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DIE LUKE AM OBEREN Schleusenende stand offen und enthüllte einen Ausschnitt üppigen Grüns. Es war ein Fenster zu einer anderen Welt. Das Heulen eines Rudels unvorstellbarer Tiere hallte herab in die Metallkavernen von Deck Eins.

Morrow stand an der Basis des Schleusenschachts und versuchte den Drang zu unterdrücken, wegzulaufen und sich wieder in der Routine seines Alltagsdaseins zu vergraben.

Vier oder fünf der Waldmenschen hockten am Rand der oberen Luke und schauten zu Morrow herunter. Sie alle waren nackt, die haarlosen, glatthäutigen Körper mit Tupfern aus Obstfarben verziert, und sie schienen unglaublich jung. Zwischen ihnen hing ein Netz aus Seilen, und in diesem Netz – das sich langsam und schaukelnd senkte, während die Waldmenschen das Seil abwickelten – war Garry Uvarov.

Der Kopf des uralten Mannes lugte aus einer Masse dicker Decken hervor. Unter den Decken konnte Morrow die klobige, mechanische Kastenform des Rollstuhls ausmachen, in dem Uvarov saß; er wirkte dadurch fast unmenschlich – als ob er mit seinem Stuhl verwachsen wäre, ein bizarrer, verfallener Cyborg.

Das Mädchen mit der Brille – Seilspinnerin – postierte sich neben Morrow am Boden des Schachts. Sie trug ein weites Halsband aus Orchideenblüten, und sonst fast nichts. Sie ging Morrow bis zum Ellbogen, und nun, da er sich an sie gewöhnte, wirkte ihr wildes, rotbemaltes Gesicht fast komisch. Sie berührte seinen Arm; ihre Hand war feingliedrig, klein und unglaublich leicht. »Hab keine Angst«, sagte sie.

Er war peinlich berührt. »Ich habe keine Angst. Wovor sollte ich mich auch fürchten? Weshalb glaubst du, daß ich Angst hätte? Wenn ich Angst hätte, würde ich dann hier sein und dir helfen?«

»Dein Blick. Deine Körperhaltung.« Sie zuckte die nackten Achseln. »Einfach alles. Uvarov sieht aus wie… – ich weiß nicht… eine große Larve – aber er ist nur ein Mensch. Ein sehr alter Mensch.«

»Ich hatte sogar mal gedacht, daß er wie eine Art Gott aussieht. Ein halb menschlicher und halb mechanischer Gott. Mit Leuten wie dir als seine Diener.«

Sie rümpfte die kleine Nase und schob die Brille die Nase hoch, wobei sie die Farbe auf den Wangen verschmierte; als sie zu ihm aufsah, wirkte sie gereizt. »Wirklich. Wir sind eben keine abergläubischen Wilden. Wofür ihr Unterleute uns wohl haltet. Richtig?«

»Nein, ich…«

»Wir wissen, daß Uvarov kein Gott ist. Er ist nur ein Mensch – wenn auch ein sehr alter, seltsamer und besonderer Mensch; ein Mensch, der sich anscheinend daran erinnert, wofür dieses Schiff wirklich gebaut wurde.

Morrow, ich lebe auf einem Baum und stelle Dinge aus Holz und Ranken her. Du lebst…« – sie fuchtelte mit einer Hand herum – »…irgendwo in einem kastenförmigen Haus und fertigst Dinge aus Metall und Glas. Aber das ist auch schon der einzige Unterschied zwischen uns. Meine Leute sind keine Primitiven, und wir sind auch keine Ignoranten. Wir wissen, daß wir alle in einem großen Sternenschiff leben. Vielleicht ist uns das sogar noch bewußter als euch, weil wir nämlich den Himmel sehen können.«

Aber das ist überhaupt nicht der Punkt. Du und ich, wir sind verschieden, überlegte er erregt. Verschiedener, als du dir nur vorstellen kannst.

Seilspinnerin war ein fünfzehnjähriges Mädchen – lebhaft, neugierig, furchtlos, respektlos. Morrow war vor fünf Jahrhunderten fünfzehn gewesen. Selbst damals hätte er Seilspinnerin nur als halbe Portion betrachtet. Seilspinnerin war ihm wohl noch fremder als Garry Uvarov, ahnte Morrow sehnsüchtig.

Einer der Waldmenschen näherte sich ihnen. Mit dezent bemaltem Gesicht lächelte der Mann Morrow an. »Setzt sie dir arg zu?«

Seilspinnerin schnaubte verärgert.

Morrow schaute auf den Ankömmling hinab und versuchte ihn einzuschätzen. Verdammt, diese kleinen Menschen sehen alle gleich aus – er erinnerte sich; das war Pfeilmacher, Seilspinnerins Vater. Er bemühte sich, zurückzulächeln. »Nein, nein. Ich glaube, daß sie mich nur beruhigen wollte. Sie hat gesagt, daß ich vor dem alten Uvarov keine Angst haben sollte.«

Uvarovs Rollstuhl prallte auf die Oberfläche von Deck Eins auf. Drei Leute umstanden Uvarov und lösten die Stricke an dem Stuhl; dann wurden sie durch die Luke über ihnen eingeholt und wanden sich dabei wie Schlangen. Uvarovs blinde Augenhöhlen öffneten sich, und grummelnd erteilte er seinen Adjutanten Anweisungen.

Pfeilmacher beobachtete Morrows Gesicht. »Und hast du denn Angst vor Uvarov?«

Morrow realisierte, daß er mit angespannten, zuckenden Bewegungen an seinen Fingern zupfte; er bemühte sich, das zu unterdrücken. »Nein. Du kannst mir glauben, daß es in meiner Welt viele Fälle von AS-Versagen gibt, die genauso… äh… gravierend – wie bei Uvarov sind. Obwohl vielleicht niemand ganz so alt ist.«

Seilspinnerin kam zu ihnen. »Uvarov ist fertig. Wenn ihr also nicht den ganzen Tag hier herumstehen und quatschen wollt, schlage ich vor, daß wir weitermachen…«


Die kleine Gruppe formierte sich auf Deck Eins. Morrow führte sie in einem geruhsamen Tempo an. Uvarov folgte ihm mit seinem Rollstuhl, wobei der verborgene Motor geräuschvoll surrte. Pfeilmacher und Seilspinnerin flankierten den Stuhl und dirigierten Uvarov mit leichten, stummen Berührungen auf die Schulter.

Als die Waldmenschen über das Deck gingen, patschten ihre Füße leise auf dem abgenutzten Metall; sie hinterließen eine Spur aus Markierungen, Abdrücke aus dem Schmutz des Waldes und Schweiß. Pfeilmacher hatte sich seinen Bogen und den Köcher umgehängt, und Seidenspinnerins Blasrohr baumelte an ihrer Hüfte, obskur und tödlich. Ihre nackten, bemalten Körper hoben sich als exotische Farbtupfer gegen die schmutzige, graubraune Tönung des Decks ab. Die durch die grelle Gesichtsbemalung stechenden Augen waren vor wachem Mißtrauen und Vorsicht geweitet, ein Effekt, der durch Seilspinnerins Brille kaum gemildert wurde.

Morrow war es gelungen, ein Gespräch mit Planer Milpitas anzuberaumen. Er hatte beschlossen, diese Exkursion in das Innere der Decks – dieses erste Aufeinandertreffen zweier Kulturen nach Jahrhunderten der Isolation auf dem Schiff – auf diese drei zu begrenzen. Er wollte die Gesellschaft auf den Decks keinem größeren Kulturschock aussetzen als dem, den er selbst erlebt hatte.

Sie entfernten sich von der offenen Schleuse, erhaschten einen letzten Blick auf den Wald und betraten die für die Decks typische Umwelt aus Metallwänden. Seilspinnerins anfangs noch fester Gang wurde stockend; sie schien einen Teil ihrer Beherztheit zu verlieren und wurde blaß unter der Schminke.

