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PFEILMACHER UMKLAMMERTE mit den Beinen einen Ast des Kapok-Baumes und richtete den Bogen auf die Himmelskuppel. Die gespannte Sehne schnitt in das zähe Fleisch seiner drei mittleren Finger, und der Bogen selbst vermittelte ihm das Gefühl von Massivität, von Macht.
Der leicht in der Hand liegende Pfeil war perfekt ausbalanciert.
Pfeilmachers glatte, unbehaarte Haut war von der Anstrengung des Kletterns schweißnaß. Er befand sich hier nahe am obersten Punkt des Blätterdaches, und das Klicken, Rascheln, Trillern und Husten der anbrechenden Nachtaktivitäten schlug von allen Seiten der großen Lebensschicht über ihm zusammen. Irgendwo markierte eine Horde Brüllaffen ihr Territorium, wobei ihr schauriges, fast choralartiges Geheul an- und abschwoll.
Er ließ die Bogensehne los.
Der Pfeil zischte in die Luft, und die an ihm befestigte Schnur rollte sich mit einem kaum spürbaren Luftzug vor Pfeilmachers Gesicht ab.
Wenige Meter entfernt hörte er ein Rascheln in den Blättern, als der Pfeil zurückkam. Aber die Schnur fiel nicht mit herunter; Pfeilmacher hatte es geschafft, sie in einem der oberen Äste des Kapok zu verankern.
Er hängte sich den Bogen um die Schulter, ergriff den Köcher und kletterte über die Äste, wobei seine bloßen Füße auf der moosbesetzten Rinde guten Halt fanden. Er fand den Pfeil in einem Mooshügel am Astansatz eines Banyan-Baums. Mit schnellen geschickten Handgriffen löste Pfeilmacher ein Seil von der Hüfte und befestigte es an der Schnur; das Seil – das seine Tochter aus Lianenfasern geflochten hatte – war so dick wie sein Finger, und weil Pfeilmacher im Dunklen arbeiten mußte, hatte er Probleme mit dem Verknoten der beiden Leinen.
Als sie fest verknüpft waren, begann Pfeilmacher an der Schnur zu ziehen. Das Seil schabte durch Laubschichten aufwärts. Bald hatte Pfeilmacher es über den Ast gezogen. Er zog am Seil; es gab zwar etwas nach, als der Ast des Kapok sich bog, konnte sein Gewicht aber trotzdem gut aushalten.
Er löste die Schnur und wickelte sie sich um die Hüfte. Er befestigte zwei metallene Handgriffe am Seil. An jedem Griff war ein geflochtener Steigbügel befestigt, in die Pfeilmacher die Füße steckte. Er verlagerte sein Gewicht auf einen Steigbügel und bewegte den anderen ungefähr einen Meter nach oben. Dann erhob er sich und schob den anderen Griff an dem ersten vorbei. Auf diese Art kletterte Pfeilmacher behende durch die letzten Laubschichten. Die Griffe glitten leicht nach oben, und Ratschen verhinderten, daß sie wieder zurückrutschten. Einer der Griffe schien etwas locker zu sein – er vermutete, daß er verschlissen war –, aber noch bot er genug Sicherheit.
Als er durch Schichten von Grünzeug dem Himmel entgegenkletterte, paßte Pfeilmacher sich dem vertrauten Rhythmus der einfachen Übung an und genoß das glühende Gefühl in seinen Gelenken, während die Muskeln arbeiteten. Der schwere Hüftgürtel mit den geflochtenen Taschen für Werkzeug und Proviant schlug sachte gegen den Körper; den über die Schulter gehängten Bogen und Köcher spürte er kaum.
Die Handgriffe, Seile und Steigbügel gehörten Pfeilmacher bereits seit zwanzig Jahren. Sie zählten zu seinen wertvollsten Besitztümern: Sein Leben hing von ihnen ab, und sie waren fast unersetzlich. Die Leute des Waldes konnten wohl Seile und Bogen und Gesichtsfarben herstellen, aber sie verfügten einfach nicht über die Rohstoffe zur Fertigung von Griffen und Steigbügeln – oder Messern, Brillen und anderen notwendigen Alltagsgegenständen. Sogar der alte Uvarov –, der in seinem Stuhl auf dem Waldboden herumrollte, mußte das eingestehen.
Um die Kletterausrüstung zu erhalten, hatte der junge Pfeilmacher mit den Unterleuten gehandelt.
Er hatte viele Tage mit dem Sammeln von Erzeugnissen des Waldes zugebracht: Früchte, Vogelfleisch, Schalen mit Copaifera-Saft. Er stapelte seine Waren in einer der großen Schleusen, die in den Waldboden eingelassen waren. Dann teilte er den Unterleuten seine Wünsche mittels einer spezifischen Sequenz von Kerben mit, die er mit dem Messer in die narbige Oberfläche der Schleuse geritzt hatte.
Als er am nächsten Tag zu der Schleuse zurückkehrte, lag dort die angeforderte Kletterausrüstung, neu glänzend und ordentlich ausgebreitet. Von den Erzeugnissen des Waldes war nichts mehr zu sehen.
