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NACH EINEM TRAUMARTIGEN Intervall von unbestimmter Dauer verspürte Lieserl ein vages Gefühl des Unbehagens – nicht unbedingt Schmerz, aber ein diffuses Stechen, das ihren Körper durchdrang.

Sie seufzte. Wenn dieses Unbehagen sich nicht aus irgendeinem Teil ihres virtuellen Körpers herleitete, dann mußte der Fehler bei den automatischen Systemen liegen, die ihr Bewußtsein aufrechterhielten – die in die Mündung des Wurmlochs integrierten Kühlsysteme oder vielleicht auch die abgeschirmten Prozessorbänke, in denen ihr Bewußtsein residierte.

Zögernd rief sie Diagnoseroutinen aus ihren zentralen Systemen auf. Verdammt…

Es hatte sich etwas verändert, wie sie schnell feststellte. Aber das Problem lag nicht in ihren eigenen Systemen. Die Veränderung betraf die externe Umgebung. Der Photonenfluß aus der Sonnenmaterie zu ihrem Wurmloch-Interface hatte sich deutlich verstärkt. Ihre Kühlmodule konnten diesen größeren Energiezufluß wohl noch bewältigen, aber sie mußten ihre Funktion entsprechend anpassen – und es war diese automatische Adaption, die sie als vages Unbehagen registriert hatte. Der verstärkte Photonenfluß verwirrte sie. Woher kam der? Sie führte einige kurze Untersuchungen der solaren Umgebung durch. Die letzten Photonen diffundierten noch immer auf ihrer Millionen Jahren währenden, erratischen Wanderung auf die Photosphäre zu. War es vielleicht möglich, daß die kernzerstörenden Aktionen der Vögel, ihr kontinuierliches Absaugen der Kernenergie, irgendwelche Auswirkungen auf den Fluß der Photonen hatte? Sie suchte und fand eine Struktur im verstärkten Fluß. Die Flußdichte war in Richtung der Orbits der Photino-Vögel mit Abstand am höchsten. Diese Korrelation war mit Sicherheit kein Zufall; irgendwie beeinflußten die Vögel tatsächlich die Flußdichte.

Und – wie sich herausstellte – der verstärkte Fluß war lokal begrenzt. Er war nur in einem Abstand von einigen Kilometern zu ihrer Position wirksam.

Die Erkenntnis stellte sich langsam, fast schmerzhaft ein.

Der Photonenfluß folgte ihr nach.

Sie zwang sich zu der Akzeptanz der Tatsache, daß die Photino-Vögel das mit Absicht taten. Sie leiteten die Zufallspfade der Photonen um und überfluteten sie.

Für eine Weile wurde sie von Angst gepackt. Versuchten die Vögel gar, diesen lästigen Fremdkörper inmitten ihres Schwarms zu töten – vielleicht, indem sie darauf abzielten, ihr Kühlsystem zu überlasten?

Wenn dem wirklich so war, dann gab es nicht viel, was sie dagegen hätte tun können. Es existierte niemand, den sie um Hilfe hätte bitten können, und eine Fluchtmöglichkeit bestand im Grunde auch nicht. Für eine lange Zeit folgte sie den Vögeln auf ihren endlosen Orbits um den Kern, beobachtete den Photonenfluß und versuchte, ihre Angst zu kontrollieren, das Gefühl des Eingesperrtseins und der Panik.

Aber der Fluß blieb stetig – er verstärkte sich sogar noch, konnte aber von ihren körpereigenen Systemen leicht neutralisiert werden. Und die Vögel ließen ihr gegenüber keine Anzeichen von feindseligen Absichten erkennen; sie wirbelten nur weiterhin in beschwingten Strömen um sie herum und gruppierten sich hinter ihr zu ihren großen, präzisen, kegelförmigen Formationen. Sie unternahmen nicht den Versuch, ihre Jungen vor ihr abzuschirmen oder ihre fragil wirkenden internen Strukturen zu schützen.

Sie mußte diesen Kreaturen aus Dunkelmaterie unglaublich schwach vorkommen.

