zufolge kann ein String in der Natur höchstens tausend Lichtjahre lang werden.« Sie schaute hoch, und die blaue Falschfarbe der String-Abbildungen beleuchtete ihr Profil und konturierte die Falten um ihre Augen. »Irgendwie…« – sie lachte kurz –,»… irgendwie haben die Xeelee eine Möglichkeit gefunden, kosmische Strings durch den Weltraum zu ziehen – oder sie in einem wahrhaft heroischen Maßstab zu fabrizieren – und sie dann in diesem immensen Artefakt zu bündeln.«

Louise sah zu dem Ring auf, verfolgte das Gewirr der Strings am Himmel und ging Lieserls statistische Angaben im Kopf durch. Und ich wäre vielleicht gestorben, ohne das gesehen zu haben. Danke. Oh, danke…

»Die Kosmologie hier ist… spektakulär«, sagte Lieserl lächelnd. »Wir haben einen extrem massiven und sehr schnell rotierenden Torus. Und er verwüstet die Struktur der Raumzeit. Die schiere Masse des Rings hat eine derart tiefe Gravitationsquelle erzeugt, daß Materie – Galaxien – über mehrere hundert Millionen Lichtjahre zu diesem Punkt hingezogen werden. Selbst unsere Heimatgalaxis, die Galaxis der Menschheit, wurde von der Masse des Rings angezogen.

Und auch die Rotation hat signifikante Auswirkungen. Louise, wir befinden uns am Rand eines Kerr-metrischen Objekts – der klassischen relativistischen Lösung des Schwerefeldes einer rotierenden Masse. Hierbei handelt es sich sogar um ein maximales Kerr-metrisches Objekt: Der Torus rotiert nämlich so schnell, daß die in Gravitationseinheiten umgerechnete Winkelgeschwindigkeit die Masse bei weitem übersteigt…

Wie Mark schon sagte, übt die Rotation des Rings ein großes Drehmoment auf das Schiff aus. In diesem Zusammenhang spricht man von Inertial-Zug: Die Verzerrung der Raumzeit um den rotierenden Ring.«

Morrow runzelte die Stirn. »Inertial-Zug?«

»Morrow«, sagte Lieserl, »das naive Konzept der Gravitation postulierte, daß das Drehmoment eines Objektes sein Schwerefeld nicht beeinflussen würde. Unabhängig von der Rotationsgeschwindigkeit eines Sterns würde dieser immer eine Anziehungskraft in Richtung seines Mittelpunktes ausüben, so als ob er überhaupt nicht rotieren würde.

Aber die Relativitätstheorie sagt uns, daß das falsch ist. Die Gleichungen enthalten nichtlineare Terme, welche die rotierende Masse mit dem externen Feld verknüpfen. In anderen Worten, ein rotierendes Objekt reißt den ihn umgebenden Raum mit«, erklärte sie. »Inertial-Zug. Und genau dieses Drehmoment erfährt die Northern nun.«

»Was noch?« fragte Louise. »Mark?«

Er nickte. »Zum einen ertrinken wir quasi in Radiostrahlungs-Photonen…«

Das kam unerwartet. »Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage«, erwiderte er ernst und sah sie an. »Das ist die einzige signifikante Differenz in unserer großmaßstäblichen physikalischen Umwelt im Vergleich zu unserer ursprünglichen Zeit: Wir werden nun von einem Schwall Radiowellen umspült.« Für einen Moment wirkte er abwesend. »Und ihre Intensität nimmt zu. Es findet eine Verstärkung statt, langsam zwar, aber im zeitlichen Maßstab dieses Krieges dennoch signifikant; die Verdoppelungszeit beträgt etwa tausend Jahre. Louise, dieses Phänomen tritt in der Zukunft nicht mehr auf. Die Radio-Photonen werden dann verschwunden sein.«

Louise schüttelte den Kopf. »Das ergibt für mich keinen Sinn. Wodurch wird diese Verstärkung denn verursacht?«

Er hob theatralisch die Schultern. »Weiß der Geier.« Er blickte zum Himmel. »Aber sieh dich doch nur mal um. Der Ring wird von einer Hülle aus galaktischer Materie umgeben, Louise. Die Frequenzen der Radiowellen liegen unterhalb der Plasmafrequenz des interstellaren Mediums. Also sind die Wellen in dieser mit Galaxien ausgekleideten Kiste eingeschlossen. Wir befinden uns in einem riesigen, zehn Millionen Lichtjahre großen Resonanzkörper mit reflektierenden Wänden.«

Morrow schaute unsicher durch die Himmelskuppel. »Eingeschlossen? Aber was geschieht, wenn…«

»Mark«, fiel Lieserl im ins Wort, »ich glaube, daß ich die Lösung habe. Die Ursache der Radiowellen-Verstärkung.«

