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LIESERL UMRUNDETE den Kern der Sonne, wobei sie von Schwärmen von Photino-Vögeln eskortiert wurde. Wasserstofflicht spielte über ihr Gesicht und wärmte es.

Der Heliumkern, der von der flammenden Wasserstoffhülle umgeben wurde, die sich durch die ständig dünner werdenden Schichten der Sonne hindurchfraß, wurde durch den anhaltenden, von der Schale ausgehenden Aschehagel immer größer. Störstellen in der Hülle des Giganten – durch magnetische Flußlinien begrenzte Wolken und Gasballungen – bewegten sich über den Kern hinweg, und schließlich warf der Kern-Stern tatsächlich Schatten nach draußen, hoch in die expandierende Hülle.

Die Photinovögel jagten ungerührt durch die leuchtende Fusionsschale und drangen in den Kern selbst ein. Lieserl beobachtete, wie eine Gruppe von Vögeln sich absetzte und zu ihrem unbekannten Ursprungsort jenseits der Sonne verschwand. Sie studierte die Vögel. Hatte sich ihre Aktivität verstärkt? Sie hatte den vagen Eindruck, als ob die schnellen Orbits der Vögel und ihre permanenten Abstecher in den Kern jetzt von einer größeren Hektik begleitet würden.

Vielleicht wußten die Vögel von der Präsenz des alten menschlichen Raumschiffs, der Northern. Vielleicht reagierten sie auf die Gegenwart der Menschen… Es erschien zwar abwegig – aber war es vielleicht nicht doch möglich?

Die sich um die Sonne herum entfaltenden Vorgänge waren erstaunlich ästhetisch. Tatsächlich, so erkannte sie jetzt, war jede Phase der Evolution der Sonne ästhetisch gewesen – ob sie nun von den Photino-Vögeln beschleunigt worden war oder nicht. Die Betrachtung des Lebenszyklus eines Sterns als eine Analogie der menschlichen Geburt, des Lebens und des Todes war einfach zu anthropomorph. Ein Stern war ein Konstrukt physikalischer Prozesse; die von ihm durchlaufene Evolution war schlicht eine Suche nach Gleichgewichtszuständen zwischen wechselnden, entgegengesetzten Kräften. Es existierten keine Kriterien wie Leben oder Tod, Verlust oder Gewinn: Es gab nur Prozesse.

Warum sollte es also nicht schön sein?

Sie lächelte über sich selbst. Ironisch. Da bezichtigte sie sich nun, eine fünf Millionen Jahre alte Künstliche Intelligenz, selbst eines Übermaßes an Anthropomorphismus.

Aber, überlegte sie unbehaglich, vielleicht bestand ihr eigentliches Problem gerade in einem Defizit an Anthropomorphismus.

Die plötzliche Kommunikation mit den Menschen dort draußen – das Flüstern des Maser-Lichts, das an den Flanken der riesigen, toten Konvektionszellen heruntergetröpfelt war – hatte sie bis in die Grundfesten ihrer Seele erschüttert.

Sie vermutete, daß sie ihre zyklischen Sendungen nur deshalb abgesetzt hatte, weil sie durch einen fiesen, tief in ihr verankerten Programmiertrick dazu konditioniert worden war: Nicht etwa aus freien Stücken oder weil sie wirklich mit einer Antwort rechnete. So hatte sie allen Daten ihr Konterfei aufgeprägt und mit kleinen, ironischen Witzen garniert – alles in der Absicht, so dachte sie, sich selbst zu signalisieren, daß das überhaupt nicht real war: Daß das Ganze nur ein Spiel war und nicht verdiente, ernst genommen zu werden, weil es draußen eh niemanden mehr gab, der zuhören konnte.

Nun, jetzt indessen schien es, als ob sie sich geirrt hätte. Diese Menschen – aus ihrer eigenen Zeit, die durch relativistische Zeitdilatation in ihrem seltsamen Schiff, der Great Northern, ganz passabel konserviert worden waren – waren ins Sonnensystem zurückgekehrt.

Und sie waren – das unterstellte sie jedenfalls -Leute, die sie ablehnten.

Sie hatten das zwar nicht explizit gesagt. Aber in den ausführlichen Gesprächen, die sie mit ihr geführt hatten, glaubte sie eine innere Kälte gespürt zu haben.