Und langsam begann sie zu verstehen.

Diese absichtliche Umleitung des Photonenflusses in sie hinein war weder eine Drohung noch ein Versuch, sie zu vernichten. Vielleicht glaubten sie, daß sie verletzt sei oder sogar im Sterben läge. Sie mußten wohl in der Lage sein, die von ihrem Wurmloch-Schlund absorbierte Strahlungsenergie zu registrieren. Die Vögel halfen ihr – sie versuchten, ihr mehr von dem bereitzustellen, was ihnen als Grundvoraussetzung für das Leben erscheinen mußte.

Natürlich war das Geschenk nutzlos – hinsichtlich der erhöhten Belastung ihrer Kühlsysteme schlechter als nur nutzlos. Aber, so dachte sie ironisch, schließlich ist es ja der gute Wille, der zählt.

Die Vögel versuchten, sie zu füttern.

Mit dem Gefühl einer seltsamen Rührung machte sie angesichts des Geschenks der Photino-Vögel gute Miene zum bösen Spiel.


Im Zeitablauf beobachtete sie den immer schneller voranschreitenden Verfall der Sonne. Sie verspürte eine obskure, düstere Spannung, als sich der riesige physikalische Prozeß um sie herum entfaltete.

Der noch immer von den Schwärmen der Photino-Vögel ausgesaugte Kern schrumpfte und begann sich zu erwärmen. Schließlich erreichten die den ausgezehrten Kern umgebenden Wasserstoffschichten eine Temperatur von mehreren Dutzend Millionen Grad. Eine Schale aus fusionierendem Wasserstoff entzündete sich außerhalb des Kerns und begann sich einen Weg aus dem Herzen der Sonne zu bahnen. Anfangs fragte sich Lieserl, ob die Photino-Vögel wohl versuchen würden, auch diese neue Schale aus Energie aufzuzehren, wie sie es schon mit dem Kern gemacht hatten. Aber sie jagten nur durch die fusionierende Hülle und ignorierten ihre Brillanz. Heliumasche wurde aus der Schale auf den toten Kern ausgefällt; die Masse des Kerns nahm zu, wodurch er unter seinem eigenen Gewicht weiter kollabierte. Die von der Schale emittierte Wärmeenergie, zusammen mit der des trägen, kollabierenden Kerns, war intensiver als die von dem ursprünglichen Fusionskern ausgehende Energie.

Die Sonne konnte die zunehmende Wärmeleistung ihres neuen Herzens nicht mehr verkraften. In erstaunlich kurzer Zeit wurde sie zur Expansion gezwungen – sie war dabei, ein Riese zu werden.


Louise Ye Armonk stand auf der Back der Great Britain und sah zum Südpol von Triton hinunter.

Die Britain flog eine halbe Meile über dem Satelliten mit seiner dünnen, leuchtenden Kappe aus gefrorenem Stickstoff durch den Raum; der einzige Schornstein des Schiffes zog eine Rauchfahne durch das All, ein irrealer Anblick. Die Eiskappe krümmte sich unter dem Kiel des Schiffes so nahtlos wie eine große Eierschale. Die südliche Hemisphäre von Neptuns größtem Mond trat gerade in ihre vierzigjährige Sommerphase ein, und die Eiskappe schmolz ab. Als Louise den Kopf zurücklegte, konnte sie sehen, wie dünne, hohe Cirruswolken aus gefrorenem Stickstoff von Winden aus verdampftem Poleis nordwärts getrieben wurden.

Sie spazierte über das Deck, vorbei an der raffiniert aufgehängten Schiffsglocke. Die große, nebelverhangene Masse von Neptun wurde von der glänzenden Oberfläche der Glocke reflektiert, und Louise fuhr mit der Hand über die kühlen Konturen des gegossenen Metalls, wodurch die Glocke leicht schwang; die multiplen, amorphen Abbildungen von Neptun glitten elegant über das Metall.