Er schaute sie an. »Was?«

»Es ist der Inertialzug. Wir sehen eine vom Gravitationsfeld ausgehende, superstrahlende Streuung. Ein Photon, das in die Gravitationsquelle des Rings stürzt, wird durch den Inertialzug mit dem Ring gekoppelt und dann mit einem Energiezuwachs wieder abgestoßen…«

»Aha. In Ordnung.« Mark nickte mit in die Ferne gerichtetem Blick. »Das würde bei jedem Durchgang eine Verstärkung um ein paar Promille ausmachen… deckt sich im wesentlichen mit meinen Beobachtungen.«

Morrow runzelte die Stirn. »Habe ich das richtig verstanden? Das hört sich ja so an, als ob die Photonen wie Gravitationsschleudern um diesen Ring wirkten.«

Louise lächelte ihm zu, wobei sie seine Angst spürte. »Das stimmt. Durch den Inertialzug zieht jedes Photon einen kleinen Energiebetrag vom Ring ab; die Strahlung verstärkt sich, und die Rotationsgeschwindigkeit wird um einen minimalen Bruchteil verlangsamt…

Lieserl. Erzähl uns mehr von der Raumzeit-Metrik.« Sie sah hoch, zu dem Lichtpunkt im Herzen des Rings. »Was sehen wir, dort im Zentrum?«

Lieserl schaute mit ruhigem Gesichtsausdruck nach oben. »Ich nehme an, daß du es selbst weißt, Louise. Es ist eine Singularität, im Mittelpunkt des Rings. Die Singularität ist rund, eine kreisförmige Störstelle im Raum: Ein Riß, der durch die Rotation des gigantischen Rings verursacht wurde. Die Singularität hat einen Durchmesser von etwa dreihundert Lichtjahren – offensichtlich viel kleiner als der Durchmesser des Rings…

Wenn der Ring langsamer rotieren würde, wäre die Kerr-Metrik gut definiert. Die Singularität wäre dann nämlich in zwei Ereignishorizonte gehüllt – die wie Osmose-Membranen in Richtung des Zentrums wirken würden – und dahinter befände sich eine Ergosphäre: Eine Region, in welcher der Inertialzug so stark ist, daß er alles mitreißt. Wenn wir uns in einer Ergosphäre befinden würden, hätten wir keine andere Wahl, als mit dem Ring zu rotieren. Wenn der Ring jedoch statisch wäre, würde das Kerr-Feld zu einem einfachen, stationären Schwarzen Loch kollabieren, mit einer punktförmigen Singularität, nur einem Ereignishorizont und ohne Ergosphäre.

Aber der Ring rotiert… und zwar zu schnell, um die Bildung eines Ereignishorizonts oder einer Ergosphäre zuzulassen. Und deshalb…«

»Ja, Lieserl?« meinte Louise.

»Und deshalb ist die Singularität nackt.«


Michael Poole saß mit untergeschlagenen Beinen bequem auf der Schulter des Nightfighters. Sein Blick war auf Seilspinnerins Gesicht gerichtet, stetig und direkt.

Der Ring ist eine Maschine, deren einziger Zweck in der Erzeugung dieser Singularität besteht. Siehst du das denn nicht? Die Xeelee haben diesen titanischen Ring konstruiert und in Rotation versetzt – um ein Loch in das Universum zu reißen.

Seilspinnerin ließ die Falschfarben der zentralen Singularität von der Helmoptik verstärken. Die Verzerrung wirkte wie eine feste Scheibe – eine Münze vielleicht –, die aus ihrer Perspektive leicht geneigt war, aber fast senkrecht stand, so daß sie die Oberfläche erkennen konnte.

Auf dieser Oberfläche schwamm weißes Sternenlicht. (Weiß?)

»Die Xeelee haben das alles errichtet«, sagte sie zu Poole. »Sie haben die Geschichte verändert, die Raumzeit aufgerissen, Galaxien über Hunderte von Lichtjahren der Vernichtung zugeführt – nur dafür?«

Poole hob die Augenbrauen. Es ist das größte baryonische Artefakt, Seilspinnerin. Die größte Errungenschaft der Xeelee…

Die Singularität war wie ein Juwel, das von dem undisziplinierten String-Wirrwarr des Rings umgeben wurde.

»Es ist sehr schön«, befand sie.

Poole lächelte. Ah, aber ihre Schönheit liegt in ihrer Wirkung…

Er wandte sein hageres, müdes Gesicht zur Singularität empor. Seilspinnerin, die Menschen haben diesem Artefakt viele Zwecke zugeschrieben. Aber der Ring ist weder eine Festung noch eine letzte Zuflucht, weder ein Schlachtschiff noch eine Basis, von der aus die Xeelee ihr baryonisches Universum zurückerobern können, sagte er traurig. Seilspinnerin, die Xeelee wissen, daß sie diesen Krieg am Himmel verloren haben. Vielleicht wußten sie es schon seit dem Anbeginn ihrer Geschichte.

