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LOUISE ARMONK bat Seilspinnerin, den Nightfighter zu der Quelle von Marks anomalem Signal im Wasserstoff-Frequenzband zu steuern.

Sie zeigte Seilspinnerin einige für das Signal relevante Daten. »Hier ist eine Grafik der Hauptreihe, Seilspinnerin.« Ein in kräftigem Gelb und Blau gehaltenes Säulendiagramm wurde auf Seilspinnerins Helmvisier projiziert. »Das gibt uns einige Rätsel auf. Zum einen ist es periodisch – das gleiche Muster erscheint etwa alle zwei Stunden. Also können wir wohl davon ausgehen, daß es künstlich ist. Und sieh dir das mal an«, sagte Louise. Eine Sequenz aus dreißig Säulen, die zu einer Vielzahl anderer gehörten, wurde jetzt mit elektrostatischem Blau markiert. »Siehst du das?«

Seilspinnerin betrachtete die ansteigende Sequenz von Säulen und bemühte sich nach Kräften, den Grund für Louises Erregung zu ermitteln. »Worauf soll ich denn überhaupt achten, Louise?«

Mit Ungeduld vernahm sie Louises Knurren. »Seilspinnerin, die Amplituden dieser Impulse nehmen zu, proportional zu den ersten dreißig Primzahlen.«

Die xenonblauen Säulen wurden jetzt in einzelne Blöcke zerlegt, um Seilspinnerin bei der Identifizierung des Musters zu unterstützen. Sie zählte die Säulen: Eins, zwei, drei, fünf, sieben…

Sie registrierte ein unsichtbares Lächeln. Wie ein Puzzle für Kinder, nicht wahr?

»Ach, halt’s Maul«, meinte sie spontan.

»Was war das?«

»Nichts… Entschuldige, Louise. Ja, jetzt sehe ich es.«

»Schau – das Spannende an der Ortung dieser Reihe von Primzahlen ist, daß das Signal mit allergrößter Wahrscheinlichkeit menschlichen Ursprungs ist.«

»Reicht denn dieses Muster überhaupt aus, um einen solchen Schluß ziehen zu können?«

»Wir wissen es natürlich nicht mit Bestimmtheit«, konzedierte Louise ungeduldig. »Aber es ist ein verdammt plausibles Indiz, Seilspinnerin. Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Primzahlen von besonderer Bedeutung für die Menschen sind.

Bei den Primzahlen handelt es sich nämlich um fundamentale Strukturen der Arithmetik – zumindest der diskreten Arithmetik, die den Menschen scheinbar instinktiv zu eigen ist. Wir sind kompakte, klar definierte Wesen: Ich bin hier, und du bist irgendwo dort draußen. Eins, zwei. Diese Art des Zählens ist uns offensichtlich angeboren, und daher tendieren wir dazu, sie für eine fundamentale Facette des Universums zu halten. Aber es sind auch noch andere mathematische Paradigmen vorstellbar.

Was ist zum Beispiel mit Lebewesen wie den Qax, bei denen es sich um diffuse Kreaturen handelte, ohne präzise Trennlinien zwischen den einzelnen Individuen? Was mit den Squeem und ihrem Kollektivbewußtsein? Warum sollte einfaches Zählen für sie natürlich sein? Vielleicht war ihre Frühform der Mathematik stetig – oder vielleicht ergab sich das Studium der unendlichen Mengen bei ihnen von selbst, wie die Arithmetik bei den Menschen. Für uns war die Cantorsche Hierarchie der unendlichen Mengen eine ziemlich späte Entdeckung. Und…«

Seilspinnerin hörte kaum zu. Menschen? Hier, am Rand von Raum und Zeit? »Louise, habt ihr auch den Rest entschlüsselt?«

»Nun, wir können einiges extrapolieren«, erwiderte Louise defensiv. »Glauben wir jedenfalls. Aber erinnere dich, Seilspinnerin, wir haben es vielleicht mit Menschen einer Kultur zu tun, die der unseren weit voraus ist – vielleicht um Millionen Jahre. Die Menschen einer derart entfernten Zukunft unterscheiden sich möglicherweise kaum weniger von uns als eine Fremdrasse. Nicht einmal Lieserl hat uns diesbezüglich weiterhelfen können…«