Das Überleben der Waldbewohner hing von den Artefakten der Unterleute ab. In vergleichbarer Weise, so hatte sich Pfeilmacher oft überlegt, waren die Unterleute ihrerseits vielleicht auf die Produkte des Waldes angewiesen. Vielleicht war es dunkel dort unten, unterhalb des Waldes, ohne Licht; vielleicht konnten die Menschen keine eigenen Nahrungsmittel produzieren. Pfeilmacher schauderte; er hatte plötzlich eine Vision von einer Rasse nachtaktiver, großäugiger Kreaturen, die wie Loris über die leblosen, in ewiger Dunkelheit liegenden Ebenen unter seinen Füßen schlichen.
Er erreichte das Ende des Seils. Der Ankerast war nur wenige Handbreit stark, aber er hielt. Das Nest eines Baumseglers – eine mit Speichel verklebte Kugel aus Rinde und Federn – hing an der Seite des Astes und beherbergte ein einziges Ei.
Er suchte sich einen kräftigeren Ast und setzte sich darauf, wobei er die Beine um den Astansatz klammerte. Er legte Bogen und Köcher vorsichtig neben sich und verstaute sie sicher. Er holte etwas Dörrfleisch aus dem Gürtel und schaute sich um, während er auf dem zähen, salzigen Zeug herumkaute.
Nun hatte er die Krone des Kapok-Baumes fast erreicht. Die letzten Äste des großen Baumes hoben sich vor der dunklen Himmelskuppel ab, und ihre bräunlichen Blätter raschelten.
Das Blätterdach befand sich vielleicht dreißig Meter unterhalb der Himmelskuppel, aber dieser eine gigantische Kapok erhob sich über die anderen, wobei seine höchsten Äste fast die Kuppel berührten. Die Dunkelheit des Abends ließ diese Oberwelt fast genauso düster erscheinen wie den weit unter ihm liegenden Waldboden. Aber Pfeilmacher kannte sich mit dem Kapok aus; schließlich war er den größten Teil seiner achtzig Jahre dort herumgeklettert.
Er stand auf dem Gipfel der Welt. Weit entfernt flatterte ein Vogel über den Himmel, dessen buntes Gefieder sich markant gegen das abnehmende Licht abhob. Die Äste des Kapok hingen als dichte, verschlungene Masse unter ihm und verdeckten den riesigen Stamm. Samen – flockige Daunenfragmente – schwebten überall herum und übersäten das Laub mit dem letzten Tageslicht. Zehn Meter unterhalb der Baumkrone war das Blätterdach ein gewellter Teppich, eine dichte Schicht aus Grün – die mit der einsetzenden Nacht ein öliges Schwarz annahm –, die sich bis zum Horizont erstreckte und gegen die Wandung der Himmelskuppel selbst schwappte.
Garry Uvarov hatte Pfeilmacher hier hinauf geschickt, um den Himmel zu inspizieren. Also wandte Pfeilmacher das Gesicht nach oben.
Er war versucht, eine Hand auszustrecken und zu sehen, ob er den Himmel berühren konnte.
Das konnte er natürlich nicht – die Himmelskuppel war noch immer mindestens sechs Meter über ihm –, aber es wäre ohne weiteres möglich gewesen, einen Pfeil abzuschießen und ihn gegen das unsichtbare Dach prallen zu sehen.
Der Himmel war unverändert. Die Sterne waren schwache, unregelmäßige Einsprengsel und fielen in der Leere des Himmels kaum auf. Die meisten Sterne waren dunkelrote Lichtpunkte, wie Blutstropfen, und oft nur schwer zu erkennen.
Uvarov hatte früher nie Interesse für die Sterne gezeigt; jetzt hatte er Pfeilmacher auf einmal angewiesen, auf die Bäume zu klettern und sich auf einen Himmel voller Sterne einzustellen, weiße, gelbe und blaue. Nun, er hatte sich ganz schön getäuscht.
Pfeilmacher spürte, daß der alte Uvarov ein wichtiger Mann war: Wertvoll wie ein Talisman. Aber im Laufe der Jahre wirkten seine Anweisungen und Befehle zunehmend irrational.
Pfeilmacher hielt nach den Himmelskonstellationen Ausschau, die er von seiner Kindheit her kannte. Hier standen die drei Sterne mit einheitlicher Leuchtkraft; dort der vertraute Sternenkreis, der von einem hellen, scharlachroten Glühen dominiert wurde.
Nichts hatte sich an dem Himmel über ihm, an den Sternen jenseits der Kuppel verändert. Pfeilmacher wußte nicht einmal, wonach er in Uvarovs Auftrag überhaupt suchen sollte.
Er kletterte hinab in die Krone des Kapok, so daß sich eine schützende grüne Schicht zwischen ihn und den blanken Himmel schob. Dann sicherte er sich mit einem Seil am Baumstamm, legte einen Arm unter den Kopf und wartete auf den Schlaf.