»Ich verstehe nicht.«

Seilspinnerin, die Singularität ist ein Schlupfloch.


Unmenschlich schnell drehten sich Lieserl und Mark zueinander um. Sie schauten sich in die Augen, als ob sie auf eine für Menschen unsichtbare Art Daten austauschten, aber dem Ausdruck ihrer Gesichter war nichts zu entnehmen.

»Was ist los?« fragte Louise. »Was ist geschehen?«

Pixel, Defekte in der Virtuellprojektion, krochen über Marks Wange. »Wir brauchen Seilspinnerin«, sagte er knapp. »Wir können nicht auf die Reparatur der Datenleitungen warten. Wir versuchen zu improvisieren – wir arbeiten schnell…«

Louise runzelte die Stirn. »Weshalb?«

Mit ausdruckslosem Gesicht wandte sich Mark ihr zu. »Wir sind in Schwierigkeiten, Louise. Sie haben uns aufgespürt.«


»Wie zerstört man denn überhaupt eine kosmische String-Schleife mit einem Durchmesser von zehn Millionen Lichtjahren?« fragte Seilspinnerin.

Das ist gar nicht so schwierig… wenn man über die Ressourcen eines Universums verfügt und eine Milliarde Jahre Zeit hat, Seilspinnerin. Poole hockte auf der Schulter des Nightfighters und deutete auf einen Hagel hereinstürzender Galaxien, die eine nahegelegene Sektion des Rings überschwemmten. Wenn der Ring sich verkrümmt – wenn die kosmischen Strings sich überschneiden –, durchtrennt er sich selbst, erklärte er. Er interkommutiert. Und dann entsteht eine neue Sub-Schleife, welche die alte abstößt. Und vielleicht wird sich diese Sub-Schleife ebenfalls überlagern und sich in noch kleinere Schleifen teilen… und so weiter.

Seilspinnerin nickte. »Ich glaube, ich verstehe. Wenn er erst einmal begonnen hat, wäre es ein exponentieller Vorgang. Schon bald würde der Ring zu dem Trümmer-Torus verfallen, den wir gefunden haben – finden werden –, in hunderttausend Jahren…«

Ja. Ohne Zweifel haben die Xeelee die Bewegung des Rings so eingestellt, daß er sich nicht selbst schneidet. Aber um diesen Prozeß einzuleiten, muß nur das periodische Verhalten des Rings gestört werden. Und genau das ist offensichtlich die Absicht der Photino-Vögel, wenn sie Galaxien – wie Steine – gegen den Ring schleudern.

Seilspinnerin schniefte. »Sieht ja nach einer ziemlich primitiven Technik aus.«

Poole lachte. Baryonischer Chauvinismus, Seilspinnerin? Aber die Vögel verfügen auch noch über andere Mechanismen. Ich…

»Seilspinnerin. Seilspinnerin. Hörst du mich?«

Seilspinnerin richtete sich kerzengerade im Sitz auf und faßte an ihren Helm. »Lieserl? Bist du das?«

»Hör mir zu. Wir haben nicht viel Zeit.«

»Oh, Lieserl, ich hatte schon geglaubt, daß ich nie mehr…«

»Seilspinnerin! Halt den Mund, verdammt, und hör zu!«

Seilspinnerin gehorchte. Noch nie zuvor hatte sie Lieserl einen solchen Ton anschlagen hören.

»Aktiviere die Waldos, Seilspinnerin. Du mußt uns von hier wegbringen. Flieg uns mit dem Hyperantrieb direkt über die Ekliptik des Rings. Hast du das verstanden? Gib die weiteste Sprungdistanz ein, die du finden kannst. Wir werden versuchen, noch schnell Subroutinen in die Waldos zu programmieren, aber…«

»Lieserl, ich werde fast verrückt vor Angst. Kannst du mir denn nicht sagen, was los ist?«

»Keine Zeit, Seilspinnerin. Bitte. Tu es einfach…«

Das Universum verdunkelte sich.

Für einen trüben, schrecklichen Moment dachte Seilspinnerin, daß sie erblindet sei. Aber die Instrumentenbeleuchtung der Waldos glühte so hell wie immer.

Sie schaute nach oben. Da stand etwas vor dem Schiff, das die blauverschobenen galaktischen Fragmente ausblendete und den Ring versteckte.

Sie sah nachtschwarze Schwingen, die voll ausgebreitet waren, über der Northern hängen.

Nightfighter.

Sie drehte sich im Sitz um. Es waren Hunderte – unglaublich viele dunkle Laternen hingen am Himmel.

Es waren Xeelee. Die Northern war eingekreist.

Seilspinnerin schrie auf und knallte die Fäuste auf den Hyperantriebs-Waldo.