Von hier aus war die Sonne ein heller Stern, ein entfernter Lichtpunkt; und das blaue Neptunlicht, unheimlich irdisch, überflutete die Konturen des alten Schiffes und ließ es ätherisch, irgendwie immateriell wirken – wie paradox, dachte Louise, denn gerade die Britain war in ihren Augen gegenwärtig das einzig reale Artefakt.

Als sich die Britain dem zerklüfteten Rand von Tritons Eiskappe näherte, blies ein Geysir, fast direkt vor dem treibenden Schiff. Dunkle, mit gefrorenem Stickstoff durchsetzte Bodenmaterie stieg expandierend auf, bis in eine Höhe von sechzehn Kilometern; als sie den dünnen Höhenwind erreichte, wurde die Wolke um neunzig Grad gedreht und flog an der Oberfläche von Triton entlang. Louise ging bis zum Ende der Back und verfolgte den Kurs der wieder zur Mondoberfläche hinabsinkenden Wolke, wo sie eben noch den niedrigen Krater im Eis an der Basis der Wolke erkennen konnte. Der Geysir wurde durch die Einwirkung der Sonnenwärme auf Gastaschen aktiviert, die in der dünnen Eiskruste eingeschlossen waren. Die Stelle der Eruption war mit Eisbrocken übersät, und einige Splitter wirbelten noch immer durch die dünne Stickstoffatmosphäre und kehrten unter dem sanften Zug der Triton-Gravitation langsam wieder zur Oberfläche zurück.

Das war eines ihrer beliebtesten virtuellen Dioramen, obschon eines der seltensten. Die Kapazität ihrer Prozessoren zur Erzeugung dieser Dioramen war zwar hoch, aber nicht unendlich; sie hielt das Neptun-Diorama bewußt in Reserve und rationierte seinen Einsatz über die immer gleichen Jahrhunderte, um seinen Reiz zu bewahren.

Die Analyse, warum ihr diese spezifische virtuelle Szene so gut gefiel, war nicht schwer. Die Landschaft dieses abgelegenen Mondes war außergewöhnlich und fremdartig, zudem überraschend wechselhaft aufgrund der Energie der entfernten Sonne; und die blaue Masse von Neptun mit ihren Bändern aus Stickstoff-Wolken hatte so viel Ähnlichkeit mit der Erde, um tiefe, fast verschüttete Gefühle der Nostalgie in ihr zu wecken – und doch war Neptun so anders, daß die Gemeinsamkeiten mit der Erde fast schon unterschwellig waren, so vage, daß sie nicht versucht war, in morbide Sehnsüchte zu verfallen. Und…

Plötzlich wirbelten Bildpunkte vor ihr herum, tausend Lichtblöcke mit eigenem Antrieb. Vor lauter Überraschung wäre sie fast gestolpert; sie hielt sich an der Reling des Decks fest.

Die Pixel verdichteten sich mit einer lautlosen Erschütterung zu einem Bildnis von Mark Wu. Die Projektion war schwach: Der Virtuelle schwebte einige Zentimeter über dem Deck und warf nicht einmal einen Schatten im blassen Licht von Neptun.

»Bei allen Teufeln der Hölle«, meinte Louise, »mach das nicht noch mal. Du hast mich erschreckt.«

»Tut mir leid«, sagte Mark. Louise fiel auf, daß selbst seine Stimme heiser und abgehackt war. »Es war dringend. Ich mußte dich stören. Ich…«

»Und diese Projektion ist lausig. Was ist los mit dir?« Louise fühlte, wie ihr Verstand sich gemütlich in einem seiner vertrauten Modi einrichtete – was Mark immer als ihr analytisches Meckern bezeichnete. Sie wäre dann in der Lage, einen Großteil ihrer unausgefüllten Tage damit zu verbringen, den Prozessor zu vernehmen und sich Details dieser Präsentation von Mark vorführen zu lassen. »Du schwebst sogar über dem Deck, verdammt. Es sollte mich nicht wundern, wenn du als nächstes noch die Illusion der Solidität verlierst. Und…«

»Louise. Ich sagte, daß es dringend ist.«

Sie merkte, wie ihre Stimme abbrach und die Konzentration schwand.