Das auf- und abschwellende Heulen der Sirene hallte von den Häusern wider, den leeren Straßen und der Wandung der Kuppel.
Morrow erwachte sofort.
Für einen Moment lag er im Bett und schaute zu der diffusen Helligkeit empor, in welche die Decke über ihm getaucht war.
Wenigstens fiel ihm das Aufwachen leicht. Manchmal versagten die Sirenen morgens – sie waren genauso unvollkommen und störanfällig wie alle anderen Ausrüstungsgegenstände der Welt – aber selbst dann öffnete er die Augen noch rechtzeitig. Er stellte sich sein Gehirn als ein verschlissenes, altes Ding vor, in dessen Oberfläche sich die Konturen der Routine eingegraben hatten. Er wachte immer zur gleichen Zeit auf, jeden Tag.
Wie er es auch schon in den letzten fünf Jahrhunderten getan hatte.
Steif schwang er die Beine von der Pritsche und erhob sich. Er ging in Gedanken die vor ihm liegende Schicht durch. Heute sollte er ein Gespräch mit dem Planer Milpitas führen – schon wieder ein Gespräch, dachte er – und er spürte, wie seine Stimmung sank.
Er ging zum Fenster und ließ die Arme kreisen, um die Durchblutung des Oberkörpers zu aktivieren. Von seiner Wohnung hier auf Deck Zwei konnte Morrow durch den offenen, mehrschichtigen Boden einige Details des unterhalb liegenden Decks Drei ausmachen; er sah Häuser, Fabriken, Büros, und – alle anderen Gebäude überragend – die imponierende Architektur der Tempel der Planer, die sich wie dicke Wolken über die durchbrochenen Ebenen verteilten. Jenseits der Gebäude und Straßen waren die Wände der Welt: Schichten aus Metall, die mit Sicken versteift waren. Und über allem hing der vielschichtige Himmel, ein Deckel aus Verstrebungen und Platten, beengend und bedrückend.
Er ließ die morgendliche Routine ablaufen – wusch sich, rasierte Gesicht und Kopf und delektierte sich an einem ballaststoffreichen Frühstück. Er stieg in seine sauberste Hose aus Standardgewebe. Dann machte er sich auf den Weg zu dem Termin mit Planer Milpitas.
Die Sozietät umfaßte zwei Decks, Zwei und Drei. Die bewohnten Decks waren in einer Geometrie aus konzentrischen Kreisen entworfen worden, in einem Muster aus Sektoren und Segmenten, die durch als Radien und Sehnen konzipierte Straßen abgeteilt wurden. Deck Vier, die Ebene unterhalb von Drei, war zwar zugänglich, aber unbewohnt; Suprahet hatte schon vor langer Zeit verfügt, daß es als Rohstoffquelle dienen sollte. Und es gab auch noch eine Ebene darüber, Deck Eins genannt, das ebenfalls unbewohnt war – aber anderen Zwecken diente.
Morrow hatte keine Ahnung, was sich über Deck Eins oder unter Deck Vier befand. Die Planer förderten die Neugier nicht.
Er begegnete nur wenigen Leuten bei seinem Marsch über das Deck. Er ging natürlich zu Fuß; die Welt hatte nur einen Durchmesser von sechzehnhundert Metern, so daß Gehen oder Fahrradfahren meistens ausreichte. Morrow lebte in Segment 2, einem wenig reizvollen Decksabschnitt in der Nähe der Außenwandung. Der Tempel befand sich in Sektor 3 – fast auf der entgegengesetzten Seite, aber dicht am Zentrum des Decks. Morrow konnte die an Sektor 5 vorbeiführenden radialen Strecken abkürzen und fast direkt zum Tempel gelangen.
Ein großer Teil von Sektor 5 firmierte noch immer unter der Bezeichnung Poole Park – ein Name, der ihm beim Start des Schiffes verliehen worden war, wie Morrow erfahren hatte. Jetzt indessen hatte er nicht mehr viel von einem Park an sich. Morrow, der keinen Wert darauf legte, zu früh bei Milpitas zu erscheinen, spazierte langsam an Reihen von armseligen, hüttenähnlichen Wohnungen und Geschäften vorüber. Die Läden trugen die Namen ihrer Besitzer und Waren, aber auch primitive, naive Gemälde der Güter, die drinnen feilgeboten wurden. Hie und da kämpften Unkraut und wilde Blumen zwischen den Wänden der Geschäfte ums Überleben. Er passierte zwei INST-’bots: Niedrige, mit Besen und Schaufeln bestückte Wägelchen, die mühsam die ausgetretenen Straßen abfuhren.
Die Reihen kleiner Wohngebäude, die winzigen Läden und Treffpunkte, die Bibliotheken und Fabriken schauten aus wie immer: Nicht unbedingt schmutzig – jede Nacht wurde alles von den Regenmaschinen gesäubert –, aber uniform.