Morrow nahm das mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis. »Was ist los mit dir? Nervös?«

Sie schaute ihn trotzig an und schluckte schwer. »Sollte ich denn? Bist du’s?«

»Seilspinnerin…«, hob Pfeilmacher an.

»Aber das ist es nicht.« Sie legte ihr rundes Gesicht in Falten, wodurch die Brille auf der Nase verrutschte. »Es ist der Gestank. Er ist überall. Drückend, abgestanden… Riechst du es denn nicht?«

»Ich verstehe nicht…«, entgegnete Morrow.

»Seilspinnerin.« Pfeilmachers Stimme war geduldig. »Ich glaube, daß alles in Ordnung ist. Das sind nur -Menschen. Menschen und Metall und Maschinen. Das ist eine andere Welt hier unten; und wir werden lernen müssen, das zu akzeptieren.«

Für einen Augenblick wirkte Seilspinnerin erschrocken. »Nun, es ist aber trotzdem ekelhaft. Sie sollten etwas dagegen tun.«

Morrow war gleichermaßen indigniert und amüsiert. »Etwas dagegen tun? Was zum Beispiel?«

»Zum Beispiel ein paar Bäume pflanzen.« Trotzig hob sie ihr Orchideenhalsband an und drückte es gegen das Gesicht, wobei sie ostentativ den Blütenduft einsog.

Pfeilmacher trat an Morrows Seite. »Sie wollte euch nicht beleidigen«, wiegelte er ernst ab.

Morrow seufzte. »Mach dir deswegen keine Gedanken. Aber… Ich bin ein alter Mann, Pfeilmacher. Älter vielleicht, als du dir vorstellen kannst.« Er schaute den kleinen Waldläufer von der Seite an. Pfeilmacher vermittelte einen kompetenten und pragmatischen Eindruck, und sein ein Meter zwanzig kleiner Körper, die bloßen Füße und das bemalte Gesicht wirkten in der sterilen Umwelt von Deck Eins absolut deplaziert. »Ich mache mir etwas mehr Gedanken als die meisten Leute hier unten. Und ich habe deswegen auch schon genug Ärger gehabt. Aber dennoch bin ich alt. Ich kann einfach nicht anders; ich fürchte Veränderungen – Ungewißheit – mehr als alles andere. Ihr Leute bedeutet eine enorme Irritation für die Decks – fast eine Invasion. Mein Leben wird nie mehr so sein wie früher. Und das ist unangenehm.«

Pfeilmacher verlangsamte den Schritt. »Wirst du uns helfen?« fragte er gleichmütig. »Du hast gesagt…«

»Ja, ich werde euch helfen. Ich verliere schon nicht die Nerven, Pfeilmacher; ich werde mein Wort halten. Ich weiß schon seit langem, daß die Art und Weise, wie die Dinge hier unten geregelt werden, nicht logisch ist. Vielleicht werde ich, indem ich dir helfe – indem ich Uvarov helfe –, etwas mehr Sinn in die ganze Sache bringen können.« Wenigstens, dachte er, verstehe ich jetzt, wozu all diese Ratschen und Metallbügel, die ich schon seit so vielen Jahrzehnten herstelle, dienen. Er grinste und fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Aber ich weiß nicht genau, wie sich das alles entwickeln wird. Ihr seid nämlich so – anders.«

Pfeilmacher lächelte. »Dann ist Angst – oder zumindest Vorsicht – die einzig rationale Reaktion.«

»Es sei denn, man ist fünfzehn Jahre alt.«

»Das habe ich gehört.« Seilspinnerin schloß sich ihnen wieder an. Sie knuffte Morrow leicht in die Rippen; ihre kleine, harte Faust drang in Fettschichten ein, und er versuchte, den plötzlichen, heftigen Schmerz zu ignorieren.

Sie gingen eine Rampe hinab und wechselten von Deck Eins auf Deck Zwei, die erste der bewohnten Ebenen.

Morrow versuchte, seine Welt mit den frischen Augen der Waldmenschen zu betrachten. Die dreckigen, fleckigen Oberflächen der ober- und unterhalb befindlichen Schotts, die entfernte, leicht dunstverhangene Schiffswand, all das zwängte die Welt in einen Rahmen – geregelt, geordnet und geschlossen. Riesige Flächen aus Grünspan entstellten einen Teil der Wandung. Aufgänge durchsetzten die Decks wie hundert Meter lange Spinnennetze, und die Liftschächte waren vertikale Säulen, welche die Ebenen durchstießen und scheinbar den metallenen Himmel stützten. Die strenge konzentrische Geometrie von Deck Zwei war leicht zu ermitteln. Gebäude – Wohnungen, Fabriken, die Tempel der Planer – drängten sich gehorsam in den präzisen Sektoren und Segmenten des Decks.

Morrow fühlte sich verlegen und irgendwie deprimiert. Seine Welt war einfallslos und beschränkt – wie das Innenleben einer großen Maschine, dachte er. Und noch dazu einer verschlissenen, versagenden, alternden Maschine.

Sie betraten einen Verbindungssteg, der direkt zu Milpitas’ Tempel führte.

Eine Frau kam auf sie zu. Morrow kannte sie – sie wurde Bewahrerin genannt; sie betrieb einen Laden in einem heruntergekommenen Abschnitt von Sektor 4. Mit niedergeschlagenen Augen marschierte sie auf dem Steg zielstrebig auf sie zu. Sie sah müde aus, dachte Morrow; sie mußte wohl Schichtende haben.

Dann schaute sie auf und registrierte die Waldmenschen. Bewahrerin verhielt mitten auf dem Steg und ließ den Unterkiefer hängen. Morrow sah, daß ihr Schweißperlen auf die Kopfhaut traten.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Morrow, daß Seilspinnerin nach ihrem Blasrohr griff.

Er hob eine Hand und versuchte zu lächeln. »Bewahrerin. Hab keine Angst. Wir sind auf dem Weg zum Tempel, um…«

Er brach den Satz ab. Er konnte schier sehen, daß Bewahrerin ihn nicht hörte. Vielmehr schien sie Schwierigkeiten zu haben, ihren eigenen Augen zu trauen; sie schaute an Morrows Gefolge vorbei, den Steg entlang zu ihrer Wohnung.

Es war, als ob die Waldläufer für sie einfach nicht existierten – existieren konnten.

Sie bot ein absurdes Bild. Aber sie erinnerte Morrow unangenehm an seine eigene erste Reaktion auf Seilspinnerin.

Bewahrerin verließ hastig den Steg, umging sie und setzte ihren Weg fort, ohne sich nochmals umzusehen. Seilspinnerin schien sich zu entspannen. Sie hängte sich das Blasrohr wieder um die Schulter.

»Bei allen Heiligen«, fuhr Morrow das Mädchen in plötzlicher Ungeduld an, »du hattest von der armen Frau nichts zu befürchten. Sie hatte schreckliche Angst. Hast du das denn nicht gesehen?«

Seilspinnerin erwiderte seinen Blick mit großen Augen.

Uvarov erhob seinen blinden Kopf; Pfeilmacher erklärte ihm kurz, was vorgefallen war. Uvarov lachte bellend. »Du irrst dich, Morrow. Natürlich befand sich Seilspinnerin hier in Gefahr. Das gilt auch für uns alle.«

Der neben Morrow dahintrottende Pfeilmacher runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht. Dieser Ort ist zwar seltsam, aber ich erkenne keine Gefahr.«

»Dem stimme ich zu«, meinte Morrow. »Du bist hier nicht gefährdet…«

Uvarov lachte. »Meinst du wirklich? Pfeilmacher, du solltest diese Lektion nicht vergessen. Du könntest dadurch deine Lebenserwartung etwas verlängern. Das Wertvollste für einen Menschen ist seine Vorstellungswelt: Noch wertvoller sogar als das eigene Leben. Die Geschichte lehrt uns das immer wieder, mit ihrer endlosen Parade von Kriegen – Menschenopfer en masse -Tausende von Toten wegen trivialster Differenzen in der Exegese.