Mark ging auf sie zu, und die Darstellung seines Gesichts verstärkte sich merklich, wurde voller und nahm die blauviolette Tönung des Neptunlichts an. Die Prozessoren, die Mark abbildeten, versuchten ihr offensichtlich bei dieser Interaktion zu helfen. Aber der Rest seines Körpers war nach wie vor kaum mehr als eine dreidimensionale Skizze – ein Indiz dafür, daß er den größten Teil der verfügbaren Videokapazität einer anderen Priorität widmete. »Louise«, sagte Mark mit leiser, aber nachdrücklicher Stimme. »Etwas ist geschehen. Etwas hat sich verändert.«

»Verändert?« Nichts hat sich verändert – jedenfalls nicht signifikant – seit fast eintausend Jahren…

Mark lächelte. »Mach den Mund zu. Es zieht.«

Sie schluckte. »Es tut mir leid. Ich glaube, daß du mir damit etwas Zeit lassen mußt.«

»Ich werde das Diorama abstellen.«

Sie schaute mit unbegründeter Panik zu dem entfernten Antlitz von Neptun auf. »Weshalb?«

»Es ist etwas geschehen, Louise…«

»Das hast du schon gesagt.«

»Die Lebenskuppel.« Sein Blick heftete sich auf sie.

Sie fühlte sich wie in Trance, leicht, fast entrückt, und sie fragte sich, ob die in ihrem verkrampften Körper arbeitenden Nanobots ihr irgendein subtiles Beruhigungsmittel verabreichten. »Sag’s mir.«

»Jemand versucht, eines der Schotts in der Basis der Lebenskuppel zu öffnen.« Marks Augen blickten intensiv und forschend. »Verstehst du, Louise? Kannst du hören, was ich sage?«

»Natürlich kann ich«, erwiderte sie heftig.

Nach fünfhundert Jahren ohne Kontakt verließ jemand die Lebenskuppel. Sie versuchte die Implikationen von Marks Aussage zu erfassen, sie sich vorzustellen. Jemand näherte sich.

»Stell die Projektion ab«, sagte sie erschöpft zu Mark. »Ich bin soweit.«

Neptun kollabierte plötzlich wie ein geplatzter Ballon; Triton zerfiel in eine Milliarde verblassender Bildpunkte, und das Licht der Sonne erlosch flackernd. Für einen Moment gab es nur die Great Britain; die unwiderlegliche Realität von Brunels altem Schiff stand als irrealer Kontrast im Zentrum dieser grauen Unendlichkeit, dem Fehlen jeglicher Gestalt. Mark stand vor ihr auf dem abgenutzten Deck, wobei sein überauthentisches Gesicht beruhigend auf das ihre gerichtet war. Dann kehrte das Universum zurück.


Pfeilmacher fiel aus der Welt hinaus.

Er saß in dem Fahrzeug – dieser Fähre, wie Uvarov es genannt hatte –, wobei er Bogen und Köcher ordentlich auf den Sitz neben sich gelegt hatte. Die bloßen Beine baumelten über die weiche Kante seines Sitzes. Vor ihm stand eine simple Steuerkonsole, gerade noch in seiner Reichweite.

Die Wand des Bootes war transparent und machte die zylindrische Hülle fast unsichtbar. Die Fähre war ein Nichts, sie bot weniger Schutz als ein verschwommener Traum; die vier Sitze, mit Pfeilmacher und seinem deplaziert wirkenden, nutzlosen Bogen, schienen haltlos durch die Luft zu fliegen.

Uvarov hatte ihn auf das Boot aufmerksam gemacht. Pfeilmacher war kaum imstande gewesen, es zu erkennen – eine Kiste durchscheinender Fremdheit in einer Welt der Fremdheit.

Uvarov hatte ihm gesagt, daß er sich in die Fähre begeben solle. Pfeilmacher hatte, scheinbar ohne weitere Überlegungen, gehorcht.