Ein alter Funke regte sich in Morrows müdem Geist. Uniform. Ja, das war das Wort. Schrecklich uniform. Nun näherte er sich dem Tempel der Planer. Die viereckige Pyramide war achtzig Meter hoch und aus einem schimmernden Metall errichtet, dessen Kanten bläulich glänzten. Morrow fühlte sich richtig klein, als er darauf zuging, und unbewußt verlangsamten sich seine Schritte; in einer Welt, in der nur wenige Bauwerke mehr als ein Stockwerk hatten, waren die Tempel überall sichtbar, groß, anonym – und einschüchternd.
Was zweifelsohne auch beabsichtigt war.
Planer Milpitas wendete unablässig ein Stück Metall in den langen Fingern und beäugte Morrow dabei. Sein Schreibtisch war leer, und die Wände kahl. »Du stellst zu viele Fragen, Morrow.« Die Kopfhaut des Planers spannte sich dünn wie Papier über den Schädel und zeigte eine feine Narbenspur.
Morrow versuchte zu lächeln; immer, wenn er ein Gespräch begann, fühlte er sich unsagbar müde. »Das habe ich doch immer schon gemacht.«
Der Planer lächelte nicht. »Ja. Das hast du. Aber mein Problem ist, daß deine Fragen andere manchmal stören.«
Morrow versuchte, ein Zittern zu unterdrücken. An der Oberfläche seines Verstandes war Angst und ein Gefühl der Hilflosigkeit – aber darunter brodelte ein Zorn, den er – wie er wußte – unter Kontrolle zu halten hatte. Milpitas konnte, wenn er nur wollte, Morrow das Leben sehr unangenehm machen.
Milpitas hielt das Artefakt hoch.
»Sag mir, was das ist.«
»Es ist ein Achterring.«
»Hast du ihn gemacht?«
Morrow zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Vielleicht. Das bekommt man in jedem Geschäft auf Deck Vier.«
»Gut.« Milpitas legte den Ring mit einem leichten Klicken auf den Schreibtisch. »Sag mir, was du sonst noch gemacht hast. Gib mir eine Aufstellung.«
Morrow schloß die Augen und dachte nach. »Teile für einige der Maschinen – zum Beispiel die Versorgungsmaschinen. Die Eingeweide natürlich nicht – das überlassen wir den Nanobots –, aber die größeren externen Komponenten. Material für Gebäude – Träger, Rohre, Kabel. Brillen und Besteck; einfachere Dinge, welche die Nanobot-Wartungstrupps nicht reparieren können.«
Milpitas nickte. »Und?«
»Und solche Dinge wie Ihren Achterring.« Morrow versuchte mit ungewissem Erfolg, einen Anflug von Frustration in seiner Stimme zu unterdrücken. »Und Ratschen und Bügel. Kratzer…«
»Gut. Nun, Morrow, der Wert eines Trägers oder einer Brille ist eindeutig. Aber was meinst du zu dieser Frage: Was ist der Wert deiner Achterringe, Bügel und Ratschen?«
Morrow zögerte. Das war exakt die Art von Frage, die ihn überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Ich weiß nicht«, platzte es dann aus ihm heraus. »Planer, es macht mich noch verrückt, daß ich es nicht weiß. Ich schaue mir diese Dinge an und versuche mir vorzustellen, wofür sie verwendet werden könnten, aber…«
Der Planer hob die Hände. »Das ist keine Antwort, Morrow.«
Morrow war verwirrt. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, daß bei Gesprächen mit Leuten wie Milpitas Worte zu Waffen wurden, scharfe Klingen, deren Bewegungen er kaum folgen konnte. »Aber Sie haben mich doch gefragt, wozu die Ratschen gut sein sollen.«
»Nein. Ich wollte von dir wissen, was du zu der Frage sagst, und keine Antwort auf die Frage selbst hören. Das ist ein großer Unterschied.«
Morrow versuchte das zu verinnerlichen. »Es tut mir leid. Ich verstehe nicht.«
»Nein.« Der Planer legte die langen, mit chirurgischen Narben bedeckten Finger auf den Schreibtisch. Milpitas schien eines dieser unglücklichen Individuen zu sein, bei denen die AS-Behandlung nur zum Teil erfolgreich gewesen war und die deshalb diese Art von Totalrestaurierung des Körpers über sich ergehen lassen mußten. »Nein. Ich glaube wirklich, daß du das nicht verstehst. Und genau da liegt nämlich auch das Problem, nicht wahr, Morrow?«
Er erhob sich und ging zum Fenster seines Büros. Von hier aus konnte Morrow das Äußere des Tempels sehen; seine Fassade war eine schiefe Ebene aus goldenem Licht. Milpitas’ breites, knochiges Gesicht wurde von dem eisernen Himmel und dem indirekten Tageslicht eingerahmt.