Wir passen nicht in die Vorstellungswelt der Leute auf diesen Decks. Diese arme Frau ist um uns herumgegangen, in der Überzeugung, daß wir nicht real seien! Aufgrund unserer Präsenz – durch unsere bloße Existenz – beeinträchtigen wir die Vorstellungswelt der hier lebenden Menschen… besonders derjenigen, welche diese Gesellschaft kontrollieren.

Sie mögen sich dessen vielleicht nicht einmal bewußt sein, aber sie werden versuchen, uns zu vernichten.

Das Leben von drei oder vier Fremden ist ein geringer Preis, der für die Bewahrung einer Vorstellungswelt zu entrichten wäre, könnt ihr mir glauben.«

»Nein«, widersprach Morrow. »Ich kann das nicht akzeptieren. Ich stimme zwar nicht immer mit den Planern überein. Aber sie sind keine Killer.«

»Wirklich nicht?« Uvarov lachte erneut. »Die Survivalists – deine ›Planer‹ – sind psychotisch. Natürlich. Genauso wie ich. Und du. Wir sind eine Spezies mit fundamentalen Schwächen. Der Großteil der Menschheit ist in ihrer Geschichte überwiegend einer Reihe massenpsychotischer Täuschungen erlegen. Die Etiketten haben sich zwar geändert, aber die Natur dieser Täuschungen an sich ist im wesentlichen gleich geblieben…«

Uvarov seufzte. »Wir haben dieses wundervolle Schiff erbaut – wir haben Suprahet geschaffen. Wir träumten davon, die Spezies selbst zu retten. Wir haben eine Reise zu den Sternen und in die Zukunft angetreten…

Leider mußten wir jedoch den Inhalt unserer Köpfe auch mitnehmen.«

Morrow erinnerte sich an den Gesichtsausdruck von Bewahrerin, als sie die Existenz der Waldmenschen verdrängt hatte. Vielleicht, so überlegte er düster, würde diese Sache noch schwieriger werden, als er es sich ohnehin schon vorgestellt hatte.


Lieserl erinnerte sich daran, wie sie zum erstenmal vollständig den Kontakt zur Außenwelt verloren hatte. Es hatte sie härter getroffen als erwartet.

Sie hatte ihre Systeme überprüft; die telemetrische Verbindung stand noch immer, aber der Input von der Gegenstelle hatte einfach aufgehört – abrupt, ohne jede Ankündigung.

Verwirrt, perplex, verärgert hatte sie sich für eine Weile in sich selbst zurückgezogen. Wenn die Menschen, die sie konstruiert und an diesem fremdartigen Ort ausgesetzt hatten, jetzt entschlossen hatten, sie aufzugeben – nun, dann würde sie ihnen…

Später, als sie sich etwas beruhigt hatte, versuchte sie zu ergründen, warum die Verbindung nicht mehr bestand.

Auf der Grundlage der Daten, die durch Michael Pooles quichottischen Wurmloch-Flug in die Zukunft gewonnen worden waren, hatte Suprahet eine grobe Chronologie der zukünftigen Menschheitsgeschichte erstellt. Lieserl hatte ihre inneren Uhren mit der Suprahet-Chronologie abgeglichen.

Als sie zum erstenmal den Kontakt verlor, waren bereits Jahrtausende seit ihrer Einspeisung in die Sonne verstrichen.

Sie erfuhr, daß die Erde besetzt war.

Die Menschen waren mit ihren klobigen, trägen unterlichtschnellen GUT-Schiffen aus dem Sonnensystem ausgeschwärmt. Es war eine Zeit des Optimismus gewesen, der Hoffnung, der Expansion in eine grenzenlose Zukunft.

Dann war man irgendwo zwischen den Sternen auf die ersten extrasolaren Intelligenzen gestoßen: die Squeem, eine Rasse von Kollektivwesen mit einem weitgespannten Netzwerk aus Handelskolonien.

Mit unglaublicher Schnelligkeit hatten die Squeem die militärischen Kapazitäten der Menschheit ausgeschaltet und die Erde besetzt. Die systematische Ausbeutung der solaren Ressourcen – zum Nutzen einer fremden Macht – hatte begonnen.

Zuweilen spekulierte Lieserl darüber, warum es trotz der düsteren Warnungen von Suprahet – die auf Pooles Daten basierten – nicht gelungen war, solche Katastrophen wie die Besatzung durch die Squeem zu verhindern, die Suprahet prophezeit hatte. Vielleicht existierte eine Unabwendbarkeit der Geschichte – vielleicht war es einfach nicht möglich, den Gang der Ereignisse aufzuhalten, wie katastrophal auch immer er war.

Aber Lieserl konnte eine solch fatalistische Betrachtungsweise nicht akzeptieren.

Vielleicht bestand die schlichte Wahrheit darin, daß – mittlerweile waren genügend Jahrhunderte vergangen, um die Prognosen von Suprahet Realität werden zu lassen – diese Prognosen einfach nicht mehr akzeptiert wurden. Die Menschen, die den Squeem begegnet waren, mußten Pioniere gewesen sein – Händler, Gestalter neuer Welten. Für sie waren die Erde und das Sonnensystem nur eine entfernte Legende gewesen. Wenn sie überhaupt jemals von Suprahet gehört hatten, würden sie diese Organisation als eine irrelevante Randgruppe betrachtet haben, die sich fanatisch an fragmentarische Unheilsprophezeiungen aus der Vergangenheit klammerte, mit keiner größeren Bedeutung als Astrologen oder Wahrsager.

Aber, so realisierte Lieserl, die Prognosen von Suprahet waren tatsächlich richtig gewesen.

Nach dem Interregnum der Squeem hatten sie den Kontakt zu ihr plötzlich wieder aufgenommen.

Sie erinnerte sich, wie auf einmal Worte und Bilder durch die wiederbelebten Telemetrieverbindungen strömten. Anfangs hatte sie diese Unterbrechung ihrer trägen Drift durch das Herz der Sonne schockiert.

Ihr neuer Capcom – desolat wirkend, unterernährt, aber über die Maßen enthusiastisch – berichtete ihr, daß sie das Joch der Squeem abgeschüttelt hätten. Die Menschheit war wieder frei und in der Lage, ihr Potential und ihre Ressourcen nach Belieben zu nutzen. Und nicht nur das, erfuhr Lieserl; die Besatzung der Squeem hatte den Menschen ein Vermächtnis der Hochtechnologie hinterlassen – einen Hyperantrieb, der interstellare Flüge mit Überlichtgeschwindigkeit ermöglichte.

Wie sich bald herausstellte, stammte die Technologie des Hyperantriebs nicht von den Squeem selbst. Sie hatten sie vielmehr von einer anderen Spezies akquiriert, auf welche Art auch immer; genauso, wie die Menschheit sie jetzt ›geerbt‹ hatte.

Die wirklichen Konstrukteure des Großteils der galaktischen Technologie waren bekannt… zumindest dem Namen nach.

Xeelee.

Die verlorenen Kolonien der Menschen auf den näheren Sternen wurden kontaktiert und wiederbelebt, und eine neue, explosive Welle der Expansion setzte ein, die durch den Hyperantrieb ausgelöst wurde. Die Menschen breiteten sich wie eine Infektion in der Galaxis aus, energisch und mit neuem Optimismus.