Sie unterstellten ihr den Verlust der Objektivität – daß sie vergessen hatte, warum sie sich überhaupt an diesem Ort aufhielt. Sie hielten sie für eine ineffiziente Beobachterin, die von der rhythmischen Schönheit der Photino-Vögel becirct worden war.

Vielleicht war Lieserl sogar eine Art Verräterin.

Denn die Wahrheit war – aus der Perspektive der Männer und Frauen der Northern –, daß die Photino-Vögel tödlich waren. Sie töteten die Sonne.

Sie konnten nicht verstehen, wie Lieserl sich dieser massiven Feindschaft nicht bewußt werden konnte.

Sie schloß die Augen und legte die Arme um die Knie; die mit zehn Millionen Grad fusionierende Wasserstoffschale wirkte wie warmes Sommersonnenlicht auf ihrem virtuellen Gesicht. Jahrein, jahraus hatte sie die Photino-Vögel bei ihrer langsamen, geduldigen Arbeit beobachtet, wie sie die Fusionsenergie der Sonne in langsamen, tödlichen Tröpfchen abgezogen hatten. Sie war zu der Erkenntnis gelangt, daß die Vögel die Sonne töteten – und dennoch hatte sie sich niemals wirklich gefragt, was eigentlich außerhalb der Sonne geschah, mit den anderen Sternen. Hatte sie vielleicht angenommen, daß die Photino-Vögel irgendwie Bewohner der Sonne waren, wie eine lokale Infektion? – aber das konnte natürlich nicht sein, denn sie hatte gesehen, wie Vögel von hier wegflogen und durch die Hülle herunterstießen, um sich dem den Kern umkreisenden Schwarm anzuschließen. Also mußte es Vögel außerhalb der Sonne geben – und zwar in beträchtlicher Anzahl.

Mit beängstigender Klarheit realisierte sie nun, daß ihre mit dem Faszinosum der Vögel selbst verbundene unkritische Annahme, die Vögel würden sich nur auf einen Stern beschränken, dazu geführt hatte, daß sie die Aktionen der Vögel in ihrem Innersten billigte. Es hatte sie dabei nicht einmal tangiert, daß die Aktivitäten der Vögel in der Vernichtung der Sonne resultieren würden – vielleicht sogar in der Auslöschung der Menschheit.

Sie litt unter diesem unwillkommenen Einblick in ihre Seele. Schließlich war sie einmal ein Mensch gewesen; war sie wirklich schon so zynisch, so alien geworden?

Die Ermordung der Sonne wäre an sich schon schlimm genug gewesen. Aber vielmehr – wie die Besatzung der Northern ihr in brutaler und expliziter Detailliertheit auseinandergesetzt hatte – starben am ganzen Himmel die Sterne: Sie blähten sich zu degenerierten Giganten auf und schrumpelten dann zu Zwergen zusammen. Das Universum wurde von planetarischen Nebeln durchzogen, Auswürfen von Supernovae und anderem Schutt von sterbenden Sternen, die alle mit komplexen – und nutzlosen – schweren Elementen angereichert waren.

Die Photino-Vögel töteten die Sterne: Und nicht nur die Sonne, den Stern der Menschheit, sondern alle Sterne, soweit die Sensoren der Northern reichten.

Mittlerweile gab es im Universum schon keinen Ort mehr, an dem Menschen hätten Zuflucht finden können.

Und sie, Lieserl – in diesem Glauben schien sich die Crew der Northern zu befinden –, sollte eigentlich mehr tun, als nur ironische Kurznachrichten über ihre Maser-Konvektionszellen auszustrahlen. Sie müßte Warnschreie ausstoßen.

In ihren komplexen Emotionen eruptierte eine Mischung aus Selbstzweifeln, Einsamkeit und Zorn. Mit welchem Recht wurde sie überhaupt von der Besatzung der Northern kritisiert? – wenn auch nur implizit? Sie hatte sich diesen Auftrag nicht ausgesucht – dieses unsterbliche Exil im Herzen der Sonne. Man hatte ihr kein Leben zugestanden. Und es war auch nicht sie gewesen, die während der Assimilation die telemetrische Wurmlochverbindung gekappt hatte.