»Aber ihr habt trotzdem gewisse Fortschritte gemacht, oder?«

Louise zögerte. »Ja. Wir glauben, daß es ein Notruf ist.«

»Oh, gut. Ja, wir sind sicherlich in der Lage, menschlichen Göttern aus der Patsche zu helfen, die fünf Millionen Jahre jünger sind als wir.«

»Wer weiß?« sagte Louise trocken. »Vielleicht sind wir es ja wirklich. Auf jeden Fall werden wir es herausfinden.«

… Da war Bewegung auf Seilspinnerins linker Seite. Sie drehte sich um.

Plötzlich war der Mann aus dem Waldtraum sichtbar. Ganz lässig saß er dort – außerhalb des Käfigs – auf der aus Werkstoff bestehenden Schulter des Nightfighters. Er trug keinen Schutzanzug, nur einen nüchternen grauen Overall. Er hatte die Hände im Schoß gefaltet. Licht – von einer unsichtbaren Quelle – beleuchtete die Falten um seinen Mund, den Ausdruck der Müdigkeit in seinen Augen.

Hatte er sich am Ende doch noch gezeigt. Er nickte ihr leicht zu.

Sie lächelte.

»… Seilspinnerin?«

»Hier bin ich, Louise.« Sie versuchte, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren; sie griff nach dem Hyperantriebs-Waldo. »Bist du bereit?«

»Ja.«


Der Nightfighter flackerte durch den Hyperraum. Mit einer Geschwindigkeit von über hunderttausend Lichtjahren pro Stunde umrundete die Northern den Torus aus fragmentierten String-Schleifen wie eine Fliege den Rand einer Wüste.

Der Flug dauerte zehn Stunden. Als er sich seinem Ende näherte, gönnte Seilspinnerin sich ein kurzes Nickerchen; nach dem Aufwachen ließ sie sich von ihrem Anzug säubern und entleerte die Blase.

Sie kontrollierte ein Display auf dem Helmvisier. Noch zwanzig Sprünge. Noch zwanzig Sekunden, und…

Etwas dynamisch Blaues explodierte im Raum vor ihr und schob sich groß vor ihr Gesicht.

Sie schrie auf und schlug die Hände vor das Visier.

Es ist alles in Ordnung, sagte Poole leise.

»Es tut mir leid, Seilspinnerin«, entschuldigte sich Louise Armonk. »Ich hätte dich vorher warnen sollen…«

Vorsichtig nahm Seilspinnerin die Arme herunter.

Überall waren Strings.

Ein Gewirr kosmischer Strings, das durch die Falschfarbendarstellung des Visiers in elektrostatischem Blau glühte, lag direkt vor dem Schiff. Mit Lichtgeschwindigkeit wandernde Scheitelpunkte glitzerten oberhalb der verdrillten Stränge. Sie beugte sich vor und schaute nach oben und unten, nach links und rechts; so weit sie sehen konnte, zogen sich die Fäden der Strings zickzackförmig über den Himmel, eine strukturierte Wand im Weltraum. Bei einer näheren Betrachtung der gigantischen Struktur sah Seilspinnerin, daß die einzelnen Fäden sich verschwommen überlagerten und zu einem schwachen Nebel in der Unendlichkeit verschmolzen.

Die String-Schleife bildete eine Barriere im Raum und teilte das Universum in zwei Hälften. Es war recht schön, dachte sie – aber tödlich. Es war ein kosmisches Netzwerk, dessen Fäden lang genug waren, die Entfernungen zwischen Sternen zu überbrücken: Ein Netz, das bereit war, sie und ihr Schiff einzufangen.