Lieserl schwebte durch ihre Phantasie aus Sonnenwolken und beobachtete das alles verwirrt aus der Ferne. Der Kontakt zu ihr erfolgte nur sporadisch; Lieserl mit ihrer Wurmloch-Technologie war ein Fossil – ein bizarres Artefakt aus ferner Vergangenheit, das langsam einem vergessenen Ziel im Innern der Sonne zustrebte.

In den ersten Jahren nach der Vertreibung der Squeem hatte die Menschheit eine günstige Entwicklung genommen – sie war aufgeblüht und hatte expandiert. Als Lieserl jedoch im Schnellvorlauf die Menschheitsgeschichte betrachtete, wurde sie immer deprimierter. Das Universum jenseits des Sonnensystems schien ein Ort voller unbedeutender, unkreativer Spezies zu sein, die sich ständig um Brosamen der Xeelee balgten. Aber vielleicht, so dachte sie düster, war ja gerade das die richtige Arena für die Menschheit.

Dann – mit vernichtender Intensität – wurde ein Krieg gegen eine andere extraterrestrische Macht geführt und verloren: Die Qax.

Die Erde wurde erneut besetzt.


Sie stellte fest, daß sich mehr Vögel dem Schwarm anschlossen, als sich von ihm lösten.

Die auf die Wolke zustrebenden Vögel kamen aus allen Richtungen. Aber die Pfade der abfliegenden Vögel wiesen ein Muster auf: Der stete Fluß wegfliegender Vögel folgte einer Richtung auf die Äquatorebene der Sonne, einem unbekannten Ziel entgegen.

Der Punkt war, daß mehr Vögel ankamen als abflogen. Die Wolke im Herzen der Sonne wurde vergrößert. Die Vögel ließen die Wolke absichtlich expandieren.

Sie hatte den Eindruck, zögernd an einer Deduktionskette entlanggezogen zu werden, zu einem Ort, zu dem sie nicht wollte. Absurderweise stellte sie fest, daß sie die Vögel mochte; sie wollte nicht schlecht von ihnen denken.

Aber das blieb ihr nicht erspart.

War es wirklich möglich? Was, wenn die Vögel wußten, was sie der Sonne antaten? Oh, die exakte Ausprägung ihrer Intelligenz – ihr Bewußtsein – spielte dabei gar keine Rolle. Sie konnten sogar eine Art Kollektivbewußtsein darstellen, wie die Squeem. Der relevante Aspekt war ihre Intention.

Waren selbst die wildesten Spekulationen von Suprahet am Ende noch korrekt? Repräsentierten die Vögel eine Form bösartiger Intelligenz, welche die Sonne erlöschen lassen wollte?

Erstickten sie das Fusionsfeuer der Sonne mit Absicht?

Und wenn ja, weshalb?

In Gedanken versunken tauchte sie tiefer in den Schwarm ein, beobachtete und korrelierte.


Sie erreichten den Tempel der Suprahet-Planer in Sektor 3.

Die kleine Gesellschaft verlangsamte den Schritt. Pfeilmacher und Seilspinnerin schienen die optischen und akustischen Eindrücke ihrer Reise bisher gut bewältigt zu haben, aber die glühende, pyramidenförmige Masse des über ihnen drohenden Tempels schien sie schließlich doch einzuschüchtern. Morrow konnte ja seine eigene Nervosität kaum unterdrücken. Schließlich waren erst ein paar Schichten seit seinem letzten, unerquicklichen Personalgespräch mit Milpitas vergangen; und nun, wo er hier stand, wunderte er sich über seine eigene Kühnheit, einfach so wieder an diesem Ort zu erscheinen.

Garry Uvarov regte sich in seinem Kokon aus fleckigen Decken, wobei sich sein blinder Kopf suchend bewegte. Als er sprach, raschelten die papierdünnen Wangen. »Was ist los? Warum halten wir?«

»Wir sind angekommen«, erklärte Morrow. »Das ist der Tempel der Planer. Und…«

Uvarov schnaubte dumpf. »Tempel. Natürlich mußten sie diese Bezeichnung wählen. Pfeilmacher«, grollte er. »Sag mir, was du siehst.«

Zögernd beschrieb Pfeilmacher die dreiseitige Pyramide, die blau glühenden Kanten, die goldbraun schimmernden, beschichteten Flächen.

Uvarovs Kopf zitterte; er versuchte wohl zu nicken. »Eine Interface-Nachbildung. Diese verdammten Survivalists; immer so von sich selbst eingenommen. Tempel.« Er drehte den Kopf; der faszinierte Morrow konnte die einzeln hervortretenden Halswirbel sehen. »Gut. Worauf warten wir noch?«

Morrow, dessen Furcht und Nervosität sich in der Brust verdichteten, bewegte sich auf den Tempel zu.


»Milpitas? Milpitas?« Uvarovs hageres Gesicht wirkte interessiert. »Ich habe mal eine Milpitas gekannt: Serena Hervey Gallium Harvey Milpitas…«

»Meine Großmutter«, erläuterte Planer Milpitas. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die langen Finger aufeinander, eine vertraute Geste, die Morrow fasziniert registrierte. »Gehörte zur Originalbesatzung. Sie ist schon vor langer Zeit gestorben…«

Uvarovs Rollstuhl bewegte sich unablässig in allen Richtungen über Milpitas’ weichen Teppich; Pfeilmacher, Morrow und Seilspinnerin mußten sich an der hinteren Wand von Milpitas’ kleinem Büro zusammendrängen, um nicht von Uvarov angefahren zu werden. »Das weiß ich alles, verdammt. Ich habe nicht nach ihrer Biographie gefragt. Ich sagte, daß ich sie kannte. Sie hatte ein Schandmaul, wie alle Marsianer.«

Milpitas musterte Uvarov hinter seinem Schreibtisch. Morrow konzedierte mit einem gewissen Respekt, daß die Invasion dieser bemalten Wilden und dieses hageren Alten aus der Zeit des Abfluges des Schiffes die Haltung des Planers, seine Sicherheit, über den Haufen geworfen hatte.

»Warum seid ihr hergekommen?« fragte der Planer.

»Weil du nicht zu mir gekommen wärst«, grollte Uvarov. »Du arroganter Bastard. Ich hätte…«

»Aber warum«, insistierte Milpitas mit geduldigem Widerwillen, »wolltet ihr alle zu mir?« Er ließ seine Fischaugen über die schweigenden Waldmenschen wandern. »Warum seid ihr denn nicht in eurem Dschungel geblieben und dort mit euren Freunden auf Bäume geklettert?«

Morrow hörte, wie Seilspinnerin beim Atmen knurrte.

Uvarovs Nase flatterte, und die papierene Haut straffte sich. »Ich verbitte mir, von einem wie dir auf diese Art angesprochen zu werden. Wer hat hier das Sagen?«

»Ich«, entgegnete Milpitas ruhig. »Und jetzt beantwortet meine Frage.«

Garry Uvarov hob den Kopf; in dem trüben, indirekten Licht von Milpitas’ Büro wirkten seine Augenhöhlen unendlich tief. »Ihr Leute habt euch nicht im geringsten geändert.«

Milpitas schaute amüsiert drein. »Welche Leute, bitte?«

»Ihr Survivalists. Deine verdammte Großmutter und der Rester Besatzung, die so dachten wie sie; die glaubten, daß sie die Größten wären, die heiligen Bewahrer der Mission von Suprahet. Immer haben sie versucht, jeden zu kontrollieren und uns alle in eure verdammte Hierarchie zu pressen.«

»Wenn ihr den ganzen Weg gemacht habt, nur um über soziale Strukturen zu diskutieren, dann tun wir das eben«, meinte Milpitas konziliant. »Es gibt Gründe für die Schaffung hierarchischer Sozietäten – Gründe für die Errichtung von Bürokratien. Haben Sie jemals darüber nachgedacht, alter Mann?« Er wedelte jovial mit der Hand. »Wir sind hier – offensichtlich – in einer endlichen Umgebung eingeschlossen. Wir verfügen nur über limitierte Ressourcen. Wir haben auch keine Möglichkeit, weitere Ressourcen zu erschließen. Also benötigen wir Kontrolle. Wir müssen planen. Wir sind auf Beständigkeit des Verhaltens angewiesen: Eine regulierte, auf Effizienzmaximierung ausgerichtete Gesellschaft, bis das übergeordnete Ziel erreicht ist. Und eine Bürokratie ist der beste Weg, um…«

»Macht!« Plötzlich tobte Uvarov im höchsten Diskant.