Warum sollte sie also, nach Millionen Jahren der Verbannung, der Menschheit noch irgendwelche Loyalität schulden?

Und dennoch, überlegte sie, hatte die Ankunft der Northern und die neuen Perspektiven ihrer Besatzung bewirkt, daß sie die Vögel – und sich selbst – jetzt kritischer betrachtete, als sie das seit langer Zeit getan hatte.

Sie stellte sich das Schattenuniversum aus Dunkelmaterie vor: Ein Universum, das ohne merkliche Interferenz die einst von Menschen bewohnten, sichtbaren Welten durchdrang… Und doch war diese Vorstellung irreführend, dachte sie, denn schließlich war die Dunkelmaterie kein Schatten: Sie umfaßte mindestens neunzig Prozent der Gesamtmasse des Universums. Die glühende, baryonische Materie war nur ein glitzernder Überzug auf der Oberfläche dieses dunklen Ozeans.

Die Photino-Vögel – und ihre unbekannten Verwandten aus Dunkelmaterie – glitten wie Fische durch das schwarze Wasser, blind und unsichtbar.

Aber der kleine, leuchtende Anteil der baryonischen Materie schien lebenswichtig für die Kreaturen aus Dunkelmaterie zu sein. Sie diente als Katalysator für die Kausalketten, welche die Existenz ihrer Spezies sicherten.

Es fing schon damit an, daß keine Sterne aus Dunkelmaterie entstehen konnten. Und die Vögel schienen auf die Gravitationsquellen baryonischer Sterne angewiesen zu sein.

Wenn eine Ballung aus baryonischem Gas unter Gravitationseinwirkung kollabierte, führte elektromagnetische Strahlung einen Großteil der produzierten Wärme ab – es war, als ob die Strahlung das Gas abkühlte. Die in der Wolke verbliebene Restwärme balancierte schließlich die gravitationale Anziehung aus, und ein Gleichgewicht entstand: Ein Stern wurde geboren.

Aber Dunkelmaterie konnte keine elektromagnetische Strahlung generieren. Und ohne den Kühleffekt dieser Strahlung hielt eine unter der Schwerkraft kollabierende Wolke aus Dunkelmaterie einen viel größeren Teil ihrer eigenen Wärmeenergie zurück. Infolgedessen stellten viel größere Wolken – größer als ganze Galaxien – den Gleichgewichtszustand von Dunkelmaterie dar.

So war das frühe Universum von riesigen, kalten und toten Wolken aus Dunkelmaterie durchzogen worden: Es war ein Kosmos fast ohne jede Struktur gewesen.

Dann war baryonische Materie entstanden, und die Sterne begannen zu implodieren – zu leuchten. Lieserl stellte sich vor, wie die ersten Sterne im Kosmos funkelnd ins Leben traten, winzige Nadelstich-Gravitationsquellen in den tiefen Ozeanen aus Dunkelmaterie.

Die Photino-Vögel lebten von gemächlich ablaufenden Proton-Photino-Interaktionen, aus denen sie einen langsamen, stetigen Energiefluß bezogen. Und damit dieser Energiefluß auch intensiv genug war, benötigten die Vögel dichte Materie – Dichtegrade, die ohne baryonische Materie nicht zu erreichen gewesen wären.

Und die Abhängigkeit der Vögel von baryonischer Materie erstreckte sich noch weiter. Sie wußte, daß die Vögel selbst zur Fortpflanzung auf geringe Quantitäten baryonischer Materie angewiesen waren.

Also verdankten die Photino-Vögel den baryonischen Sternen ihre Existenz; sie wurden von ihnen ernährt und zur Reproduktion befähigt.

Lieserl sinnierte. Eine schöne Hypothese. Aber warum töteten die Photinovögel dann ihre Muttersterne ab?

Erneut durchdrang die Kommunikation der Menschen von der Northern ihr Sensorium, wobei sie es indessen kaum registrierte. Sie stellten ihr weitere Fragen – erbaten detailliertere Prognosen zur vermutlichen weiteren Entwicklung der leidenden Sonne.

Sie segelte elegisch um den Kern und dachte über Sterne und die Photino-Vögel nach.

Und ihr Verstand stellte nun Verknüpfungen her, die er in den vergangenen Millionen Jahren nicht bewerkstelligen konnte.


Schließlich sah sie es: Das ganze düstere Bild.