Und außerdem wußte sie, daß es sich hierbei nur um ein Tausend-Lichtjahres-Fragment von Tausenden im Torus handelte…

»Teufel«, sagte sie. »Wir befinden uns fast schon im Innern dieses verdammten Rings.«

»Nicht ganz«, korrigierte Louise. Ihre Stimme war allerdings angespannt und verriet Nervosität. »Denk an die Entfernungsmaßstäbe, Seilspinnerin. Die String-Schleifen in diesem Torus-System haben einen Durchmesser von etwa tausend Lichtjahren. Wir sind jetzt so weit vom Rand dieser Schleife entfernt wie die Sonne von ihrem nächsten Stern.«

»Mit der Ausnahme«, fiel Mark ihr ins Wort, »daß die Schleife keinen klar definierten Rand hat. Sie ist unscharf. Kosmische Strings sind verdammt schwer nachzuweisen; die Abbildung, die du betrachtest, Seilspinnerin, ist ausschließlich eine virtuelle Rekonstruktion; sie stellt lediglich das dar, was wir dort draußen vermuten.«

»Dann gehen wir also ein Risiko ein, wenn wir uns hier aufhalten?« fragte Seilspinnerin.

Natürlich, bestätigte Michael Poole.

»Nein«, dementierte Louise.

»Doch«, widersprach Mark. »Komm schon, Louise. Seilspinnerin, wir sind damit beschäftigt, die Risiken zu minimieren. Aber die Gefahr besteht trotzdem. Seilspinnerin, du mußt bereit sein, zu reagieren – uns schnell hier wegzubringen. Wir haben den Waldos Fluchtroutinen einprogrammiert, sowohl für den Hyperantrieb als auch für das Diskontinuitätentriebwerk.«

»Ich werde bereit sein«, erwiderte sie ruhig. »Aber warum sind wir denn hier? Kommt das menschliche Signal von irgendwo hier drinnen – aus dem Innern des Strings?«

»Nein«, meinte Louise. »Zum Glück nicht. Seilspinnerin, das Signal stammt aus dem System eines Neutronensterns – nur wenige Lichtstunden von hier entfernt. Wir haben…«

»…eine Routine für das Diskontinuitätentriebwerk in die Waldos einprogrammiert«, ergänzte Seilspinnerin trocken. »Ich weiß.« Sie griff nach der Steuerung. »Gib mir Bescheid, wenn ihr soweit seid, Louise.«


Poole sah müde aus, und seine braunen Augen lagen tief in einem Netz aus Falten. Du mußt wissen, daß ich mit Louise Ye Armonk zusammengearbeitet habe, sagte er. Er lächelte. Und da wären wir nun wieder vereint. Wie klein die Welt doch ist, nicht? Sie war eine gute Ingenieurin. Und ich glaube, daß sie auch heute noch gut ist.

»Ich weiß, daß du dich dazu entschlossen hattest, deine Wurmloch-Zeitbrücke zu schließen«, sagte Seilspinnerin. »Erzähl mir, was dir zugestoßen ist.«

Poole saß in einer offensichtlich entspannten Haltung auf der Schulter des Nightfighters; er hatte die Augen geschlossen und den Kopf nach vorn geneigt. Ich erinnere mich, wie die Lebenskuppel meines GUT-Schiffes in das Interface einflog, berichtete er zögernd. Da war Licht – wie Feuer, blauviolett – am ganzen Umfang der Kuppel. Ich weiß, daß es das Fleisch des Spline war, das von dem aus exotischer Materie bestehenden Gitterrohrrahmen des Interface verbrannt wurde. Ich erinnere mich – an ein Gefühl des Verlustes, der Entfremdung.

»Verlust?«

Ich verließ mein Zeit-Kontinuum. Seilspinnerin, jeder von uns – (er hob transparente Hände) – sogar ich – steht durch Quantenfunktionen mit der Welt in Verbindung. Ich war non-lokal mit allem verbunden, das ich jemals berührt, gesehen, geschmeckt hatte… Nun waren all diese Quantenverbindungen unterbrochen. Ich war so allein, wie ein Mensch nur sein konnte.

Ich aktivierte den Hyperantrieb.