Sein Kopf ruckte auf dem kurzen Hals nach vorn. »Ihr habt Wände um die Welt errichtet, Wände um die Menschen. Beständigkeit des Verhaltens ist für den Arsch. Wir sprechen über Macht, Milpitas. Und nur darüber. Die Macht, zu nivellieren und zu kontrollieren -Analphabetentum zu verordnen –, selbst das Recht zur Reproduktion aufzuheben. Du bist ein verdammter Unmensch; aber das wart ihr ja schon immer. Und…«

Milpitas lachte; er wirkte völlig ungerührt. »Wie lange sind Sie schon dort oben in den Bäumen isoliert, Doktor Uvarov? Wie viele Jahrhunderte? Und haben Sie diese Bitterkeit die ganze Zeit über kultiviert?«

»Ihr seid von Kontrolle besessen. Ihr Survivalists… Mit eurer pervertierten Vision der Ziele von Suprahet, eurem Ausschließlichkeitsanspruch auf die Wahrheit.«

Milpitas’ Gelächter legte sich, und ein kaltes Licht erschien in seinen Augen. »Ich kenne Ihre Biographie, Doktor Uvarov. Jeder kennt sie. Ihre Ablehnung der AS-Behandlung, Ihr bizarres Experiment, langlebige Menschen zu züchten – Ihre Opfer, müßte es wohl eher heißen… Und da wollen Sie mir etwas von Besessenheit erzählen. Von Kontrolle. Sie wagen es, mir mit solchen Dingen zu kommen…«


Während seines kurzen Kontaktes mit den Waldmenschen hatte Morrow von Uvarovs eugenischen Ambitionen erfahren.

Uvarov hatte die AS-Behandlung – und überhaupt alle künstlichen Maßnahmen – zum Erreichen der Unsterblichkeit abgelehnt. Um die Zucht zu verbessern, muß man die Spezies verändern, so argumentierte er.

Die Menschen wurden von ihren Genen regiert. Sie – wie alle anderen Lebewesen auch – waren von den Genen entwickelte Maschinen, die ihr Überleben – das der Gene – gewährleisteten. Gene spendeten ihren Wirten Leben – und töteten sie auch.

Gene, die ihre Träger umbrachten, wurden üblicherweise aus dem Gen-Pool entfernt. So würde ein Gen, das einen jungen Menschen tötete, auch nicht auf Nachkommen übertragen werden können. Aber ein Gen, das alte Menschen umbrachte, nachdem sie sich vermehrt hatten, konnte überleben.

Also konnten sich paradoxerweise tödliche Gene in älteren Menschen verbreiten.

Uvarov war zu der Erkenntnis gelangt, daß der Altersverfall nur auf der Aktivität spät wirkender tödlicher Gene beruhte, die auch durch Fortpflanzung unter jungen Menschen nie aus dem Gen-Pool herausselektiert werden konnten.

Nach zweihundertjährigem Flug hatte sich Garry Uvarov dann dazu entschlossen, den Bestand an Menschen zu veredeln, den das Raumschiff in die Zukunft trug. Die AS-Behandlung nutzte nanobotische Techniken, um den Alterungsprozeß auf der biochemischen Ebene direkt zu unterbinden, drang aber nicht bis zu den Genen selbst vor.

Noch bevor die AS-Behandlung bei ihm selbst versagte, hatte Uvarov den letalen Genen, die ihn töteten, den Kampf angesagt.

Er und seine Anhänger hatten das Walddeck besetzt und es praktisch abgeriegelt. Er schickte seine Leute in den Wald und wies sie an, ein einfaches Leben zu führen: Sich von den Früchten des Waldes zu nähren und primitive Werkzeuge anzufertigen. Die AS-Behandlung wurde suspendiert, und nach wenigen Jahren hallten der Waldboden und das Blätterdach von Kinderstimmen wider.

Dann ließ Uvarov Fortpflanzung erst ab einem Alter von vierzig Jahren zu.

Uvarov hatte dieses Reglement mit eiserner Disziplin durchgesetzt; er und ein Team aus treuen Jüngern pirschten durch den Wald oder kletterten mit grimmigem Gesicht in das Laubdach und hatten bei dieser Gelegenheit schon einige schnelle, saubere Abtreibungen vorgenommen.

Nach einigen Generationen verschob er das früheste Empfängnisalter auf fünfundvierzig. Dann auf fünfzig.

Die Population des Waldes nahm zunächst ab, begann sich dann aber langsam wieder zu erholen. Und allmählich wurden die tödlichen Gene aus dem Gen-Pool eliminiert.

Mit der Zeit entstand ein gewisser Kontakt – eine Art impliziten Handels – zwischen den Bewohnern der unteren Decks und den Dschungelmenschen. Aber es erfolgte kein Eindringen von oben, es bestand keine Absicht, Deck Null zu öffnen. Und so setzte Uvarov sein Experiment mit eiserner Entschlossenheit fort, Jahrhundert für Jahrhundert.

Pfeilmacher und Seilspinnerin – jung-alte Pygmäen mit Gesichtsbemalung – waren das außergewöhnliche Ergebnis.


Milpitas folgte Uvarovs heftigen Einlassungen mit offensichtlicher Verwirrung. »Als ich diese Arbeit begonnen hatte, lag die durchschnittliche Lebenserwartung ohne AS bei etwa einhundert Jahren. Heute haben wir Personen, die über zweihundertfünfzig Jahre alt sind…« Speichel lief aus seinem zahnlosen Mund. »Dazu reichen tausend AS nicht aus. Nicht einmal zehntausend würden genügen. Ich spreche davon, die Natur der Spezies Mensch zu verändern…«

Milpitas lachte ihn aus. »Es dürfte wohl kaum jemals eine besessenere Überwachung einer Gesellschaft gegeben haben als das. So vielen Generationen die Segnungen der AS vorzuenthalten…« Der Planer schüttelte den kahlen, narbigen Kopf. »So viel Humanpotential zu vergeuden, so viele ›stumme, ruhmlose Miltons‹…«

»Ich transformiere die Spezies selbst«, zischte Uvarov. »Und es funktioniert, verdammt. Hier, Pfeilmacher…« – er vollführte einige unsichere Gesten -»…ist achtzig Jahre alt. Achtzig. Schau ihn dir an. Durch die erfolgreiche Eliminierung der tödlichen Gene habe ich…«

»Wenn Ihr Programm so löblich war, warum haben Sie es dann für notwendig erachtet, sich auf dem Walddeck zu verbarrikadieren?«

Der hilflose Morrow fühlte sich, als ob er in einen alten, sinnlosen Streit hineingeraten wäre. Er erinnerte sich an sein letztes Gespräch mit Milpitas, in dem dieser – ruhig und dezidiert – die Realität der Gesellschaft über Deck Eins bestritten hatte: Eine Gesellschaft, deren unabhängige Existenz schon lange offensichtlich gewesen war, bevor Pfeilmacher und die anderen Brandpfeile durch die offenen Luken der Schleuse geschossen hatten. Und auch jetzt – sogar als er mit Uvarov und diesen bemalten Primitiven konfrontiert wurde – schien Milpitas außerstande zu sein, sich von seiner begrenzten Weltsicht zu lösen.