Und plötzlich schien es dringlich – höchst dringlich – zu sein, die Fragen der Menschen bezüglich der Zukunft zu beantworten.

Sie eilte der Basis ihrer Konvektionszellen zu.


Die nadelspitzen Wasserstrahlen der Dusche sprühten über Louises Haut. Sie schwebte im Mittelpunkt der Duschkabine und lauschte dem schrillen Gurgeln des Wassers, das aus der Naßzelle abgepumpt wurde. Sie hob die Arme und ließ das Wasser über Brust und Bauch fließen; es war heiß genug, und der Druck ausreichend hoch, daß es auf ihrer mürben alten Haut kribbelte, als ob sie von tausend winzigen Masseuren bearbeitet würde.

Sie haßte den Aufenthalt in der Schwerelosigkeit. Das hatte sie schon immer und tat es noch; sie verabscheute es sogar, es einer Pumpe zu überlassen, das Duschwasser abzusaugen. Als einzige Konzession an den Luxus hatte sie auf der Installation dieser Dusche in einer Ecke ihrer Kabine bestanden – nein, verdammt, dachte sie, das ist kein Luxus; die Dusche ist eine Konzession an den Rest meiner Menschlichkeit.

Eine heiße Dusche war eine der wenigen sinnlichen Erfahrungen, die lebendig geblieben waren, während sie so absurd alt geworden war. Dampfendes Hochdruck-Wasser konnte noch immer die Patina des Alters durchdringen, das ihre Haut absterben ließ.

Sonst war kaum noch etwas geblieben. Seit ihr Geruchssinn schließlich den Dienst versagt hatte, war die Nahrungsaufnahme zu einem banalen Vorgang des Auftankens reduziert worden, den man eher über sich ergehen ließ als genoß. Und, außer von ihren Virtuellprojektionen wurde sie von nichts mehr mental stimuliert; es würde ein über tausendjähriges Leben erfordern, sich durch alle Bibliotheken der Menschheit durchzuarbeiten, aber sie hatte schon lange jedes Interesse an den antiken, statischen Gedanken anderer verloren, die durch den Tod der Sonne ohnehin irrelevant geworden waren.

Sie drehte den Wasserhahn zu. Ein Schwall Warmluft umströmte sie von oben und trocknete sie schnell. Als keine Wassertröpfchen mehr von ihrer Haut abperlten, zog sie den Duschvorhang zurück.

Ihre Kabine war spartanisch eingerichtet – sie enthielt kaum mehr als diese Dusche, eine kleine Küche, eine Schlafkoje und ihren Computer mit seiner Prozessorbank. Die Kabine war hastig aus Teilen der Wandung der Northern zusammengestoppelt worden und stellte einen fünf Meter durchmessenden flachen Zylinder dar, der wie ein bösartiger Parasit auf der Schulter des Xeelee-Raumschiffes saß – und die Konturen des filigranen Nightfighters entstellte, wie Louise mit Bedauern festgestellt hatte. Die Wände der Kabine waren auf Lichtundurchlässigkeit geschaltet worden und zeigten ein diffuses Grau, das die Lounge ziemlich schmutzig und klaustrophobisch wirken ließ. Und außerdem war der Ort chaotisch. Zerknitterte und versiffte Kleidungsstücke drifteten in der Luft umher, und sie war sich eines muffigen Geruchs bewußt. Sie müßte wirklich mal aufräumen; sie wußte, daß ihr der obsessive Ordnungssinn völlig abging, der für ein längeres Überleben in der Schwerelosigkeit unabdingbar war.

Sie griff nach einem Handtuch, das in ihrer Nähe in der Luft trieb. Sie nibbelte sich kräftig ab und genoß dabei das Gefühl des rauhen Gewebes auf der Haut. Ein bloßer Luftstoß vermittelte ihr nie den Eindruck, wirklich trocken zu sein.

Das Gefühl des warmen Handtuchs auf der Haut weckte gewisse Assoziationen mit Sex.