Durch den Boden der Fähre konnte er das näherkommende Schott sehen. Es war ein in die Basis der Lebenskuppel eingelassenes Rechteck, nüchtern und schmucklos, begrenzt von einer schwach leuchtenden Linie. Er konnte noch immer Sterne durch die Basis der Lebenskuppel sehen, aber nun realisierte er, daß sie nicht völlig durchsichtig war. Sie reflektierte einen Teil des indirekten internen Lichts der Lebenskuppel und ließ sie wie einen echten Boden der Welt erscheinen. Vielleicht hatte sich im Laufe der Jahrhunderte auch eine Staubschicht an der Basis abgelagert und ihre ursprüngliche Transparenz verschleiert.

Im Kontrast hierzu existierte nichts in dem vom auffahrenden Schott freigegebenen Ausschnitt – nichts, nicht einmal Uvarovs Sterne. Die Schleuse kam auf ihn zu und schickte sich an, ihn und sein lächerliches Boot wie ein sich öffnender Mund zu verschlucken.

Die Schleuse war der Zugang in die Leere.

Er spürte, wie ihm das Herz in die Hosen rutschte. Angst war sein ständiger Begleiter und drohte permanent, seiner Kontrolle zu entgleiten und zu eruptieren…

Die Stimme von Seilspinnerin drang leise und verzerrt durch die Luft. »Pfeilmacher? Hörst du mich? Bist du in Ordnung?«

Er schrie auf und packte die Armlehnen seines Sitzes. Seine Kehle war vor Anspannung derartig eingeschnürt, daß er nicht sprechen konnte. Er schloß die Augen, blendete die ihn umgebende riesige, bizarre Irrealität aus und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. Er führte die Hände an die Hüfte; er berührte das Lianenseil, das Seilspinnerin ihm kurz vor dem Abflug als Talisman umgewickelt hatte.

»Pfeilmacher? Pfeilmacher?«

»…Seilspinnerin«, keuchte er. »Ich höre dich. Ist mit dir alles in Ordnung?«

Sie lachte, und für einen kurzen Moment konnte er ihr rundes, spöttisches Gesicht visualisieren, wie sie die Brille auf ihrer Stupsnase zurechtrückte. »Das ist jetzt wohl nicht so wichtig, oder? Die Frage ist, ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja.« Vorsichtig schlug er die Augen auf. Die unsichtbaren Maschinen dieser Seifenblase summten fast lautlos, und unter ihm war die Schleuse der Lebenskuppel ein Boden grauer Leere, der mit dezidierter Gemächlichkeit auf ihn zukam. »Ja. Mir geht es gut. Du hast mich nur etwas erschreckt, das ist alles.«

»Das wundert mich nicht.« Die Stimme des großen, nüchternen Mannes von den Decks – Morrow – wirkte aufgrund der Verzerrungen durch die verborgenen Kommunikationseinrichtungen noch monotoner als sonst. »Vielleicht hätten wir mehr Zeit darauf verwenden sollen, euch zu zeigen, was ihr zu erwarten habt.«

»Habt ihr einen besonderen Wunsch?«

»Ja, Seilspinnerin.« Pfeilmacher fühlte sich klein, hilflos, isoliert, wie ein Kind in einem für Erwachsene konzipierten Fahrzeug. Alles um ihn herum verströmte einen stechenden, leeren Geruch: Nach Kunststoff und Metall, ein Fehlen von Leben. Er sehnte sich nach der lebendigen Feuchtigkeit des Dschungels. »Ich wollte, wir könnten wieder nach Hause gehen«, eröffnete er seiner Tochter.