Uvarov war lautstark, von fremdartigem Aussehen, offenkundig halb verrückt und in einer partiellen, unvollständigen – und absolut unflexiblen – Vorstellungswelt gefangen. Und dennoch, sinnierte Morrow unbehaglich, folgte Milpitas auf seine Art genauso starren Denkmustern und neigte gleichermaßen dazu, die Beweise seiner Sinne zu ignorieren.

Wir sind eine erstarrte Gesellschaft, überlegte Morrow düster. Intellektuell tot. Vielleicht hat Uvarov recht mit seinen Vorstellungswelten. Vielleicht sind wir alle verrückt, nach diesem langen Flug. Und doch – und doch, wenn Uvarov recht damit hat, daß das Ende des Fluges erreicht ist – dann können wir uns diese Einstellung womöglich nicht länger leisten.

Mit dem Anflug von Verzweiflung wandte er sich an Milpitas. »Sie müssen ihm zuhören. Die Situation hat sich verändert, Planer. Das Schiff…«

Milpitas ignorierte ihn. Er sah müde aus. »Diese Sache geht mir langsam auf die Nerven. Ich werde meine Frage wiederholen. Und dann werdet ihr verschwinden. Alle.«

»Uvarov, warum sind Sie hergekommen?«

Uvarov rollte mit seinem Stuhl vorwärts; Morrow hörte einen dumpfen Stoß, als der Rahmen des Rollstuhls leicht mit Milpitas’ Schreibtisch kollidierte. »Survivalist«, meinte er, »die Reise ist vorüber.«

Milpitas runzelte die Stirn. »Welche Reise?«

»Der Flug der Great Northern. Unsere Odyssee durch Raum und Zeit, zum Ende der Geschichte.« Sein zerstörtes Gesicht verzog sich. »Ich gebe es nur ungern zu, aber unsere Fraktionsbildung ist nicht länger sinnvoll. Wir müssen jetzt zusammenarbeiten – das Wurmloch-Interface erreichen und…«

»Weshalb«, fragte Milpitas ungerührt, »glauben Sie, daß die Reise zu Ende sei?«

»Weil ich die Sterne gesehen habe.«

»Unmöglich«, erwiderte Milpitas. »Sie haben keine Augen mehr. Sie sind verrückt, Uvarov.«

»Mein Volk…« Uvarovs Stimme reduzierte sich zu einem Krächzen. Seilspinnerin trat vor, nahm eine hölzerne Wasserschüssel aus einem Fach in der Struktur des Rollstuhls und ließ etwas Flüssigkeit in Uvarovs höhlenartigen Mund tröpfeln.

»Meine Leute sind meine Augen«, erklärte Uvarov keuchend. »Pfeilmacher ist auf den höchsten Baum geklettert und hat die Sterne studiert. Ich weiß es, Milpitas. Und ich verstehe es.«

Milpitas’ Augen wurden zu Schlitzen. »Sie verstehen nichts.« Er schaute kurz und abschätzig auf Pfeilmacher, der seinen Blick mit kühler Überlegung zurückgab. »Ich habe keine Ahnung, was diese – Person – gesehen hat, als sie auf diesen Baum geklettert ist. Aber ich weiß, daß Sie sich irren, Uvarov. Ende der Unterhaltung.«

»Aber die Sterne – begreifen Sie denn nicht, Milpitas? Es war kein Sternenbogen zu sehen. Die relativistische Phase des Fluges muß vorbei sein…«

Milpitas grinste schmallippig. »Selbst jetzt, durch den Nebel, der Ihren Verstand umgibt, werden Sie vielleicht eingestehen, daß eine große Stärke der von Ihnen derart verachteten Bürokratie im Erstellen von Aufzeichnungen liegt.

Uvarov, wir haben eine gute Buchführung. Und wir wissen, daß Sie sich irren. Nach dieser langen Zeit besteht sicher eine gewisse Unsicherheit, aber wir wissen, daß der tausendjährige Flug frühestens in einem halben Jahrhundert abgeschlossen sein wird.«

Das ließ eine Saite in Morrows Herz anklingen. Er hatte Uvarovs Verlautbarungen wohl nie so recht geglaubt – aber die Autorität eines Planers war dann doch etwas anderes. Nur noch fünfzig Jahre…

»Du bist ein verdammter Narr«, giftete Uvarov; der Rollstuhl ruckte im Takt seiner Erregung vor und zurück.

»Ganz sicher«, erwiderte Milpitas ruhig. »Aber wir werden uns erst dann Gedanken um das Ende der Reise machen, wenn es wirklich aktuell wird. Jetzt möchte ich, daß Sie mein Büro verlassen, alter Mann. Ich habe auch so schon genug zu tun…«

Wie unter einem Zwang trat Morrow vor. »Planer. Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben? Zum ersten Kontakt zwischen den Decks seit Hunderten von Jahren…«

»Und dem letzten, wenn es nach mir geht.« Milpitas wandte Morrow das Gesicht zu; seine restaurierten Züge waren wie eine Skulptur, dachte Morrow abwesend, ein Ding aus kalten, harten Flächen und Kanten. »Schaff sie hier raus, Morrow. Bring sie wieder zu ihrer Dschungelwelt zurück.«

»War es ein Fehler von mir, daß ich sie hergebracht habe?«

»Schaff sie weg.« Milpitas’ Stimme und die schwellenden Halsmuskeln ließen Anspannung erkennen. »Bring sie raus!«


Sie fragte sich, wie sie wohl auf diese Photino-Wesen wirkte.

Sie hatten sicher genauso viele Schwierigkeiten mit der Wahrnehmung baryonischer Materie, wie sie als baryonisches Wesen mit ihrer Ortung hatte. Vielleicht sahen die Vögel ein bleiches Tetraeder, den schwachen Dunkelmaterie-Schatten des aus exotischer Materie bestehenden Interface-Gitterrohrrahmens, der die Grundlage ihrer Existenz darstellte. Vielleicht erahnten sie auch die Anwesenheit des Wurmlochs selbst, den Schlund aus Raum und Zeit, durch den die Wärme abgeführt wurde, die sie sonst umgebracht hätte.

Die alten Theorien harten postuliert, daß Partikel aus Dunkelmaterie mit den schwärmenden Protonen des Sonnenkerns kollidierten, einen kleinen Betrag ihrer Energie absorbierten und so Wärme vom Fusionskern ableiteten. Auf diese Art, so stellte man sich vor, wurde die Sonne von Dunkelmaterie gekühlt.

Sie realisierte jetzt, daß diese Vorstellungen im Grundsatz zwar stimmten, aber zu ungenau waren. Die Vögel absorbierten solare Wärmeenergie. Sie bezogen ihre Nahrung aus der Interaktion zwischen Protonen und dem sie umgebenden Plasma. Durch die Aufnahme von Energie aus der Wechselwirkung zwischen Photinos und Protonen wuchsen die Vögel, bewegten sich auf einem spiralförmigen Kurs vom wärmeren, dichteren Kern der Sonne weg und führten so die Wärmeenergie ab.

Die alten Theoretiker hatten einen auf Partikeln basierenden physikalischen Prozeß angenommen, der die Kernwärme ableitete und damit die Fusionsvorgänge unterdrückte. In Wirklichkeit jedoch ernährten sich die Vögel von der Wärme der Sonne.

Und durch diese Nahrungsaufnahme – wie dumme Parasiten – würden sie ihren Wirt schließlich töten.

Dumm – es sei denn, es hätte sich schon von vornherein um Vorsatz gehandelt.


Lieserl hatte von den Qax erfahren.

Ursprünglich waren die Qax turbulente Zellballungen in den Meeren eines jungen Planeten. Weil es ihrer nur so wenige gab, waren die Qax von Natur aus unkriegerisch – ein einzelnes Leben war viel zu wertvoll für sie. Sie waren die geborenen Händler; die Qax kooperierten wie unabhängige Unternehmen miteinander, im perfekten Wettbewerb.