Stücke des Wurmlochs schienen sich abzulösen. Ich erinnere mich an Ströme blauweißen Lichts… Ich glaubte fast, diese harten Photonen spüren zu können, welche die Lebenskuppel durchdrangen.

Die Raumzeit wird von Wurmlöchern durchzogen: Sie ist wie eine Glasplatte, die von Sprüngen durchzogen wird. Als Poole den Hyperantrieb im Innern des Wurmlochs aktivierte, war es, als ob jemand dieses fehlerhafte Glas mit einem Hammer zertrümmerte. Vom Auftreffpunkt breiteten sich explosionsartig Sprünge aus und verbreiterten sich; sie vereinigten sich zu einem komplexen, expandierenden Netzwerk aus Sprüngen, einem Muster aus Rissen, das sich ständig neu konfigurierte, während die Raumzeit sich abwechselnd regenerierte und wieder zerbrach.

Die Risse in der Raumzeit öffneten sich wie verzweigende Tunnel, die in die Unendlichkeit führten… Poole lächelte selbstironisch. Ich begann mich zu fragen, ob das wirklich ein so guter Plan gewesen war.


Das Beiboot schwebte von der Lebenskuppel der Northern hinab.

Lieserl saß auf einer virtuell projizierten Sitzbank neben Mark Wu; vor ihnen war der blinde Uvarov in seine Decken gehüllt, sein höhlenartiger Mund stand offen, und der Atem ging rasselnd. Die immensen Diskontinuitäten-Antriebsschwingen des Nightfighters breiteten sich wie das gewölbte Dach einer riesigen Kirche über der Kuppel aus.

Weit unter dem Boot drehte sich der düstere, atmosphärelose Planet, zu dem sie unterwegs waren. Als sie die aus dem glühenden Nebel herausragende Insel der Solidität betrachtete, überkam Lieserl ein plötzliches – und reichlich absurdes – Schwindelgefühl. Sie hatte den Eindruck, in diesem Sitz ohne Schutz weit über der Planetenoberfläche zu schweben; sie fühlte den Impuls, den sie entschlossen unterdrückte, sich an den Seiten ihres Sitzes festzuhalten.

Schwindelgefühl… Nach all ihren Erfahrungen im Innern der Sonne und trotz des unumstößlichen Wissens, daß ihr nicht einmal dann etwas zustoßen konnte, wenn das Boot hier und jetzt explodierte – weil sie im Grunde ja nur eine Virtuellprojektion der Hauptprozessoren der Northern darstellte, die durch die Prozessorbänke des Beibootes noch verstärkt wurde –, ungeachtet dieser Aspekte war ihr schwindlig.

Dennoch, sagte sie sich, war es tröstlich zu wissen, daß sie wenigstens noch so viel Menschlichkeit bewahrt hatte, um zumindest ein wenig Furcht zu empfinden. Vielleicht sollte sie Mark davon erzählen; es könnte seine Meinung von ihr verbessern.

Hinter der transparenten Wandung des Beiboots entfaltete sich das System des Neutronensterns als ein riesiges Tableau um sie herum.

Der Neutronenstern selbst war eine winzige, grelle gelbrote Kugel. Er hatte einen Begleiter – einen normalen Stern – und wurde von einem Ring aus Gas umgeben, der sanft glühte. Und es gab einige Planeten, die den Neutronenstern innerhalb des rauchigen Ringes umliefen.

Tatsächlich stammte das anomale Signal von einem dieser Planeten, der kleinen Welt, zu der Lieserl jetzt hinabstieg.

Der Nightfighter hatte sie in dem Ring aus Rauch abgesetzt, der den Stern umkreiste. Es war wie der Abstieg in eine Nebelbank. Nahe beim Boot konnte Lieserl dichte Wirbel des Ringgases erkennen – Ballungen und Strudel turbulenter Materie – und dahinter stand der Rest des Rings als Band aus fahlem Licht, welches das Universum in zwei Hälften teilte. Sie konnte den Neutronenstern selbst sehen, einen kleinen, harten Kohlebrocken, der im Herzen dieses Rings aus Rauch gelbrot glühte. Neben ihm hing sein Partnerstern – groß, bleich und durch das extrem starke Gravitationsfeld des Neutronensterns zu einem gedrungenen Ellipsoiden verzerrt. Der Kadaver des Satelliten emittierte Stränge aus Gas, die blindlings dem Neutronenstern zustrebten.