»Die Frage hat keinen Sinn«, eröffnete Milpitas schließlich. »Und deshalb hätte auch ihre Beantwortung keinen Sinn – sie wäre bedeutungslos, weil die Frage an sich schon keinen Bezug zu etwas Relevantem aufweist.« Er wandte sich Morrow zu und lächelte prüfend. »Ich weiß, daß du mit dieser Antwort nicht zufrieden bist. Sprich weiter; hab keine Angst. Sag mir, was du denkst.«
Morrow seufzte. Ich glaube, daß Sie verrückt sind. »Ich glaube, daß Sie mit Worten spielen.« Er nahm den Ring zur Hand. »Natürlich hat dieses Ding einen Zweck. Es existiert physikalisch. Wir betreiben Aufwand zu seiner Herstellung…«
»Alles, was wir tun, hat einen Zweck, Morrow, und nur einen Zweck.« Milpitas schaute feierlich drein. »Weißt du, was das ist?«
Morrow reagierte leicht gereizt. »Das Überleben der Spezies. Ich bin kein Kind, Planer.«
»Exakt. Gut. Deswegen sind wir hier; deswegen hat Suprahet diese unsere Schiffswelt erbaut; deswegen haben meine Großmutter – sie ist natürlich schon längst tot – und die anderen diese Reise angetreten. Das ist der Zweck, der allem zugrundeliegt, was wir tun.«
Morrows Gereiztheit verwandelte sich in eine ansatzweise Rebellion. Allem? Auch der Eliminierung der Kinder?
Er fragte sich, wie viele solcher Verhöre er im Lauf der Jahre schon hatte erdulden müssen.
Vage erinnerte er sich an eine Zeit, in der die Dinge noch nicht so gewesen waren. Zum Zeitpunkt seiner Geburt, vor einem halben Jahrtausend, waren Kinder – wie er – noch geboren worden. Und die großen virtuellen Maschinen, die irgendwo in der Struktur der Welt verborgen waren, hatten die kahlen Schiffswände mit Darstellungen vergangener, schöner Panoramen überzogen: Er erinnerte sich an virtuelle Sonnen und Monde, die über einen virtuellen Himmel zogen, Kinder, die auf den Straßen umherliefen.
Das hatte ein Gefühl des Raums vermittelt – von Unendlichkeit. Die Virtuellprojektionen hatten die Macht, diese Kastenwelt riesig und grenzenlos erscheinen zu lassen.
Aber Suprahet hatte die Virtuellprojektoren einen nach dem anderen deaktiviert und die tote Realität der Welt freigelegt, die sich hinter der Illusion befand. Heute schien niemand mehr zu wissen, wo die Virtuellprojektoren waren oder wie man sich Zugang zu ihnen verschaffen konnte, falls sie überhaupt noch funktionierten.
Zur gleichen Zeit hatte Suprahet das Gebären von Kindern zuerst mißbilligt und dann ganz abgeschafft. Morrow war eines der letzten natürlich geborenen Kinder gewesen.
Virtuelle Dioramen – und die Stimmen von Kindern – waren laut Suprahet nicht mehr erforderlich.
Es gab keine jungen Leute mehr, und die Menschen wurden alt. Es gab weder Tag noch Nacht, nur das ständige, stahlgraue, indirekte Licht – von der Metallhülle reflektiert – vermittelte den Eindruck einer permanenten Dämmerung. Freizeitaktivitäten – Theater, Studiengruppen, Spielgruppen – wurden nicht mehr gepflegt. Die Welt wurde nur noch durch den endlosen Trott der Arbeit strukturiert.
Maloche, und natürlich das Studium der Worte der Gründer von Suprahet.
Milpitas wandte Morrow sein breites, ziemlich grobes Gesicht zu. »Suprahets alleiniger Imperativ ist das Überleben der Spezies – physisch durch unsere Gene und kulturell durch die uns innewohnenden Meme – bis in die weit entfernte Zukunft.« Er deutete auf den eisernen Himmel. »Alle unsere Handlungen werden von dieser Logik motiviert, Morrow. Nach allem, was wir wissen, sind wir die einzigen überlebenden Menschen im Universum. Und deshalb müssen wir die Verwendung unserer Ressourcen optimieren.
Im Moment läuft es gut für uns. Unsere Bevölkerung ist gut eingestellt; wir benötigen keine neuen Generationen – zumindest solange nicht, bis sich unsere Ressourcenlage ändert.«
Aber, dachte Morrow intensiv, aber die Bevölkerung ist doch nicht stabil. Jedes Jahr starben Menschen – durch Unfälle oder obskure AS-Fehler. Mithin verringerte sich die Bevölkerung also jährlich.
Im Laufe der Jahrhunderte hatte er den kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang miterlebt, den langsamen Rückzug von den unteren Decks. Morrow war sich sicher, daß zum Zeitpunkt seiner Geburt die Lebenskuppel bis hinunter zu Deck Acht besiedelt gewesen war – und es hieß, daß sich darunter noch weitere sieben oder acht Decks befanden. Heute waren nur Deck Zwei und Drei noch bevölkert.
Konnte es einen Punkt geben, überlegte er, bei dessen Unterschreiten die Rasse sich nicht mehr regenerieren konnte, selbst wenn die gegenwärtige Sterilisation rückgängig gemacht werden würde?