Die ’fighter flogen zwischen den xenonblauen kosmischen String hindurch wie Vögel durch die Äste eines Waldes. Es waren ihrer so viele in dieser Epoche. Sie waren kühl und majestätisch, und ihre nachtschwarzen Gestalten waren tief im Raum um sie gestaffelt. Lieserl starrte auf die huschenden, gleitenden Konturen, wobei sie sich bemühte, sie noch besser zu erkennen. War ein Mensch den Xeelee jemals näher gewesen?

Die Xeelee flogen in einer dichten Formation, wie Vogel- oder Fischschwärme; sie vollführten plötzliche Kursänderungen, wobei ihre Weltflächen-Flügel schlugen, in Geschwadern, die Millionen Kilometer umfaßten – absolut synchron. Nun sah sie, wie man einen ’fighter wirklich bedienen mußte, im Gegensatz zu Seilspinnerins verkrampfter, plumper Art. Die Nightfighter waren Skulpturen aus Raumzeit, mit einer filigranen Schönheit, die sie erschauern ließ: Dies war zur absoluten Perfektion entwickelte baryonische Technologie, sagte sie sich.

Der Kontrast zwischen dieser Ära und dem Zeitalter der Vernichtung – des Sieges der Photino-Vögel –, in das sie die Northern zuerst gebracht hatte, traf sie hart. Hier war der Ring intakt und majestätisch, und die Xeelee beherrschten den Weltraum in ihrer ganzen Pracht. Sie wußte indessen, daß die letztendliche Niederlage unvermeidlich war und daß die Xeelee sich in Wirklichkeit hier drinnen, in ihrem letzten Zufluchtsort, versammelten. Aber dennoch schlug ihr Herz höher, als sie dieses Szene betrachtete, die Dominanz baryonischen Lebens.


Die sich überlagernden String-Abschnitte glitten glatt an der Lebenskuppel nach unten, als die Northern Höhe gewann. Die Nightfighter jagten wie Bussarde durch den String und um die Northern – nein, erkannte Seilspinnerin plötzlich; die Nightfighter flackerten durch den Raum.

»Sie verwenden den Hyperantrieb«, keuchte sie.

Ja. Poole schaute zu den Nightfightern hoch, wobei sein faltiges Gesicht durchscheinend war. Und wir sind ebenfalls im Hyperantriebs-Modus. Du hast ihn aktiviert, Seilspinnerin; bisher haben wir noch nie solche weiten Sprünge versucht, nicht einmal in Tests. Weißt du überhaupt, wie schnell du fliegst? Zehntausend Lichtjahre mit jedem Sprung… Und doch halten die Xeelee leicht Schritt mit uns.

Natürlich tun sie das, dachte Seilspinnerin. Schließlich sind sie ja Xeelee.

Diese ’fighter hätten die Northern jederzeit stoppen – sogar vernichten können. Aber sie hatten es nicht getan.

Warum nicht?

Das Schiff stieg jetzt hoch über die Ebene des Rings.

Das Gewirr aus Strings stürzte in den Hintergrund, und nun konnte sie leicht die Millionen Lichtjahre weite Krümmung der Struktur sehen. Und im Herzen des Rings schien die Singularität sich ihr zu öffnen und sie willkommen zu heißen.

Die Nightfighter der Xeelee stiegen um sie herum auf, wie Blätter in einem Sturm. Sie können uns nicht als Bedrohung ansehen. Ich glaube, daß die Menschen im Grunde nie eine Bedrohung für sie waren. Nun hat es fast den Anschein, als ob die Xeelee uns eskortierten, spekulierte sie.

»Lieserl«, sagte sie.

»Ich höre dich, Seilspinnerin.«

»Sag mir, was wir tun sollen.«

»Du bringst uns von der Ekliptik des Rings weg…«

»Und dann?«

»Abwärts…« Lieserl zögerte. »Schau, Seilspinnerin, wir müssen uns von den Xeelee absetzen, bevor sie es sich vielleicht anders überlegen. Und wir können sonst nirgendwo hin, im ganzen Universum nicht.«

»Und das soll euer Plan sein?« Seilspinnerin registrierte die Hysterie in ihrer eigenen Stimme; sie spürte, wie sich Angst im Magen und in der Brust ausbreitete, wie eine kalte Flüssigkeit. »In eine Singularität zufliegen?«


Mark schlug sich auf die Schenkel. »Ich hatte recht«, stellte er fest. »Ich hatte die ganze Zeit verdammt recht.«

Die Spannung hatte sich schmerzhaft um Louises Kehle gelegt. »Verdammt, Mark, drück dich genauer aus.«

Er drehte sich zu ihr um. »Was die Bedeutung des Radio-Energieflusses betrifft. Siehst du es denn nicht? Die Photino-Vögel haben diesen gigantischen Leerraum aus Sternen und zertrümmerten Galaxien konstruiert, um den Ring einzufangen.« Er überflog die Himmelskuppel. »Teufel. Sie müssen eine Milliarde Jahre benötigt haben, aber sie haben es geschafft. Sie haben einen riesigen Reflektor aus Sternenmaterie um den Ring gelegt. Das ist eine kosmische Ingenieursleistung, die der Konstruktion des Rings fast ebenbürtig ist.«