Und dahinter, in einem unglaublichen Winkel zu dem Gas-Torus, stand ein Sternenbogen.

Dieser Neutronenstern bewegte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit: Er stürzte fast mit Lichtgeschwindigkeit durch das All. Infolge der hohen Geschwindigkeit waren der Neutronenstern und sein System die einzigen sichtbaren Objekte in Lieserls Universum. Der gesamte Rest – die blauverschobenen Galaxien, die in der Nähe stehende Wand aus kosmischen Strings – war in diesem bleichen Sternenbogen komprimiert, ein Band aus Licht, das die Umlaufbahn des Sterns säumte. Und von dem Sternenbogen abgesehen gab es sonst nur Dunkelheit.

Uvarov neigte den Kopf, und die Innenbeleuchtung des Beiboots warf Schatten auf seine implodierten Augenhöhlen. »Sag mir, was du siehst«, zischte er.

»Ich sehe einen Neutronenstern«, antwortete Mark. »Ein durchschnittliches Exemplar seiner Art. Mit einem Durchmesser von nur sechzehn Kilometern, aber mit einer Masse, die fast der von Sol entspricht… Das einzig Ungewöhnliche an diesem Stern ist indessen die Tatsache, daß er einen Begleiter hat, der ein normaler Stern ist – war.«

Vor Mark materialisierte glitzernd ein virtuelles Diorama des Neutronenstern-Systems; die Kugeln des Neutronensterns und seines Satelliten wurden mit einem Netz von Falschfarben überzogen, das – wie Lieserl vermutete – Gravitationsgradienten darstellte, magnetische Flußlinien und andere Parameter. Texteinblendungen und Hilfsgrafiken drifteten neben den glühenden Objekten in der Luft.

»Früher«, erläuterte Mark, »hatte es sich bei diesen Sternen um einen Doppelstern gehandelt – und zwar um einen spektakulären, weil der Neutronenstern nämlich ein strahlender Superriese gewesen sein muß. Irgendwie hat sein Begleiter die Supernova-Explosion des Riesen überlebt. Aber das Überbleibsel dieser Explosion – der Neutronenstern – bringt seinen Satelliten auf genau dieselbe Art um.« Er zeigte mit dem Finger. »Die Gravitationsquelle des Neutronensterns entzieht dem Begleiter Materie… Schau hin, Lieserl; diese filigran wirkenden Rauchsäulen könnten Jupiter verschlucken. Ein Teil der vom Satelliten abgegebenen Materie stürzt in den Neutronenstern selbst. Und während sich dessen Masse dadurch erhöht, wird seine Rotation unregelmäßig – der Neutronenstern muß wohl in regelmäßigen Abständen von Sternenbeben heimgesucht werden. Das restliche Gas treibt ab und lagert sich an dem Ring ab, in dem wir uns befinden und der den Neutronenstern umkreist.«

»Glaubst du, daß die Vögel für die Supernova-Explosion verantwortlich waren, Mark?« fragte Lieserl.

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Dazu ist das System zu stabil… Ich glaube vielmehr, daß die Explosion schon stattgefunden hat, lange bevor die Vögel auf das System aufmerksam wurden.«

»Und der Begleiter?«

Er lächelte und schaute zu dem komplexen Himmel hoch. »Lieserl, das ist ein Stern, den die Vögel nicht töten müssen. Der Neutronenstern selbst nimmt ihnen diese Arbeit nämlich ab.«

Die Virtuelldarstellung des Neutronensterns vergrößerte sich vor seinem Gesicht und verdrängte den Satelliten sowie die anderen Merkmale aus dem Diorama. Mark betrachtete einen komplexen Knoten aus Licht, der sich an einer Stelle befand, die einer der Magnetpole des Sterns zu sein schien.