Nach außen hatte sie immer einen sauertöpfischen Eindruck vermittelt: Die Leute betrachteten sie als eine in ihrem Beruf aufgehende Ingenieurin, die dort draußen irgendwelche Dinge baute. Aber sie hatte noch mehr zu bieten – es gab Aspekte, die Mark erkannt und während ihrer Ehe geschätzt hatte. Sex war immer wichtig für sie gewesen: Nicht nur wegen des körperlichen Vergnügens, sondern auch wegen seines Symbolgehalts: Etwas Tiefes und Archaisches in ihr, ein Echo des Urmeeres, dessen Spuren die Menschen selbst heute noch aufwiesen. Der Kontrast dieser ozeanischen Erfahrung mit ihrer Arbeit hatte sie in ihren Augen persönlich abgerundet.

Nachdem sie sich mit Mark wieder versöhnt hatte – zögernd und widerwillig, in Anbetracht ihrer gemeinsamen Isolation in der Northern –, hatten sie ihr aktives Sexleben wieder aufgenommen. Und es war gut gewesen und hatte für lange Zeit angehalten. Länger, als ihnen beiden zugestanden hätte, es zu erwarten, dachte sie. Sie wickelte das Handtuch um den Rücken und begann sich das Hinterteil abzureiben. Vielleicht, wenn Mark noch am Leben wäre…

Schlagartig wurden die Kabinenwände transparent; die Dunkelheit des Raumes überflutete sie.

Louise schrie auf und hüllte den Körper in das Handtuch.

Ihre Rechnerkonsole gab ein Lachen von sich.

Sie eilte zu einem Spind und suchte frische Kleider.

Die Tür des mit Lamellen besetzten Spindes klemmte, und sie zerrte fluchend daran, wobei sie bemerkte, daß das Handtuch zu Boden rutschte.

»Verdammt, Seilspinnerin, was machst du da?«

Louise konnte gerade so Seilspinnerins Cockpit erkennen, eine Kiste aus blinkenden Lichtern am Bug des Nightfighters. Ein Schatten bewegte sich über die Lichter – Seilspinnerin vielleicht, die sich in ihrem Sitz verrenkte, um sie spöttisch zu begutachten, »’tschuldigung. Ich wußte, daß es dir peinlich wäre.«

Louise hatte eine Kombi gefunden; jetzt stieg sie hastig hinein. »Warum«, fragte sie zornig, »hast du dann meine Intimsphäre überhaupt gestört?«

»Welchen Unterschied macht das schon? Louise, hier gibt es keine Zuschauer; wir befinden uns eine Milliarde Kilometer von der nächsten lebenden Seele entfernt. Und du bist tausend Jahre alt. Du solltest dich wirklich von diesen Tabus befreien.«

»Aber es sind meine Tabus«, zischte Louise. »Sie gefallen mir zufällig, und für mich machen sie einen Unterschied. Wenn du jemals mein Alter erreichen solltest, Seilspinnerin, wirst du vielleicht noch ein wenig Toleranz lernen.«

»Ja, vielleicht. Im übrigen habe ich deine Kabine nicht decouvriert, nur um dich mit heruntergelassenen Hosen zu erwischen.« Sie klang verschmitzt.

»Warum dann?« fragte Louise mißtrauisch.

»Weil…« Seilspinnerin zögerte.

»Weil was?«

»Schau mal nach vorne.«

Da war ein Lichtpunkt, weit vor Seilspinnerins Cockpit: Ein Punkt, der sich nun aufblähte und vor ihrem Gesicht explodierte…

Saturn, der durch den Leerraum auf sie zustürzte.

Louise schrie auf und vergrub das Gesicht in den Händen.

»Weil«, sagte Seilspinnerin leise, »wir da sind. Ich dachte, daß du dich über unsere Ankunft freuen würdest.«

Vorsichtig nahm Louise die Hände weg.

Stetiges, orangebraunes Licht leuchtete ihre Kabine aus: Das Licht eines Planeten, der von dem aufgeblähten Korpus seiner Sonne erleuchtet wurde.

Seilspinnerin lachte leise.

»Seilspinnerin«, sagte Louise langsam, »wenn das Saturn ist – wo sind dann die Ringe?«

»Ringe? Welche Ringe?«

Der Planet selbst war noch dieselbe geschwollene Masse aus Wasserstoff und Helium, wobei sein Felsenkern mit der zwanzigfachen Masse der intakten Erde sich tief im Innern befand. Noch immer erstreckten sich komplexe Wolkensysteme um den Globus, wie braune und goldene Wasserfarbentupfer. Und auch der größte Mond, Titan, war noch da.