»Um Himmels willen, hör mit diesem Geschwätz auf.« Garry Uvarovs Stimme klang wie ein auf Glas schlagende Knochen. »Pfeilmacher«, sagte Uvarov. »Wo steckst du?«

Pfeilmacher zögerte. Die Schleuse der Lebenskuppel stand nun groß unter ihm – er war bereits so nahe, daß sich ihre Ecken und Kanten perspektivisch verkürzten; die semitransparente Oberfläche der Lebenskuppel verwandelte sich in den Rand eines entfernten, sternenübersäten Teppichs um diese immense Höhle. Er spürte, wie er zusammenzuckte. Blindlings griff er nach dem Bogen und preßte ihn an die Brust; er war ein kleines Requisit der Normalität in dieser fremden Welt. »Ich bin höchstens noch vier Meter vom Ausgang entfernt. Und ich…«

Die hell beleuchtete Schleusenkante glitt nach oben und umfaßte das Boot; Pfeilmacher hatte den Eindruck, in ein bodenloses Becken einzutauchen.


Als sie begriff, daß die Vögel sie füttern wollten, versuchte sie, einzelne Entitäten innerhalb der riesigen Schwärme auszumachen. Sie nahm sich vor, die Vögel zu studieren: Sie wollte mehr über ihren Lebenszyklus erfahren, wenn auch nur über die Mittlerfunktion baryonischer Materie, und vielleicht sogar versuchen, eine Gefühlsbindung zu den Vögeln herzustellen sowie ihre Individual- und Kollektivziele zu verstehen.

Aber die Herstellung freundschaftlicher Beziehungen zu Photino-Vögeln – das Knüpfen von Kontakten mit Individuen im herkömmlichen menschlichen Sinn – war einfach keine Option für sie, wie sich herausstellte. Sie waren fast alle identisch – schließlich waren die Vögel, so überlegte sie, angesichts ihrer simplen Fortpflanzungsstrategie im Grunde Klone ihrer Eltern –, so daß es ihr unmöglich war, zwischen ihnen zu differenzieren. Außerdem rasten sie auf ihren kurzen Orbits um die Sonne so schnell an ihr vorbei. Sie konnte sie sicherlich nicht so genau identifizieren, um einzelne Individuen über mehrere Orbits zu verfolgen.

Also blieb Lieserl – obwohl sie von den Vögeln umgeben und von ihrer fremden, leuchtenden Generosität eingehüllt wurde – im Prinzip nach wie vor allein.

Sie spürte deswegen eine intensive Enttäuschung. Anfangs sagte sie sich, daß das nur ein Symptom ihres begrenzten Verständnisses der Vögel war: Lieserl, die frustrierte Wissenschaftlerin.

Aber sie wußte auch, daß das lediglich eine Rationalisierung war.

Sie zwang sich dazu, aufrichtig zu sein. Was ein Teil von ihr, tief im Innern, wirklich wollte, war, daß die Photino-Vögel sie akzeptierten – wenn schon nicht als eine der ihren, dann wenigstens als eine tolerable Fremde in ihrer Mitte.

Als sie diese Selbstdiagnose erstellte, fühlte sie sich erniedrigt. Zum erstenmal war sie froh, daß niemand sie beobachtete, kein zeitgenössisches Äquivalent von Kevan Scholes ihre Telemetrie studierte und daraus ihren geistigen Zustand ableitete. War sie wirklich so pathetisch, innerlich so schwach, daß sie es nötig hatte, sich an Brosamen der Freundschaft zu klammern – selbst von diesen Wesen aus Dunkelmaterie, deren Fremdheit so fundamental war, daß im Vergleich hierzu die Differenzen zwischen Menschen und Qax den Charakter einer engen Verwandtschaft besaßen?

War sie wirklich so einsam?

Es dauerte lange, bis die darauf folgende Verlegenheit und ein Anfall von Selbsthaß sich gelegt hatten.

Individueller Kontakt mit den Vögeln wäre ohnehin irrelevant gewesen. Weil sie so identisch waren, ihr Verhalten als Individuen so undifferenziert, schienen Kollektivziele für die Vögel ohnehin weitaus wichtiger zu sein als Einzelinteressen. Die Individualität wurde dem Interesse der Spezies in einem weitaus größeren Maße untergeordnet, als es bei den Menschen jemals der Fall gewesen war – selbst zur Zeit der Assimilation, dachte sie, als sich die Opposition zu den Xeelee als ein klares kollektives Ziel für die Menschheit herauskristallisiert hatte.