Lieserl wandte den Blick ab. Der Planet war jetzt nicht mehr weit entfernt; langsam verwandelte er sich von einer im Leerraum aufgehängten Felskugel in eine Landschaft – öde, düster, von Rissen durchzogen.

»Was ist mit den Planeten?« fragte Lieserl. »Wie haben sie die Supernova überstehen können?«

»Ich vermute, daß sie überhaupt nicht davon betroffen waren«, erwiderte Mark, der noch immer auf den Pol des Sterns starrte. »Ich glaube, daß sie erst nach der Explosion entstanden sind: Zusammenballungen aus der Materie des Gasrings und Trümmern der Explosion selbst – vielleicht von dem früheren Planetensystem, falls es überhaupt eins gegeben hat… Lieserl. Teufel. Schau dir das mal an!«

»Was?«

Die Virtuelldarstellung des Neutronensterns kam durch die Kabine auf sie zu; der kleine Lichtknoten rammte ihr Gesicht. Lieserl zuckte zusammen, schaute aber mutig auf das glühende, komplexe Bild.

Mark grinste, und seine Stimme vibrierte vor Aufregung. »Siehst du es?«

»Ja, Mark«, entgegnete sie geduldig, »aber du mußt mir schon sagen, was ich sehe.«

»Es liegt eine größere Störung der Gravitationsgradienten an diesem magnetischen Pol vor.« Pfeile versammelten sich um den Pol des Sterns und formierten sich zu einer Ebene. »Siehst du das?«

»Was ist damit?«

Mark klang ungeduldig. »Lieserl, ich glaube, daß dort unten eine Ebenen-Diskontinuität besteht. Eine zweidimensionale Störstelle. Eine Weltfläche im Innern des Sterns…«

Lieserl runzelte die Stirn. »Das ist unmöglich.«

»Natürlich ist es das.« Er grinste. »Wie sollte sich auch eine Weltflächen-Störstelle im Innern eines Neutronensterns bilden? Unmöglich… es sei denn, sie ist dort positioniert worden.«

Uvarovs zerstörter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Dort positioniert worden?«

»Wir haben uns schon gefragt, wie es möglich war, daß dieser Neutronenstern allein hier draußen steht – abseits aller Galaxien, und weshalb er noch dazu so verdammt schnell ist. Nun, jetzt wissen wir es.«

Lieserl mußte lachen. »Das ist ja ungeheuerlich. Willst du damit sagen…«

»Ja«, bekräftigte er ernst. »Ich glaube, daß jemand, Menschen vielleicht, einen Diskontinuitätenantrieb am Magnetpol dieses Neutronensterns installiert und damit das ganze System fast mit Lichtgeschwindigkeit durch den Weltraum gejagt haben.«

»Aber das ist doch absurd«, wandte sie ein. »Warum sollte jemand denn so etwas tun?«

Jetzt lachte Uvarov sie aus. »Noch immer die Rationalistin, Lieserl, nach all unseren Erfahrungen? Nun, vielleicht werden wir bald die Antwort auf solche Fragen erhalten. Aber dessen bin ich mir sicher – daß es irgendwie mit diesem endlosen, blutigen himmlischen Krieg in Verbindung steht, in den wir geraten sind.«

Das Boot verlangsamte die Sinkgeschwindigkeit, und dann flog es über der desolaten Landschaft des Planeten dahin.

»Wir befinden uns über der Quelle der Signale…«, meldete Mark schließlich. »Dort«, sagte er plötzlich. »Seht ihr das?«

Uvarov verrenkte den Kopf auf dem dürren Hals.

Lieserl schaute angestrengt nach unten.

»Eine Struktur«, sagte Mark. »Dort auf der Oberfläche… Eine Art Gebäude. Kommt; ich bringe uns runter.«


Ich stürzte in die Zukunft, Seilspinnerin, durch ein Netzwerk aus temporären Wurmlöchern, die hinter mir kollabierten. Die Instrumente waren zwar zerstört, aber ich wußte, daß die Lebenskuppel mit Hochenergie-Teilchen und Gravitationswellen geflutet sein mußte. Ich war so hilflos wie ein Neugeborenes.