Sie hatten die Erde nur deswegen besetzt, weil es so einfach war – weil sie es konnten.

Das einzige Gesetz, dem die sich zankenden jungen Rassen der Galaxis unterlagen, waren nach Lieserls Erkenntnis die eisernen Regeln der Ökonomie. Die Qax versklavten die Menschheit nur deshalb, weil eine ökonomisch zulässige Übersetzung gegeben war.

Die Unterdrückungsmechanismen mußten sie indessen von den Menschen selbst lernen. Zum Glück für die Qax bot die Menschheitsgeschichte diesbezüglich reichlich Anschauungsmaterial.

Die Wurmloch-Station, die den Kontakt mit Lieserl hielt, wurde während der Okkupation durch die Qax erneut aufgelassen.

Schließlich wurden die Qax besiegt. Über die Details war Lieserl nicht näher informiert; es hatte etwas mit einem Mann namens Jim Bolder zu tun und einem unglaublichen Flug in einem geklauten, schrottreifen Xeelee-Raumjäger, der zum Schauplatz des größten Projekts der Xeelee führte: Dem Ring…

Dies war das erstemal, daß Lieserl vom Ring gehört hatte.

Nach dem Sieg kehrten die Menschen erneut zur Sonne zurück und stellten den Kontakt zu dem alternden, zunehmend archaischen Artefakt wieder her, das Lieserl enthielt.

Diesmal war Lieserl von den Menschen schockiert, die sie begrüßten.

Im Verlauf der Besatzungszeit hatten die Qax die AntiSenescence-Technik abgeschafft. Tod und Krankheit hatten wieder auf den Welten der Menschen Einzug gehalten. Es dauerte nicht lange, bis Mühsal und Krankheiten die meisten der alten Unsterblichen dahingerafft hatten – von denen manche sich sogar noch an die Zeit vor den Squeem erinnern konnten –, und nach wenigen Generationen hatte die Menschheit einen großen Teil ihrer Vergangenheit vergessen.

Der Umbruch in der menschlichen Kultur nach den Qax war unermeßlich größer als derjenige, der auf die Besatzung der Squeem gefolgt war. Die neuen Menschen, die aus der Qax-Ära hervorgegangen waren – und die nun in verschwommenen Darstellungen Lieserl in ihrem Kokon aus solarem Plasma betrachteten –, wirkten fremd auf sie, mit ihren kahlgeschorenen Köpfen und den hageren, fanatischen Gesichtszügen.

Die Expansion war wieder aufgenommen worden, diesmal jedoch beseelt von einer harten Entschlossenheit. Niemals wieder würde die Menschheit zum Diener einer fremden Macht werden. Lieserl sah in ihrem Traum Jahrhunderte in Bild- und Tonfragmenten vorbeiflackern, sah, wie die Menschen neuerlich aus ihren Systemen ausschwärmten. Eine neue Periode begann – eine Periode, welche die Assimilation genannt wurde.

Im Verlauf dieser Assimilation vereinnahmten die Menschen – aggressiv und planmäßig – die Ressourcen und Technologien anderer Spezies.

Die menschliche Kultur gedieh prächtig in dieser Periode. Die Verbindung zu Lieserl wurde zwar aufrechterhalten, aber mit zunehmend längeren Unterbrechungen. Diese entfernten Menschen schienen von einer feindseligen Neugier motiviert zu werden; sie sah nur Berechnung in den ihr präsentierten Gesichtern. Man betrachtete sie wohl, wie sie mutmaßte, nur als weitere Ressource, die für die fortdauernde, endlose Expansion der Menschheit ausgebeutet wurde.

Bald – erstaunlich schnell – dominierten die Menschen die jungen Spezies. Die Zunahme der Menschheit an Macht und Einfluß erfolgte exponentiell.

Schließlich waren nur noch die Xeelee selbst mächtiger als die Menschheit… Und die Legende von den Leistungen der Xeelee – der Werkstoff, die Manipulation von Raum und Zeit, der Ring selbst – verwandelte sich in eine fest verwurzelte Mythologie.

Dann wurde ihre telemetrische Wurmloch-Verbindung endgültig abgeschaltet.

Während sie durch ihren endlosen Plasmaozean driftete, verspürte sie ein leichtes Gefühl des Bedauerns – ein Gefühl, das sich bald in der friedlichen, entrückten Stille um sie herum verlor.

Die Menschen waren ihr fremd geworden. Ohne sie war sie besser dran.


Die Vögel mußten einem Lebenszyklus unterliegen, dachte sie; einem Zyklus aus Geburt und Leben und Tod, vergleichbar jedem baryonischen Lebewesen. Die einzelnen Photino-Vögel stoben so schnell an ihr vorbei, daß sie ihnen nicht folgen konnte; aber trotzdem studierte sie sie gründlich und wurde damit belohnt, daß sie – glaubte sie zumindest – Wachstum beobachtete.

Schließlich erlebte sie, wie ein Vogel sich vermehrte.

Sie stellte schon beim Anflug fest, daß irgend etwas an dem Vogel anders war. Er war fett und durch die Wärmeenergie der Protonen aufgebläht. Er wirkte irgendwie substantieller – realer für Lieserls baryonische Sinne – als seine Kameraden.

Der Vogel erzitterte – einmal, zweimal –, und seine linsenförmige Flanke vibrierte. Sie verspürte fast eine gefühlsmäßige Bindung zu dem Vogel; er schien Qualen zu leiden. Mußte die Geburt denn immer von Schmerzen begleitet sein?

Abrupt – Lieserl erschrak richtig – verließ der Vogel mit hoher Geschwindigkeit seine Orbitalbahn. Er schwebte für einen Moment – und tauchte dann wieder in den heißen Kern der Sonne ein. Lieserls Prozessoren meldeten ihr, daß der Vogel jetzt etwas an Masse verloren zu haben schien.

Und er hatte etwas zurückgelassen.

Lieserl verstärkte ihre Sinne bis zum Maximum. Der Muttervogel hatte eine Kopie von sich hinterlassen – eine geisterhafte Kopie, die sich als Klumpen höherer Dichte in dem plasmatischen Gemisch aus Protonen und Elektronen manifestierte. Es war eine dreidimensionale Abbildung der Mutter aus baryonischer Materie. In Sekundenbruchteilen begannen die Klumpen auseinanderzustreben – aber nicht bevor sich noch weitere Photinos um das komplexe Muster aus baryonischer Materie geschart hatten und zügig seine innere Struktur überlagerten.

Der ganze Vorgang nahm nicht einmal eine Sekunde in Anspruch. Schließlich verließ ein neuer Photino-Vögel, dünn und klein, die Stätte seiner Geburt; die letzten Spuren der von der Mutter zurückgelassenen baryonischen Materie höherer Dichte drifteten weg.

Lieserl ließ diese Bildsequenz immer wieder ablaufen. Als eine Methode der Fortpflanzung hatte das nichts mit den irdischen Paradigmen gemein – nicht einmal mit dem Klonen. Es hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Anfertigen einer Kopie – ein Abdruck einer dreidimensionalen Form, wobei die Prozeßsteuerung durch baryonische Materie erfolgte.

Das Neugeborene mußte fast eine exakte Kopie seines Elters sein – noch präziser als jeder Klon. Vermutlich war es auch mit einer Kopie der Erinnerungen seines Elters ausgestattet – vielleicht sogar mit seinem Bewußtsein…

Und womöglich auch mit einer Kopie der Großeltern – und der Urgroßeltern, und…

Lieserl lächelte. Jedes Photino-Kind mußte in seinem Innern die Seele all seiner Vorfahren tragen, ein Stammbaum des Bewußtseins, dessen Wurzeln bis zum Anfang der Spezies zurückreichten.