»Einen Reflektor?«

»Das interstellare Medium ist für Radiowellen undurchlässig. Also wird jedes Radio-Photon in den Leerraum reflektiert. Das Photon umkreist den Ring – und bei jedem Umlauf wird es superstrahlungsverstärkt, wie Lieserl bereits beschrieben hat, und zieht etwas mehr Energie vom Inertialzug der Rotation des Rings ab. Und dann wird das Photon erneut losgeschickt… aber es ist noch immer im galaktischen Reflektor gefangen. Und dann läuft es wieder zurück, um aufs neue verstärkt zu werden… Verstehst du? Es ist ein klassisches Beispiel für positive Rückkoppelung. Die eingeschlossenen Radiowellen werden ständig größer und berauben den Ring seiner Energie…«

»Aber die Wellen können doch nicht ins Unendliche wachsen«, wandte Morrow ein.

»Nein«, bestätigte Mark. »Bei diesem Prozeß handelt es sich um eine Inertialbombe, Morrow. Der ganze elektromagnetische Druck baut sich im Leerraum auf, bis er nicht mehr eingedämmt werden kann. Und schließlich – vielleicht schon in wenigen Dutzend Jahrtausenden – wird er die Höhle auseinanderreißen.«

Louise betrachtete den Himmel und erkannte erneut die gleichmäßige Verteilung der Galaxien, die ihr schon früher aufgefallen war. »Richtig. Und in hunderttausend Jahren wird die Northern mitten in den von dieser gigantischen Explosion verursachten Trümmerhaufen hineinfliegen.«

Inzwischen stand das Schiff hoch über der Ebene des Rings; Louise konnte die ganze Struktur überblicken, die wie der Rand eines glitzernden Spiegels vor ihr ausgebreitet war, mit der funkelnden Singularität im Zentrum.

»Louise«, sagte Lieserl, »die feindlichen Aktivitäten der Photino-Vögel, die wir zuvor gesehen haben – der direkte Angriff auf den Ring mit Materiebrocken – ist zwar spektakulär, aber Mark hat trotzdem recht: Es ist dieser Trick mit der Radio-Bombe, der dem Ring wirklich den Garaus machen wird.« Ein subtiles Lächeln spielte um ihre Lippen. »Das ist verdammt clever. Die Vögel zapfen den Ring selbst an, wobei sie über den Inertialzug Energie vom Gravitationsfeld abziehen. Sie nutzen die Massenenergie des Rings, um ihn zu zerstören.«

Subvokal überprüfte Louise ihr Chronometer. Nicht einmal zwanzig Minuten waren verstrichen, seit Mark und Lieserl Seilspinnerin die Anweisung zum Start des Schiffes überbracht hatten, aber sie mußten bereits acht Millionen Lichtjahre zurückgelegt haben – sie mußten schon direkt oberhalb der Singularität stehen.

»Mark. Wohin gehen wir?«


In der offenkundigen Absicht, Seilspinnerin zu beruhigen, erklärte Poole ihr, was mit dem Nightfighter geschehen würde, wenn er sich der Singularität der Scheibe näherte.

Eine zeitgleiche Flugbahn konnte die obere Schicht der Scheibe erreichen, sagte Poole. Ein Schiff konnte also die Ebene der Singularität erreichen. Aber – so besagten die Gleichungen der Kerr-Metrik – keine zeitgleiche Flugbahn konnte durch die Singularitäten-Schleife verlaufen und auf der anderen Seite wieder austreten.

»Was wird also geschehen? Wird das Schiff vernichtet werden?«

Nein.

»Aber wenn das Schiff nicht durch die Schleife fliegen kann – wohin dann?«

Weißt du, es kann keine Diskontinuität in der Metrik geben, Seilspinnerin. Poole zögerte. Seilspinnerin, die Singularitäten-Ebene ist ein Ort, an dem sich Universen berühren.


»Du willst uns aus dem Universum hinausbringen?« fragte Louise.

Mark schwenkte den Kopf unnatürlich steif zu ihr hinüber; die Verschlechterung der Projektion seines Gesichts – die kriechenden Pixel-Störstellen, die grelle Farbe seiner Augen – ließen ihn absolut unmenschlich aussehen. »Wir können sonst nirgendwo hin, Louise. Es sei denn, du hättest eine bessere Idee…«

Sie schaute zur Singularität hoch. Die mit übermenschlicher Geschwindigkeit kooperierenden KI hatten bereits eine Maßnahme für dieses Szenario konzipiert. Aber haben sie auch recht? Sie fühlte, wie die Situation ihrer Kontrolle entglitt; sie versuchte zu planen, diese Sache in den Griff zu bekommen.