Aber die Ringe waren verschwunden.

Louise schlang ein Seil um ihren tropfenden Körper und eilte zu ihrem Computer.

»…Louise? Ist alles klar bei dir?«

Von der Oberfläche der Stadt-Welt Titan aus betrachtet waren die Ringe ein geometrisch präzises Lichtband gewesen, das sich kontrastreich gegen das herbstliche Gold des Saturn abhob…

Louise rang sich eine Antwort ab. »Ich trauere wohl den Ringen nach, Seilspinnerin. Sie boten den schönsten Anblick im ganzen Sonnensystem. Wer würde bloß eine solche harmlose, großartige Schönheit vernichten? Und, verdammt, sie gehörten uns.«

»Aber«, wandte Seilspinnerin ein, »es gibt hier einen Ring. Ich kann ihn erkennen. Schau…«

Louise blickte in die von Seilspinnerin angegebene Richtung und studierte ihre Rechnerkonsole.

Der Ring manifestierte sich als ein schwaches Lichtband zwischen den Sternen, ein Schatten vor der schwellenden, unbeirrbaren Masse des Planeten selbst.

Früher hatte es noch drei weitere Eismonde gegeben, deren Orbitalradien den von Titan übertrafen: Iapetus, Hyperion und den retrograden Phoebe. Die Reste der drei Monde bildeten diese Trümmerspur. Dünn, farblos und ohne erkennbare Struktur umkreiste der im Licht der sterbenden Sonne rot glühende Ring aus Eisbrocken den Planeten in einem Abstand von etwa sechzig Planetenradien, ein blasser Abglanz seines glorreichen Vorgängers.

Und wo waren die anderen Monde?

Louise checkte ihre Daten. Früher hatte Saturn siebzehn Satelliten gehabt. Jetzt – soweit sie aus den Orbits schließen konnte – existierten nur noch Titan und Enceladus. Und auch von Enceladus war nicht mehr viel übrig; der kleine Mond durchlief noch immer einen Orbit in einem Abstand von vier Planetenradien zu Saturn, aber sein Pfad war jetzt viel elliptischer als zuvor. Seine Oberfläche – schon immer zerklüftet und uneben – war jetzt ein einziges Trümmerfeld. Es existierten keine Anzeichen der kleinen menschlichen Stützpunkte mehr, die sich einst funkelnd von den Schatten der gekrümmten Gebirgszüge und kraterbestandenen Ebenen abgehoben hatten.

Die restlichen Monde – selbst die harmlosen, sechzehn Kilometer durchmessenden Inseln aus Wassereis – waren verschwunden.

Louise rief sich die alten, klangvollen Namen ins Gedächtnis. Pan, Atlas, Prometheus, Pandora, Epimetheus… Namen, die jetzt fast schon so alt waren wie die Mythen, denen man sie entlehnt hatte; Namen, welche die Objekte, die sie bezeichneten, überlebt hatten.

»Louise?«

»Tut mir leid, Seilspinnerin.«

»Trauerst du noch immer?«

Janus, Mimas, Thetys, Telesto…

»Ja.«

»Irgend jemand muß das wohl tun.«

»Seilspinnerin, was hat sich hier ereignet?«

»Ein Kampf«, erwiderte Seilspinnerin ruhig. »Offensichtlich.«

Calypso, Dione, Rhea, Hyperion, Iapetus, Phoebe…

Der Nightfighter breitete die hundert Meilen breiten Schwingen aus und stieg über die Trümmer der vernichteten Monde hinweg.


Milpitas saß in seinem Büro. Außerhalb des Tempels ertönten Rufe, Schreie und gebrüllte Worte, die zu undeutlich waren, als daß er sie hätte verstehen können.

Die Geräuschkulisse schien sich zu nähern.

Er räumte den Schreibtisch ab und verstaute Papiere, Stifte und Disketten in den Schubladen. Dann faltete er die Hände und legte sie auf den Tisch.

Die Tür zu seinem Büro stand offen.

Der Renegat von – draußen – schwebte dort in der Luft. In Milpitas’ Perspektive nahm er eine fast horizontale Position ein: Als ob er sich den Bestrebungen des Planers widersetzen würde, ihn in sein ordentliches, gravitationsstrukturiertes Universum zu integrieren.