Und das alles durch die katalytische Wirkung baryonischer Materie, überlegte sie mit einem Gefühl des Wunders. Die Vögel benötigten die relative Transparenz dunkler und baryonischer Materie, um detaillierte, dreidimensionale Kopien von sich zu erstellen.

Aber das hieß ihrer Erkenntnis zufolge auch, daß die Photino-Vögel nur an solchen Orten brüten konnten, wo sie baryonische Materie in ausreichender Dichte vorfanden. Sie konnten nur in Sternenkernen brüten.

Immer wieder ließ sie den Geburtsvorgang ablaufen.

Die Photino-Vögel hatten etwas Graziles, höchst Reizvolles, und sie spürte, wie ihre Sympathie für sie wuchs. Spirituell fühlte sie sich nun den Vögeln viel näher als den kaltäugigen Menschen der Assimilation jenseits des solaren Ozeans.

Sie hoffte, daß ihre Theorie – daß die Vögel vorsätzlich die Sonne zerstörten – falsch war.


Der Rückweg schien viel länger zu dauern. Morrow war zornig, enttäuscht, erschöpft. »Ich kann Milpitas’ Reaktion nicht begreifen.« Er schüttelte den Kopf. »Als ob er noch nie Leute wie euch gesehen hätte…«

»Oh, ich verstehe schon.« Uvarov drehte den Kopf. »Ich verstehe. Wir sind alle zu alt, weißt du. In gewisser Weise hatte Milpitas recht, was mich betrifft; letztlich bin ich selbst nicht ganz fehlerfrei.« Uvarovs Stimme, die zwar nach wie vor durch das Alter verzerrt war, wirkte in Morrows Augen jetzt ruhiger und rationaler als während des ganzen Gesprächs mit Milpitas.

»Wenigstens kann ich aber meine eigenen Grenzen erkennen«, fuhr Uvarov fort, »den durch das Alter und die körperliche Verfassung verursachten Tunnelblick. Und auf der Grundlage dieser Erkenntnis angemessen handeln.«

Seilspinnerin hatte auf der hundert Meter langen Rampe hinauf zu Deck Eins die Führung übernommen. Jetzt, als sie sich deren Ende näherte, wurde sie langsamer. Ihre Hand fiel, scheinbar automatisch, auf das Blasrohr und den kleinen Beutel mit gefiederten Pfeilen an der Hüfte.

»Was ist los?« fragte Morrow trocken. »Noch mehr Probleme mit menschlichem Körpergeruch?«

Sie drehte sich um und schaute mit großen Augen durch ihre Brille. »Das nicht. Aber etwas… Etwas stimmt nicht.«

Pfeilmacher hob den Kopf. »Ich rieche es auch.«

»Beschreibe es«, schnappte Uvarov.

»Stechend. Rauchig. Ein bißchen wie Feuer, aber intensiver…«

Uvarov grunzte. Er klang irgendwie zufrieden. »Vielleicht Kordit.«

Pfeilmacher schaute verständnislos drein. »Was?«

Sie erreichten das Ende der Rampe. Hastig, wobei beide Waldmenschen ihre Waffen in den Händen hielten, steuerten sie auf die Schleuse zu, durch die Uvarov heruntergelassen worden war.

Als sie sich der Schleuse näherten, verlangsamten sich ihre Schritte auf eine Art, die fast synchronisiert wirkte. Die Drei – Pfeilmacher, Morrow und Seilspinnerin – standen da und starrten die Schleuse an.

Uvarov wandte den Kopf nach links und rechts. »Sagt mir, was nicht stimmt. Es ist die Schleuse, nicht wahr?«

»Ja.« Morrow trat vorsichtig vor. »Ja, es ist die Schleuse.« Der Metallzylinder war irgendwo im mittleren Bereich aufgeplatzt; verbogene und verschmorte Metallteile, keines größer als seine Hand, waren auf dem Boden des Decks verstreut. Es stank nach Rauch und Feuer – wahrscheinlich Uvarovs Kordit.

Pfeilmacher stand unbeweglich und mit offenem Mund da und packte seinen Bogen. Seilspinnerin rannte zur nächsten Schleuse, wobei ihre nackten Füße auf dem Metallboden patschten.

Uvarov nickte. »Simpel und effektiv. Wir hätten damit rechnen müssen.«

Morrow bückte sich und hob ein Stück des Zylindermaterials auf; aber das verbogene, versengte Fragment war noch heiß, und er ließ es hastig fallen.

Seilspinnerin kam atemlos wieder zurückgelaufen. Ihre Augen waren geweitet, und sie wirkte sehr jung; sie ging auf ihren Vater zu und packte ihn am Arm. »Sie haben die andere Schleuse auch zerstört. Ich glaube, daß keine mehr intakt ist. Die Schleusen sind unpassierbar. Wir können nicht mehr nach Hause.«

»Das sollten wir nachprüfen«, flüsterte Uvarov. »Aber ich glaube schon, daß sie recht hat.«

Morrow klatschte die Faust auf die Handfläche. »Warum? Ich begreif’s einfach nicht. Warum diese Zerstörung – diese Verschwendung?«

»Ich habe dir doch gesagt, warum«, erwiderte Uvarov ungerührt. »Die Existenz des Oberdecks war eine inakzeptable Provokation für das Weltbild von Milpitas und dem Rest deiner verdammten Planer. Ich glaube nicht einmal, daß sie das Walddeck selbst irgendwie in Mitleidenschaft gezogen haben. Es zu versiegeln – es vor sich selbst zu versiegeln, anscheinend für immer – müßte wohl denselben Zweck erfüllen.«

»Aber das ist doch Irrsinn«, protestierte Morrow.

»Das hat auch niemand in Abrede gestellt«, zischte Uvarov. »Wir sind menschliche Wesen. Was kann man da schon anderes erwarten?«

Pfeilmacher schritt über den Boden. Mit Nervosität registrierte Morrow, daß sich die Rückenmuskeln des kleinen Mannes zornig anspannten; Pfeilmachers Gesichtsbemalung loderte. »Ob das beabsichtigt war oder nicht, wir sind hier gefangen. Wir befinden uns in echter Gefahr. Was, zum Teufel, sollen wir jetzt tun?«

Der Zorn angesichts der dummen und verschwenderischen Zerstörung der Schleusen schien Morrows Angst neutralisiert zu haben. »Ich werde euch helfen. Ich werde euch nicht im Stich lassen. Ich werde euch zu mir nach Hause mitnehmen – ich lebe allein; ich könnte euch dort verstecken. Später finden wir dann vielleicht eine Möglichkeit, eine Schleuse wieder zu öffnen, und…«

Pfeilmacher wirkte dankbar; aber bevor er noch etwas sagen konnte, rollte Uvarov nach vorne.

»Nein. Wir werden nicht mehr in den Wald zurückgehen.«

»Aber, Uvarov…«, wandte Pfeilmacher ein.

»Es hat sich nichts geändert.« Uvarov schwenkte seinen blinden Kopf in alle Richtungen. »Seht ihr das denn nicht? Pfeilmacher, du hast die Sterne selbst gesehen. Der Flug des Schiffes ist vorbei. Und wir müssen weitergehen.«

Seilspinnerin klammerte sich an den Arm ihres Vaters. »Weitergehen? Wohin?«

»Wir werden weitermachen, ungeachtet der Reaktion dieser verdammten Narren von Survivalists. Diese Decks hinunter und noch weiter… Bis zum Interface selbst.«

Pfeilmacher, Seilspinnerin und Morrow wechselten besorgte Blicke.

Uvarov legte den Kopf in den Nacken und präsentierte seine knochige Kehle. »Wir haben fünf Millionen Jahre zurückgelegt, Pfeilmacher«, flüsterte er. »Fünf Millionen Jahre. Jetzt ist es Zeit, nach Hause zu gehen.«