»Natürlich ist der zeitliche Aspekt ein kritischer Punkt«, sagte Lieserl spröde. »Oder wir landen im falschen Universum…«

Morrow klammerte sich mit großen Augen und verkrampften Händen an seinen Gleiter. »Wovon, zum Teufel, sprechen Sie jetzt wieder?«

Mark zögerte. »Die Konfiguration des Strings ändert sich permanent. Es ist ein dynamisches System. Und dadurch verändert sich auch die Topologie der Kerr-Metrik – sie modifiziert die analytische Basis, auf der die Ebene der Singularität vom Raum durchdrungen wird…«

»Verdammt«, fuhr Morrow ihn an. »Können Sie denn nicht mal mit Ihrem Fachchinesisch aufhören?«

»Die Ebene der Singularität ist ein Punkt, an dem dieses Universum ein anderes leicht berührt. Alles klar? Aber wegen der Oszillation des Rings ist die Schnittstelle zu dem anderen Universum nicht konstant. Sie schwankt. Alle paar Minuten – manchmal noch öfter – wechselt die Schnittstelle in ein anderes Kontinuum – in ein anderes Universum.«

Morrow runzelte die Stirn. »Ist das für uns denn von Bedeutung?«

Mark fuhr sich durchs Haar. »Nur weil diese Veränderungen unberechenbar sind, was sowohl Zeitpunkt als auch Zeitdauer betrifft. Soweit ich weiß, sind diese Veränderungen wahrscheinlich zyklisch; wenn wir also lange genug warten, bekommen wir eine zweite Chance.«

»Aber zum Warten haben wir keine Zeit.«

»Nein. Nun, im Grunde planen wir das auch gar nicht… Wir haben nämlich keinen Einfluß darauf, in welchem Universum wir herauskommen werden. Und natürlich ist nicht jedes Universum für uns geeignet…«

Louise preßte die Fäuste an die Schläfen. Gut gesagt, Mark. Wir haben beschlossen, aus unserem Universum auszubrechen, und wir haben schon die halbe Flotte der Xeelee-Nightfighter im Nacken… und dann kommst du mir so. Was soll ich denn jetzt bloß tun?

»Sag mir, was du jetzt siehst«, verlangte sie. »Erzähl mir etwas von dem Universum auf der anderen Seite des Kerr-Interfaces.«

»Jetzt?« Marks Blick drückte Zweifel aus. »Louise, du erwartest von mir, daß ich dir eine Analyse eines ganzen Kosmos präsentiere – basierend auf ein paar unscharfen Einblicken – und das in ein paar Sekunden. In der gesamten Menschheitsgeschichte ist gerade erst ein teilweises…«

»Tu es einfach«, erwiderte sie.

Mit ausdruckslosem Gesicht musterte er sie. »In einigen der Zwillingsuniversen weichen die Naturgesetze von den unseren etwas ab. Das ist auch nicht weiter erstaunlich; die physikalischen Konstanten definieren nämlich nur, wie die Symmetrien am Beginn der Zeit zerlegt wurden… Aber selbst Universen, deren Naturgesetze mit den unseren identisch sind, können wegen modifizierter Grenzbedingungen am Beginn der Zeit höchst verschieden sein – oder auch nur deshalb, weil sie sich im Vergleich zu uns in einem anderen Stadium ihres Evolutionszyklus befinden.«

»Und in diesem besonderen Fall?« fragte sie schwer atmend.

Er schloß die Augen. Louise sah, daß vereinzelte gelbe und rote Pixel wieder über die Wangen seines virtuellen Gesichts wanderten. Er riß die Augen auf eine Art auf, die sie erschreckte. »Hohe Gravitation«, sagte er.

»Was?«

»Variation der Naturgesetze. Die Gravitationskonstante ist hoch – enorm hoch – im Vergleich zu… äh… hier.«

Morrow fragte nervös. »Welchen Schluß müssen wir daraus ziehen? Würden wir zerquetscht werden?«

Weitere Pixel, Störstellen in der Projektion, liefen über Marks Wangen. »Nein. Aber menschliche Körper würden dann über wahrnehmbare Schwerefelder verfügen. Sie könnten Louises Masse spüren, Morrow, mit einem Sog von etwa einem halben Gravo.«

Nun wirkte Morrow noch besorgter.