Welche Möglichkeiten hätte Suprahet dann?
Milpitas setzte sich wieder. Als er erneut zu sprechen begann, schien der Planer sich um Verbindlichkeit zu bemühen. »Morrow, du darfst dich nicht selbst – und dein Umfeld – mit Fragen quälen, auf die es keine Antwort geben kann. Du weißt, zumindest im Grundsatz, warum unsere Welt so ist, wie sie ist. Genügt das denn nicht? Ist es wirklich erforderlich, daß du jedes Detail verstehst?«
Aber wenn ich nichts verstehe, dachte Morrow düster, dann könnt ihr mich kontrollieren. Willkürlich. Und das kann ich nur schwer akzeptieren.
Milpitas legte die Finger aufeinander. »Da gibt es noch eine andere Dimension, die du berücksichtigen mußt.« Sein Ton war jetzt rauher. »Sage mir, wie du die inneren Widersprüche des Dualismus Mem-Gen beurteilst.«
Morrow blickte nur finster drein und sagte nichts.
Milpitas lächelte süffisant. »Du verstehst die Frage nicht, stimmt’s? Kannst du überhaupt lesen?«
»Ja, ich kann lesen«, bestätigte Morrow patzig. »Ich mußte es mir zwar selbst beibringen, aber… ja, ich kann lesen.«
Milpitas runzelte die Stirn. »Aber du mußt doch gar nicht lesen können. Die meisten Leute können auch ohne das auskommen. Es ist ein Luxus, Morrow; etwas Unnötiges.
Wir alle müssen unsere Beschränkungen akzeptieren, Morrow; du mußt einfach akzeptieren, daß es Leute gibt, die es besser wissen als du.«
Morrow rüstete sich innerlich. Jetzt kommt’s. Die Strafen waren zwar alle nicht übermäßig hart, aber er betrachtete jede Unterbrechung seiner täglichen Routine zunehmend als Belastung, sogar als Schmerz.
»Vier Wochen auf Deck Eins«, richtete Milpitas streng und machte sich eine Notiz. »Ich werde das mit deinem Vorgesetzten in den Läden abklären. Ich tue das nur ungern, Morrow, aber du mußt auch meine Position bedenken; wir können nicht zulassen, daß du dein Umfeld mit deinem – deinem undisziplinierten Denken ansteckst.«
Deck Eins. Die Schleusen. Einer der schwierigsten, wenn nicht sogar schlimmsten Arbeitsplätze auf den Decks. Das war eine harte Strafe für etwas, das er nach wie vor nicht als Verbrechen auffassen konnte…
Aber trotzdem mußte er angesichts der Ironie dieses Vorgangs ein Grinsen unterdrücken. Denn die Schleusen – und der seltsame, illegale Handel, der durch sie abgewickelt wurde – stellten eine explizite Verkörperung der Widersprüche in dieser Gesellschaft dar.
Die ersten Strahlen des Morgenlichts rankten sich wie Lebewesen über die Himmelskuppel. Die trüben Sterne verschwanden.
Pfeilmacher wickelte sich aus seinem Ast und streckte sich, um die Glieder zu lockern. Hier oben wehte eine frische und trockene Brise. Er urinierte gegen den Baumstamm; die heiße Flüssigkeit verdunkelte das Holz und rann hinunter. Er kaute etwas Fleisch und leckte den Tau von den Blättern des Kapok. Es war zwar nicht viel Wasser, aber er würde später noch mehr finden, in den Kelchen von Orchideen und Bromelien.
Er nahm Bogen und Köcher an sich, kletterte zu dem baumelnden Seil hinüber und bereitete sich auf den ersten Abschnitt seines Abstiegs vor. Er ließ das Seil durch einen metallenen Achterring laufen, befestigte den Ring am Gürtel und stellte sich in den geflochtenen Steigbügeln auf. Dann glitt er behende hinunter, wobei er das durch den Ring laufende Seil mit einer Hand nachführte. Der Achterring, der durch den häufigen Gebrauch bereits schartig und abgeschliffen war, gab beim Abstieg ein leises Klingen von sich.
Das fünfzig Meter über dem Waldboden stehende Blätterdach war eine zwanzig Meter tiefe Vegetationsschicht. Bald wurde Pfeilmacher von der ganz oben wehenden Brise abgeschirmt, und die Luft wurde feucht und angenehm warm.
Er fand eine Liane und schnitt sie auf; Wasser ergoß sich in seinen Mund. Bei seinem letzten Ausflug zum Blätterdach hatte Pfeilmacher einen Feigenbaum geortet, dessen Früchte fast reif waren; er beschloß, einen Umweg zu machen, bevor er zu Uvarov zurückkehrte. Er wickelte das Seil um die Hüfte, verstaute das Kletterzeug im Gürtel und stieg durch das Blätterdach abwärts, wobei er sich von Ast zu Ast weiterhangelte.