Im Vakuum saß Poole im Lotussitz auf der Schulter des Nightfighters, wobei die Hände mit nach oben gerichteten Handflächen bequem auf den Knien lagen.

Seilspinnerin konnte das geriffelte Profil seiner Stiefelsohlen erkennen. Ich bin fünf Millionen Jahre gefallen…, sagte er.


Mark Wu – oder vielmehr eine seiner virtuellen Projektionen – analysierte über einen der hundert Sensoren des Schiffes die kosmische Stringschleife. Er war unzufrieden: Der multiperspektivische Blick war verschwommen und unpräzise.

Das Problem war, daß sich das Schiff in einem Orbit um diesen verdammten Planeten des Neutronensterns befand, der so schnell durch den Raum stürzte, daß das sichtbare Universum zu einem schmalen, bleichen Sternenbogen reduziert wurde. Er hatte den Eindruck, sich wieder auf dem tausendjährigen Flug der Northern zu befinden. Mark mußte die Effekte der fast lichtschnellen Bewegung normalisieren: Das Universum erneut aus dem Sternenbogen herausfiltern.

Mark verfügte über entsprechende Subroutinen. Aber das war, so überlegte er unbehaglich, ein bißchen wie das Verquirlen eines Eises. Die resultierenden Bilder waren nicht völlig klar.

Im Innern seines Prozessorgehäuses arbeitete Mark Wu im Bereich von Nanosekunden. Er konnte Daten mehrere Millionenmal so schnell verarbeiten wie ein Mensch, und manchmal bedurfte es schon einer gewissen Anstrengung, wieder herauszukommen und sich der zähen Langsamkeit der menschlichen Welt anzuschließen.

Sieben Jahrhunderte waren bereits seit seinem physischen Tod und der Einspeicherung in die KI-Bänke der Northern vergangen, und er entwickelte eine zunehmende Kompetenz im non-humanen Betriebszustand. So unterstützte er zum Beispiel genau in diesem Moment im Beiboot konventionelle menschliche Projektionen von Lieserl und Uvarov, und ein weiteres von Louise an Bord der Great Britain, parallel zu seiner direkten Schnittstelle mit den Systemen in der Northern.

Der Betrieb dieser multiplen Bewußtseine war nicht angenehm, aber er hatte sich daran gewöhnt, solche geringfügigen Befindlichkeitsstörungen im Bedarfsfall zu ertragen.

Und ein solcher Fall lag jetzt vor.

Er überlegte, daß er gegen den Flug zum Neutronenstern vielleicht sein Veto hätte einlegen sollen. Diese Exkursion hatte die Northern nämlich dicht – verdammt zu dicht – an diese kosmische Stringschleife herangeführt. Wenn man es mit einem tausend Lichtjahre durchmessenden Objekt zu tun hatte, dachte er übellaunig, schien ein Abstand von einer bloßen Handvoll Lichtjahre nicht einmal annähernd ausreichend zu sein.

Mark schaltete eine Reihe untergeordneter Bewußtseine zu und begann sich überlagernde Sektoren des Himmels abzusuchen.

Die Darstellung des Universums war mosaikartig und bestand aus den Fragmenten, die ihm von den Sensoren bereitgestellt wurden; er verglich den Vorgang im Ansatz mit einem Blick durch die Facettenaugen einer Fliege. Und das Universum wurde gitterförmig, überall, von Doppelbild-Pfaden der Strings durchzogen – es kam ihm so vor, als ob das All eine große, von langen Rissen entstellte Glaskuppel wäre.

Durch die Untersuchung der Doppel-Abbildungen von Sternen und Galaxien war Mark in der Lage, die fast lichtschnelle Fortbewegung der Stringsegmente zu bestimmen; er führte kontinuierliche Aktualisierungen des internen Modells durch, das er hinsichtlich der lokalen String-Dynamik erstellt hatte und versuchte zu gewährleisten, daß das Schiff einen Sicherheitsabstand von…

Eine wachsame Subroutine löste Alarm aus. Mark spürte ein vage kribbelndes Unbehagen, einen Schauder.