»Die Sterne dürften einen Durchmesser von gerade anderthalb Kilometern haben und würden nur ein Jahr lang brennen«, sagte Mark. »Planeten von der Größe der Erde würden sofort unter ihrem eigenen Gewicht kollabieren…«

Lieserl runzelte die Stirn. »Könnten wir dort überhaupt überleben?«

Mark zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Die Lebenskuppel würde jedenfalls sofort unter ihrem Gewicht implodieren. Wir würden atembare Luft finden müssen, und das schnell. Und wir müßten im freien Fall leben; jede substantielle Masse würde extrem starke Gravitationskräfte ausüben. Aber vielleicht könnten wir aus den Trümmern der Northern eine Art Floß fabrizieren…«

Lieserl schaute zur Ebene der Singularität hoch, und ihr Gesicht nahm einen weicheren Ausdruck an. »Wir wissen, daß der Ring schon von Menschen angegriffen wurde – zum Beispiel von der Neutronenstern-Rakete. Also sind wir vielleicht nicht die ersten menschlichen Pilger, die durch den Ring fallen. Mark, du sagtest, daß die Brücke zum anderen Universum Schwankungen unterliegt. Ich frage mich, ob sich bereits jetzt Menschen auf der anderen Seite dieses Interfaces befinden, die sich an Wrackteile von Kriegsschiffen klammern und versuchen, in ihrer Hochgravitations-Welt zu überleben…«

Mark lächelte; er schien sich zu entspannen. »Nun, wenn es tatsächlich welche geben sollte, werden wir ihnen nicht begegnen. Dieses Kontinuum ist abgeschlossen; ein neues öffnet sich bereits… Wo auch immer wir hingehen werden, dorthin jedenfalls nicht.«

Louise betrachtete den in Falschfarben abgebildeten Himmel. »Ich glaube, es ist Zeit, daß wir es herausfinden«, sagte sie.


Die Northern erreichte den Scheitelpunkt ihrer Flugbahn, hoch oberhalb der Ebene des Rings.

Seilspinnerin hatte den Eindruck, in der Krone eines großen, eine Million Lichtjahre hohen kosmischen Baumes zu hängen. Das Schiff stand über dem zentralen, glitzernden Becken aus verschwommenem Sternenlicht der Singularität, und dahinter, am Rande ihres Gesichtsfeldes, zeichnete sich die titanische Form des Rings selbst ab.

Das Geschwader der Nightfighter hatte sie annähernd halbkugelförmig eingeschlossen; die Schwingen waren ausgebreitet. Die spitzen, eleganten Konturen der ’fighter füllten den Raum.

Seilspinnerin legte die Hände auf den Hyperantriebs-Waldo.

Es war, als ob sie vom Baum gefallen wäre.

Der Nightfighter fiel durch den Raum und legte in jeder Sekunde zehntausend Lichtjahre zurück.

Die Singularität ist ein Tor zu anderen Universen, sagte Michael Poole. Wer weiß? – vielleicht zu besseren, als dies eines ist.

Und tatsächlich, so erklärte Poole ihr, mußten noch weitere Tore zu anderen Universen existieren… Er skizzierte das Bild eines Mosaiks aus Universen, die durch die glühenden Verbindungen positiver und negativer Kerr-Singularitäten miteinander verknüpft waren. Es ist wundervoll, Seilspinnerin.

Seilspinnerin starrte auf die Singularität hinab. »Hatten sie das vor? War es die Absicht der Xeelee, die Singularität als Tor zu konstruieren?«

Natürlich war es ihre Absicht. Warum haben sie die Singularität wohl so verdammt groß ausfallen lassen? – Damit Schiffe hindurchfliegen können, ohne von den Gezeitenkräften des Singularitätengewindes zerfetzt zu werden.

Seilspinnerin, dies ist die größte Errungenschaft der Xeelee. Ich hätte dir eines Tages gern noch erzählt, wie dieser Ring erschaffen wurde… Wie die Xeelee in der Zeit zurückgereist sind und sogar ihre eigene Evolution umgestaltet haben, um die Fähigkeiten zu dieser Leistung zu erlangen.

»Du hättest mir gern erzählt…?«

Ja. Poole sagte es traurig. Seilspinnerin, ich werde die Chance nicht bekommen… ich kann euch nicht folgen.

»Was…?«

Es war, als ob sie einen riesigen Tunnel hinabstiege, der mit den entfernten, bedeutungslosen Formen blauverschobener Galaxien ausgekleidet war. Die Singularität bildete die sternenbeleuchtete offene Basis dieses Tunnels, aus der sie in…

In was stürzen würde?

Der vogelgleiche Schwarm der Nightfighter wirbelte noch immer um das Schiff.

»Weißt du«, sagte sie, »die Xeelee härten uns zu jedem Zeitpunkt aufhalten können. Und ich bin mir sicher, daß sie uns sogar jetzt noch vernichten könnten.«

Da bin ich mir auch sicher.

»Aber das haben sie nicht.«

Vielleicht wollen sie uns helfen, Seilspinnerin. Vielleicht gibt es doch noch so etwas wie einen Rest von Loyalität unter den baryonischen Spezies.

»Seilspinnerin.«

»Ja, Lieserl.«

»Hör mir zu. Der Flug durch die Singularität wird – kompliziert.«

»Das dachte ich mir schon«, meinte Seilspinnerin trocken.