Der Renegat breitete die leeren Hände aus. »Ich will dir nichts tun.«

»Dich kenne ich doch«, dämmerte es Milpitas.

»Vielleicht tust du das.« Der Renegat war groß und ziemlich muskulös; er trug eine praktische, mit einem Dutzend Taschen bestückte Kombination, die mit unidentifizierbaren Werkzeugen vollgestopft waren. Er trug das Haar kurz, hatte es aber nicht vollständig abrasieren lassen; sein Blick war selbstbewußt, sogar erregt. Milpitas versuchte sich diesen Mann ohne Haar vorzustellen – und außerdem mit etwas weniger von diesem verdammungswürdigen Selbstbewußtsein –, in einem der versifften Standardoveralls von Suprahet und in einer angemesseneren Haltung: Vielleicht mit hängenden Schultern und vor sich gefalteten Händen…

»Mein Name ist Morrow. Du hattest etwas… äh… Ärger mit mir.« Der Renegat schaute sich im Büro um, als ob er sich an eine unschöne Erfahrung erinnerte. »Ich war schon mehrmals hier, als du versucht hast, mir die Fehlerhaftigkeit meines Denkens aufzuzeigen…«

»Morrow. Du bist doch verschwunden.«

Morrow runzelte die Stirn. »Nein. Nein, ich bin nicht verschwunden. Milpitas, du klingst wie ein Kind, in dessen Augen ein Objekt, das es nicht mehr sieht, auch nicht mehr existiert…«

Milpitas lächelte. »Was weißt du denn von Kindern?«

»Nun, eine ganze Menge«, entgegnete Morrow. Völlig beherrscht erwiderte er das Lächeln. »Ich bin nicht verschwunden, Milpitas. Ich habe nur einen anderen Ort aufgesucht. Ich habe außergewöhnliche Dinge getan, Planer – wundervolle Dinge gesehen.«

Milpitas faltete die Hände und lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wie bist du hereingekommen?«

»An deinen Wachen vorbei?« Morrow lächelte. »Wir sind von oben gekommen. Es hat nur Sekunden gedauert, und wir haben keinen Lärm dabei gemacht. Deine Posten hielten Ausschau nach einer Annäherung über das Deck; sie haben nicht damit gerechnet, daß jemand von oben hereinkommen würde. Sie wußten nicht einmal, daß wir im Gebäude waren, bis wir sie hochgenommen haben.«

»›Hochgenommen‹?«

»Sie sind bewußtlos«, erläuterte Morrow. »Die Waldmenschen benutzen ein bestimmtes Froschsekret, das… na, egal. Den Wachen ist jedenfalls nichts passiert.«

Milpitas suchte nach Worten – Worte, mit denen er wieder die Kontrolle über die Situation erlangen konnte. Er spürte zunehmende Panik; plötzlich waren seine Befehle nicht mehr ausgeführt worden. Er fühlte sich, als ob er sich im Herzen einer großen, sterbenden Maschine befände und auf Knöpfe drückte und an Hebeln zog, die keine Wirkung mehr hatten.

Morrows Stimme war sanft. »Es ist vorbei. Ich weiß, daß du geglaubt hast, das Richtige für die Menschen zu tun. Aber so ist es am besten, Milpitas. Noch mehr Tote wären nicht – zu vertreten gewesen. Das siehst du doch ein, oder?«

»Und die Mission?« fragte Milpitas bitter. »Die Ziele von Suprahet? Was ist damit?«

»Das ist noch nicht vorbei«, erwiderte Morrow. »Komm mit mir zurück, Milpitas. Es gibt erstaunliche Dinge dort draußen. Die Mission ist noch immer aktuell… Ich möchte, daß du mir – uns – bei ihrer Verwirklichung hilfst.«

Milpitas schloß erneut die Augen; plötzlich fühlte er sich unsagbar alt, als ob die Energie, die ihn fast tausend Jahre lang aufrechterhalten hatte, schlagartig aus ihm hinausströmte.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, entgegnete er aufrichtig.

Schließlich stellte jemand in den Tiefen des Tempels die Sirene ab; die letzten, enervierend heulenden Echos brachen sich an dem niedrigen, klaustrophobischen Metallhimmel.