Da war Bewegung, im Gesichtsfeld einer Sensorbank. Er richtete sein Bewußtsein aus und fixierte es auf die von der Sensorbank geortete Anomalie.

Vor dem Hintergrund einer schönen, blaugetönten Spiralgalaxis erkannte er eine Zwillingsspur multipler stellarer Abbildungen.

Er realisierte, daß es hier also zwei String-Abschnitte geben mußte: Zwei Bogen dieser einen großen String-Schleife, nur wenige Lichtstunden voneinander entfernt. Und anhand des konvergierenden Flusses der Sternabbildungen konnte er sehen, daß die Bogen einander in entgegengesetzter Richtung passierten; vielleicht würden sie sich am Ende sogar noch schneiden.

An manchen Orten existierten sogar drei Bilder ein- und desselben Sterns. Das Licht von jedem dieser Sterne erreichte ihn über drei Routen – zur Linken des String-Paares, zur Rechten und genau mitten durch die Strings.

Die Ursache des Alarms war offensichtlich. Auf ganzer Länge der Doppelspuren erkannte er gleitende Sternabbildungen, als ob sie durch eine schmelzende Raumzeit driften würden. Diese Strings mußten sich in ihrer Nähe befinden – vielleicht sogar schon innerhalb der Zwei-Lichtjahres-Zone, die er als Sicherheitsabstand definiert hatte.

Er ließ eine schnelle Redundanzüberprüfung der Routinen ablaufen, die er für die Messung der Entfernung des Schiffes vom String programmiert hatte. Er fragte sich, ob er Louise und Seilspinnerin davon erzählen sollte…

Nun schrillten plötzlich Alarmroutinen Warnungen in sein Bewußtsein. Es war wie ein heftiger Panikanfall; er fühlte sich, als ob Adrenalin sein System überfluten würde.

Was, zum Teufel…

Er befragte seine Routinen, konzentriert und zügig. Es dauerte nur Nanosekunden, bis das Problem ermittelt war.

Die zwei String-Bogen befanden sich näher an ihrer Position, als er anfangs gedacht hatte. Seine Entfernungsmessungs-Routinen waren durch die Interaktion der zwei Strings getäuscht worden, durch die Art, in der das Paar gemeinsam die Sternenabbildungen verzerrte.

Also standen die Strings näher, als seine Überwachungssysteme ihm gemeldet hatten. Das Problem war, daß er nicht wußte, wie nahe; vielleicht waren sie viel näher.

Verdammt, verdammt. Ich hätte das wissen müssen. Fieberhaft initialisierte er eine Reprogrammierungs-Routine, die gewährleistete, daß er künftig nicht mehr von multiplen Bildern von Stringpaaren wie diesem genarrt wurde – oder von überhaupt irgendeiner Kombination.

Aber das half ihm jetzt auch nicht mehr weiter.

Hektisch bearbeitete er die Tastatur und versuchte, eine erste Schätzung der tatsächlichen Entfernung der Strings zu erhalten…

Er traute seinen Augen nicht. Er modifizierte die Prozedur und startete sie erneut.

Das Ergebnis blieb das gleiche.

Nun, soviel zum Zwei-Lichtjahres-Sicherheitsabstand.

Das String-Paar stand nur etwa fünfzehn Millionen Kilometer von der Northern entfernt – weniger als eine Lichtminute.

Ein Element des String-Paares zog sich zwar zurück – aber das andere hielt direkt auf das Schiff zu.

Er ließ weitere Überprüfungen laufen. Kein Irrtum möglich.

In fünfzig Sekunden würde dieser String mit der Northern kollidieren.

Blitzartig verließ er die Prozessorbank und tauchte wieder in die Welt der Menschen ein. Ungeduldig wartete er, bis Pixel aus der Luft materialisierten und sein Gesicht rekonstruierten; er spürte, daß sich sein Bewußtsein den trägen Menschen anglich.