»Seilspinnerin, die uns umgebende Raumzeit-Krümmung ist komplex. Wenn wir weit genug draußen stehen, wird uns die Singularität anziehen – in sich hineinziehen. Aber dicht bei der Ebene der Singularität existiert eine Potentialbarriere im Schwerefeld.«

Sie seufzte. »Und was heißt das konkret?«

»Antigravitation, Seilspinnerin. Die Ebene wird uns abstoßen. Wenn wir beim Anflug an die Ebene zu wenig kinetische Energie haben, wird sie uns abstoßen: Entweder zurück zu den asymptotisch flachen Regionen – ich meine in die Unendlichkeit, weit entfernt von der Ebene – oder wieder in die Gravitationszone zurück. Wir würden dann oszillieren, Seilspinnerin, im Wechsel fallen und abgestoßen werden.«

»Was geschieht auf der anderen Seite? Werden wir dort wieder in Richtung der Ebene gezogen werden?«

»Nein.« Lieserl zögerte. »Wenn wir die Ebene durchstoßen, tritt eine Vorzeichenänderung in der Metrik ein… Die Singularität wird uns abstoßen. Sie wird uns weit in das neue Universum hineinschleudern.«

»Was müssen wir also tun?«

»Um die Potentialbarriere zu überwinden, müssen wir kinetische Energie aufbauen, bevor wir auf die Ebene der Singularität treffen. Seilspinnerin, du wirst den Diskontinuitätenantrieb parallel zum Hyperantrieb aktivieren müssen. Die zwischen den Sprüngen liegenden Sekundenbruchteile, in denen wir im Normalraum stehen, werden ausreichen, um mit der Normalraum-Beschleunigung zu beginnen.«

Seilspinnerin spürte, wie Schweiß über ihr Gesicht tröpfelte und sich hinter der Brille unter den Augen sammelte. Plötzlich merkte sie, daß sie Angst hatte: Nicht vor der Singularität oder dem, was sich dahinter befinden mochte, sondern vor dem Versagen. »Das ist doch lächerlich, Lieserl. Wie stellst du dir das denn vor? Bin ich vielleicht ein Klammeraffe?«

Lieserl lachte. »Ja, tut mir leid, Seilspinnerin. Wir machen das aus dem Stegreif, weißt du…«

»Ich schaffe das nicht.«

»Ich weiß, daß du es kannst«, konterte Lieserl ruhig.

»Woher willst du das denn wissen?«

Lieserl schwieg für einen bedeutungsschwangeren Moment. »Weil du über Hilfe verfügst«, sagte sie dann. »Nicht wahr, Seilspinnerin?«

Und Seilspinnerin fühlte, wie sich Michael Pooles warme Hände erneut auf die ihren legten, kraftvoll und beruhigend.

Die Schwingen des Diskontinuitäten-Antriebs entfalteten sich hinter der Masse der Lebenskuppel, mächtig und elegant.

»Wenn es ein Trost für dich ist, Seilspinnerin, wir werden ein spektakuläres Bild abgeben, wenn wir in die Ebene eintauchen«, versprach Lieserl. »Wir werden unsere kinetische Kerr-Energie in einer einzigen Explosion von Gravitationswellen abgeben…«

Die Singularitätenebene wurde größer; sie war eine Scheibe, in der Sternenlicht waberte, und sie öffnete ’ sich wie ein Mund.

»Michael, wird es auch in diesem neuen Universum Photino-Vögel geben?«

Ich weiß es nicht, Seilspinnerin.

»Ich will, daß du mit mir kommst.«

Ich kann nicht. Es tut mir leid. Die Quantenfunktionen, auf denen meine Existenz basiert, würden bei der Durchquerung der Singularitätenebene zerfallen.

»Wird es dort Xeelee geben?«

Ich weiß es nicht.

Die eleganten ’fighter der Xeelee wirbelten mit Schlägen der nachtschwarzen Schwingen um ihren Käfig. Sie füllten den Raum bis in die Unendlichkeit aus, triumphierten hier im Zentrum ihrer finalen Niederlage. Die Ebene der Singularität lag als Meer aus silbernem Licht unter ihr.

Der Werkstoff des Käfigs und der Flügel begann wie in Weißglut zu glühen.

Michael Poole wandte sich ihr zu und nickte leicht. Der Werkstoff schien durch sein transparentes Gesicht. In ihren Augen sah es aus wie eine Skulptur aus Licht. Er öffnete den Mund, als ob er ihr wieder etwas sagen wollte, aber sie konnte ihn nicht mehr hören; und dann umgab ihn das Licht von allen Seiten und hüllte ihn ein.

Und nun, plötzlich, dramatisch, war die Singularität da. Ihr Rand explodierte nach außen, um sie herum, und sie fiel hilflos in ein Meer aus verschwommenem Sternenlicht.

Sie krümmte sich und preßte die Hände auf die Brust; die abgeschliffene Pfeilspitze grub sich in die Haut, ein winziger Punkt menschlichen Schmerzes.