Sie sah zu, wie die Vögel endlos brüteten, wie die Schwärme der unbeholfenen Jungen in unkontrollierten elliptischen Orbits um den Sonnenkern jagten, den Eltern hinterher.

Die auf dem Prinzip des Klonens basierende Reproduktion der Vögel schien den Verlauf ihres ganzen Lebens zu bestimmen.

Zunächst schien das Klonen restriktiv – sogar klaustrophobisch. Kollektivziele, die direkt aus dem Bewußtsein der Mutter in das Junge geladen wurden, unterdrückten jegliche individuellen Ambitionen. Die Jungen waren Roboter, von Geburt an darauf programmiert, die Ziele der Rasse zu verfolgen.

Aber dann war auch sie von ihrer Spezies programmiert worden – und das galt bis zu einem gewissen Grad auch für jeden Menschen, der jemals gelebt hatte, überlegte sie. Es war alles nur eine Frage der Nuancierung.

Und überhaupt, wäre es wirklich so schlimm, ein Photino-Vögel zu sein?

Die Kollektivziel-Programmierung mußte einen immensen Fundus an Wissen vermitteln. Noch der jüngste Photino-Vögel würde mit einem Bestand an Erinnerungen und Wissen geboren werden, der das Fassungsvermögen eines Menschen sicher weit überstieg.

Phillida hatte sich gerühmt, daß sie – Lieserl – mit der direkten und präzisen Kontrolle ihrer Erinnerungen und mentalen Funktionen der Mensch mit dem am weitesten entwickelten Bewußtsein werden würde, der jemals existiert hatte. Vielleicht hatte das auch einmal gestimmt. Aber selbst im Zenit ihrer Fähigkeiten war Lieserls Bewußtsein wohl nur ein bloßes Kerzenlicht gewesen, verglichen mit der immensen Kapazität des Bewußtseins, über die selbst der jüngste Photino-Vögel verfügte.

Und vielleicht, so überlegte sie sehnsüchtig, waren all diese Vögel nur Komponenten eines erweiterten Kollektivbewußtseins – vielleicht wäre die Analyse des Bewußtseins eines einzelnen Vogels so irrelevant wie das Studium einer einzelnen Komponente ihrer eigenen Prozessorbänke oder eines Neurons im Gehirn eines konventionellen Menschen.

Vielleicht.

Aber das war auch unwichtig für Lieserl, angesichts des Gefühls von Reichtum, das die Vögel teilen mußten.

Lieserl, die ewige Außenseiterin, beobachtete, wie die Vögel auf ihren schnellen, koordinierten Flügen an ihr vorbeistoben. Sie spürte Ehrfurcht – und noch etwas anderes: Neid.


Sie zog sich vom schrumpfenden Kern der Sonne zurück, hinaus aus der heißen Wasserstoff-Fusionsschale, und jagte in die Hülle – den aufgeblähten Gasmantel, in den sich die äußeren vierzig Prozent der gigantischen Sonnenmasse verwandelt hatten. Die Hülle war ein Universum aus dünnem Gas – so dünn, stellte sie sich vor, daß sie, wenn sie nur gründlich genug hinschaute, durch diese wirbelnden Schichten die dahinterliegenden Sterne sehen konnte (oder das, was von ihnen noch übriggeblieben war).

Die Sonne war selbst zu einem ›Westentaschen-Kosmos‹ geworden, mit einem eigenen Stern – die Wasserstoff-Fusionshülle um den erloschenen Kern –, der im Mittelpunkt dieses dichten, mit Gas angefüllten Raums loderte. Aber die äußeren Schichten, der Mantel, waren so aufgebläht, daß sie den Kern winzig erscheinen ließen. In der Tat, so realisierte sie, glichen die Dimensionen der Sonne denen eines Atoms, wobei der geschrumpfte, flammende Kern in seiner Mantelwolke proportional den gleichen Raum einnahm wie ein Atomkern in seiner Elektronenwolke.