Moos und Algen bedeckten die Rinde der Bäume und hingen in ganzen Schichten von den Zweigen, wodurch der Wald gefährlich schlüpfrig wurde. Lianen, Feigenwurzeln und die herumbaumelnden Wurzeln von Orchideen, Bromelien und Farnen schlangen sich wie Schnüre um die Äste. Blätter schimmerten in der Dunkelheit wie kleine grüne Pfeilspitzen. Manche Blumen warteten geduldig darauf, daß Fledermäuse ihre Blüten fressen und ihre Samen verbreiten würden.
Über diesem Gewimmel aus Leben konnte Pfeilmacher die glatten Stämme der das Blätterdach tragenden Bäume erkennen. Sie stachen wie Rauchsäulen aus dem Grün, glatt und massiv.
Der Feigenbaum war ein Gewirr, das aus dem Stamm eines solchen Baumes wuchs, ein Parasit, der sich an seinem Wirtsbaum labte. Als er sich dem Feigenbaum näherte, sah er, daß seine Vermutungen bezüglich der Reife richtig gewesen waren. Ein Papagei mit leuchtend rotem Gefieder hing kopfüber an einem Ast und knabberte an einer Feige, die er in einer Kralle hielt. Der aromatische Duft reifer Feigen umgab den Baum, und in den Ästen tummelten sich Säugetiere und Vögel.
Sogar eine Familie Silberblatt-Affen hatte ihn entdeckt. Pfeilmacher kam ziemlich dicht an ein Weibchen heran, an dessen Rücken sich ein Baby klammerte. Einige Augenblicke sah Pfeilmacher zu, wie sie sich an den Früchten zu schaffen machte; sie schien an jeder einzelnen Feige zu riechen, als ob sie aufgrund des Duftes herausfinden wollte, ob sie schon für den Verzehr geeignet war. Schließlich fand sie eine ihr genehme Feige und stopfte sie sich in den Mund, wobei das Baby auf dem Rücken quengelte.
Plötzlich wurde Pfeilmacher von dem Weibchen bemerkt. Ihr kleiner, wohlgeformter Kopf mit den großen Augen schwenkte zu ihm herum, und für einen kurzen Moment erstarrte sie und schaute Pfeilmacher in die Augen. Dann drehte sie sich um, huschte durch raschelnde Blätter davon und war gleich darauf verschwunden.
Er arbeitete sich auf den Feigenbaum zu, wobei er laut schrie und in die Hände klatschte, um die Tiere zu verjagen. Dabei scheuchte er auch eine Traube Fruchtfledermäuse auf, die ganz untypisch am Tage Nahrung aufnahmen; sie stoben bei seiner Annäherung auseinander, wobei ihre großen, schlaffen und ledrigen Flügel raschelten.
Schließlich erreichte er den Ast des Trägerbaums, um den sich die Feigenwurzeln rankten. Er sah, daß es sich hier tatsächlich um eine Schlingpflanze handelte; die Krone des Feigenbaums war so dicht, daß sie das Licht von der Wirtspflanze fernhielt und irgendwann einmal ihren Platz im Blätterdach einnehmen würde.
»Pfeilmacher.«
Plötzlich wurde dicht hinter ihm sein Name geflüstert. Konsterniert wandte er sich um und verlor fast den Halt auf dem algenbedeckten Ast; der Bogen schlug heftig auf seinen nackten Rücken.
Es war Seilspinnerin. Sie grinste ihn mit rundem Gesicht aus der Finsternis an. Seilspinnerin, seine älteste Tochter, war fünfzehn Jahre alt, und ihr kleiner, schlanker Körper war so geschmeidig wie der eines Affen. Sie hatte einen gefüllten Sack auf dem Rücken. Ihr Gesicht war mit glänzender roter Farbe beschmiert und ließ Augen und Nase maskenhaft wirken; ihr Kopf war mit Ausnahme der Schläfen kahlgeschoren, wo das Haar tiefschwarz über die Ohren bis auf die Schultern fiel. Ihre Metallbrille glitzerte in dem grünen Licht.
»Hab’ ich dich«, meinte sie.
Er bemühte sich, die Fassung wiederzuerlangen. »Das war unvernünftig.«
Sie schnaufte und rieb sich die Stupsnase. »Ja, sicher. Ich hab’ gesehen, wie du dich an die arme Affenmutter rangepirscht hast. Noch dazu, wo sie ein Baby hat.« Sie suchte in den Ästen Halt und bewegte sich drohend auf ihn zu. »Vielleicht sollte ich auf deinen Rücken klettern, damit du mal siehst, wie das ist…«
»Laß es lieber bleiben.« Er ließ sich auf dem Ast nieder, pflückte eine Feige ab und biß hinein. »Was ist in dem Beutel?«
»Feigen, Honigwaben und ein paar Würmer, die ich aus dem Boden gegraben habe… Ich habe zum Frühstück Käferlarven aus einem umgestürzten Baum dort unten gegessen.« Für einen Moment wirkte sie entrückt, als sie sich an ihre Mahlzeit erinnerte. »Lecker… Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, daß du unten beim alten Uvarov wärst.«
»Bin ich auch. Im Prinzip. Ich bin gerade…«
Die fünfzig Angehörigen des Stammes verbrachten den größten Teil ihres Lebens im Blätterdach. Also hatte Garry Uvarov ein Rotationssystem konzipiert, das immer ein paar Leute dazu abstellte, ihm auf dem Boden Gesellschaft zu leisten. Immer, wenn gegen diesen Turnus verstoßen wurde, echauffierte Uvarov sich und schärfte ihnen ein, daß diese Ordnung älter sei als alle lebenden Menschen, außer ihm selbst.