Die Photino-Vögel ballten sich um den schrumpfenden Kern der Sonne und zapften unerbittlich seinen Energievorrat an. Sie befand sich jetzt außerhalb des Hauptschwarms – obwohl einige Nachzügler aus dem externen Universum noch immer an ihr vorbeijagten, auf dem Weg zur Herde. Mit einem neuerlichen Gefühl der Entrücktheit begann sie die Aktivitäten der Vögel mit einer sich verstärkenden Unruhe zu registrieren. Aus dieser Perspektive wirkten die Vögel wie Aas, dachte sie, oder wie winzige, bösartige Parasiten.

Rastlos und beunruhigt bewegte sich Lieserl durch die riesige Hülle. Sie sah, daß selbst dieser immense Raum eine Struktur aufwies. Die Photosphäre des neuen Roten Riesen – seine riesige, glühende Oberfläche – war wirklich strahlungsdurchlässiger geworden; seine Temperatur war so weit gesunken, daß sich Elektronen wieder mit Protonen verbanden und die Durchlässigkeit der Oberflächenschichten erhöhten. So strahlte die Sonne in der Tat – obwohl sich ihre Oberflächentemperatur reduziert hatte – per Saldo mehr Energie ab, als das vor ihrer Expansion der Fall gewesen war.

Um diesen Anstieg der Leuchtkraft zu unterstützen, hatten immense Konvektionszyklen eingesetzt – Zellen, die Millionen Kilometer umfaßten und eine Lebensdauer von mehreren hundert Tagen hatten. Die Konvektionszyklen gruben sich tief in den Mantel, um Energie aus den Kernregionen zu fördern und sie in den Weltraum abzustrahlen – und zusammen mit dieser Energiegewinnung, so erkannte Lieserl, veränderte die Konvektion auch die Zusammensetzung der Sonne und verschmutzte die äußeren Regionen mit Fusionsrückständen wie Stickstoff-14, der aus dem Kernbereich stammte.

Kohärente Maserstrahlung zuckte an den Flanken der Konvektionszellen entlang und überraschte sie durch ihre Intensität.

Während sie sich durch das dünne Gas bewegte, spürte sie schwache Stöße, eine Erschütterung des aus exotischer Materie bestehenden Gitters ihres Interface.

Sie befand sich in einer Turbulenzzone. Der Konvektionsprozeß lief nicht mit maximalem Wirkungsgrad ab, und Energie, die aus den inneren Regionen herausstrebte, war gezwungen, sich in einer komplexen, raumfüllenden Konfiguration turbulenter Zellen aufzufächern. Auch das Magnetfeld der Sonne wurde von diesen Turbulenzen beeinflußt. Sie sah, wie der Fluß aus dem Innern der Zellen herausgedrückt wurde und dünne Schichten zwischen den Oberflächen der Zellen bildete – aber diese Lagen waren instabil und platzten wie Seifenblasen, wobei sie Flußstränge an den Nahtstellen der Turbulenzzellen zurückließen. Lieserl schwamm durch ein Millionen Kilometer weites Netz aus magnetischen Flußsträngen.

Es war eine bizarre Vorstellung, daß sie – wenn sie es wollte – bis zum ehemaligen Orbitalradius der Erde vorstoßen konnte, ohne dabei den Bereich der Sonne zu verlassen.

Lieserl wußte – mit entrückter, abstrakter Trauer –, daß die inneren Planeten, einschließlich der Erde – von dem abgekühlten, rotglühenden Mantel der Sonne verschlungen worden waren. Sie erinnerte sich an ihre kurze, goldene Kindheit: Die glitzernden Strände der Ägäis, den salzigen, lockenden Geruch des Meeres, das Gefühl des Sandes zwischen den Babyzehen. Vielleicht erfreuten sich Menschen, irgendwo, noch an solchen Genüssen.

Aber die Erde – die einzige Welt, die sie gekannt hatte – war für immer verloren.