»Uvarov hat mich nach oben geschickt – auf den Riesenkapok –, um nachzusehen, ob sich die Sterne verändert haben.«
Seilspinnerin grunzte; sie pflückte sich auch eine Feige und steckte sie ganz in den Mund, wie ein Affe. Dann wischte sie sich den Mund mit einem Blatt ab. »Warum?«
»Ich weiß nicht…«
»Dann ist er ein alter Narr. Und du auch.«
Pfeilmacher seufzte. »Du solltest nicht solche Dinge sagen, Seilspinnerin. Uvarov ist ein alter Mann – ein uralter Mann. Er war schon dabei, als das Schiff gestartet ist, und…«
»Ich weiß, ich weiß.« Sie stocherte mit dem kleinen Finger zwischen den Zähnen herum, um Feigensamen zu entfernen. »Aber er ist auch ein verrückter alter Mann und wird immer verrückter.«
Pfeilmacher beschloß, nicht weiter darauf einzugehen. »Aber ob das nun stimmt oder nicht, wir müssen uns trotzdem um ihn kümmern. Wir können ihn nicht einfach sterben lassen. Würdest du das denn wollen?« Er musterte ihr Gesicht und suchte nach Anzeichen von Verständnis. »Und wenn ihr – du und deine Freunde – nicht turnusgemäß unten erscheint…«
»Was wir nicht tun.«
»…dann bedeutet das, daß Leute wie ich mehr als ihren eigentlichen Beitrag leisten müssen.«
Seilspinnerin grinste triumphierend, wobei ihre Gesichtsbemalung glänzte. »Dann gibst du also zu, daß es auch dir widerstrebt, für dieses alte Fossil dort unten sorgen zu müssen.«
»Ja. Nein.« Mit nur wenigen Worten hatte sie ihn ordentlich in Verlegenheit gebracht, wie ihr das so oft und mit solcher Leichtigkeit zu gelingen schien. »Oh, ich weiß nicht, Seilspinnerin. Aber wir können ihn doch nicht sterben lassen.«
Sie biß in eine weitere Feige und meinte beiläufig: »Warum nicht?«
»Weil er ein menschliches Wesen ist, das Würde verdient, wenn schon sonst nichts anderes«, erwiderte er heftig. »Und…«
»Und was?«
Und, dachte er, ich habe Angst, daß, wenn wir Uvarov sterben lassen, die Welt untergehen wird.
Die Welt war so offensichtlich künstlich.
Der Wald befand sich in einem Behälter. Es war möglich, einen Pfeil gegen den Himmel zu schießen. Es gab Löcher im Boden und ganze Ebenen – die Domäne der Unterleute – unterhalb der Welt. Verborgene Maschinen spendeten der Himmelskuppel jeden Tag Licht, sorgten dafür, daß sich der Regen über die wartenden Blätter ergoß und erzeugten Wind um die Baumwipfel über dem Blätterdach. Vielleicht gab es noch mehr versteckte Maschinen, spekulierte er manchmal, welche die kleine, abgeschlossene Welt auf andere Art und Weise am Leben erhielten.
In Seilspinnerins Augen mußte die Welt wohl groß sein. In Pfeilmachers Augen jedoch war sie klein und zerbrechlich geworden, und je älter er wurde, desto klarer sah er die Abhängigkeit der Waldmenschen von Maschinen, die uralt und unzugänglich waren.
Wenn die simplen Mechanismen versagten, würden sie alle sterben; so einfach, und unvergeßlich, war es für Pfeilmacher.
Garry Uvarov war ein alter Narr im Rollstuhl, ohne ersichtlichen Einfluß auf die Mechanismen, die sie alle am Leben erhielten. Und dennoch schien es unzweifelhaft wahr zu sein, daß er tatsächlich so alt war, wie er behauptete – daß er tausend Jahre alt war, so alt wie das Schiff selbst – daß er sich an die Erde erinnerte.
Uvarov stellte die Verbindung zu den Tagen der Konstruktion des Schiffes dar. Mit einer tiefen, abergläubischen Furcht spürte Pfeilmacher, daß im Falle von Uvarovs Tod – wenn diese konkrete Verbindung zur Vergangenheit jemals durchtrennt werden sollte – das Schiff selbst vielleicht um sie herum sterben würde.
Und wie sollten sie dann noch überleben können?
Betrübt schaute er seine Tochter an und fragte sich, ob er jemals in der Lage wäre, ihr das zu erklären.