13



»PFEILMACHER, sag mir, was du siehst. Kannst du die Sterne sehen?«

Pfeilmacher schaute durch die Wandung des Bootes nach unten. »Ich verstehe nicht.«

Uvarovs körperlose Stimme wurde schwächer; Pfeilmacher stellte sich vor, wie der alte Mann schwach unter seiner Decke um sich schlug. »Kannst du die Sonne sehen? Eigentlich müßte sie jetzt schon zu sehen sein. Pfeilmacher – ist die Erde da? Ist…«

»Nein.«

»Pfeilmacher…«

»Nein.«

Pfeilmacher schrie das letzte Wort, und Uvarov verstummte.

Die Fähre hatte sich nun vom beleuchteten Rand der Schleuse entfernt; Pfeilmacher nahm ihn als einen über seinem Kopf hängenden Lichtrahmen wahr. Jetzt umfing die äußere Dunkelheit das Boot… Nein, dachte er, er ging dieses Sache gedanklich falsch an. Die Dunkelheit war das Universum; wie bei einer obszönen, mechanischen Geburt war das Boot aus der Lebenskuppel in die Dunkelheit ausgestoßen worden.

Die Basis der Lebenskuppel hing wie ein großer Bauch aus Glas und Metall über ihm, der langsam zurückwich und dabei seine Krümmung zeigte. Und dahinter – verzerrt und verschwommen durch das Material der Basis – machte er das lichterfüllte Innere der Kuppel aus. Er konnte Details erkennen: Die Liftschächte der oberen Decks, Steuerkonsolen wie die, bei der er Seilspinnerin, Morrow und Uvarov zurückgelassen hatte – nun, wenn seine Augen scharf genug waren, konnte er jetzt wahrscheinlich die Fußsohlen seiner Tochter sehen, wenn er nach oben blickte.

Plötzlich traf ihn die Realität mit voller Wucht. Er befand sich außerhalb der Lebenskuppel. Er hatte ihre schützende Hülle verlassen – vielleicht der erste Mensch, der sich nach fünfhundert Jahren wieder in den Weltraum gewagt hatte – und nun hing er in der Leere, die den größten Teil des unwirtlichen, leblosen Universums ausmachte.

»Pfeilmacher. Sprich mit uns!«

Pfeilmacher lachte, wobei ihm seine Stimme selbst in den Ohren schrillte. »Ich hänge in einer Glasblase, umgeben von Leere. Ich sehe die Lebenskuppel vor mir. Es ist wie…«

»Wie was?« Das war Morrows Stimme; sie klang neugierig.

»Wie eine Kiste aus Licht. Wirklich – schön. Wirkt aber sehr zerbrechlich…«

»Oh, gib mir Kraft«, fiel Uvarov ihm ins Wort. »Was noch, Pfeilmacher?«

Pfeilmacher drehte den Kopf nach links und rechts.

Zur Rechten der Fähre erstreckte sich eine riesige Säule aus Metall durch den Raum. Sie war sehr groß und ließ das Boot dagegen winzig erscheinen, wie der Stamm eines bizarren künstlichen Baums. Sie verschmolz nahtlos mit der Lebenskuppel und war mit Tassen, Rippen und Blumen aus Metall bestückt.

Pfeilmacher beschrieb seine Eindrücke.

»Der Träger«, präzisierte Uvarov ungeduldig. »Du bewegst dich parallel zum Ausleger des GUT-Schiffes. Ja, ja; genau wie ich dir gesagt habe. Pfeilmacher, siehst du das Interface? Das Wurmloch…«

Pfeilmacher beugte sich nach vorne und schaute nach unten, an den Sitzen und Verstrebungen vorbei durch den Boden der Fähre. Dieser Ausleger erstreckte sich über eine große Entfernung, wobei sich die Auswüchse seiner parasitären Gebilde perspektivisch verkleinerten, bis der Träger zu einer bloßen gezackten Linie reduziert wurde. Das ganze Gebilde hatte eine Länge von nicht weniger als fünf Kilometern, wie Uvarov ihm gesagt hatte.

Jenseits der Basis des Auslegers war eine Lichtbahn, die den halben Himmel verdeckte. Das Licht war xenonblau und leicht strukturiert; es wirkte wie eine riesige, umgestülpte Blüte, die mit kräftiger getönten Linien überzogen war. Pfeilmacher konnte eine langsame Entwicklung der Lichtmuster erkennen, wobei die helleren Linien sich leicht krümmten, miteinander verschmolzen und sich wieder trennten, wie Haare in einer Brise. Das Licht erzeugte blaue Reflexe, komplex und variierend, an der Struktur des Trägers.

Er betrachtete das GUT-Triebwerk: Wie Uvarov ihm erzählt hatte, stammte das Licht von der urzeitlichen Energie, die das Schiff und seine ganze Fracht über eintausend Jahre durch Raum und Zeit transportiert hatte.

Konturiert durch die Wand aus Schöpfungslicht, direkt unterhalb der Basis des Auslegers, befand sich eine dunkle, unregelmäßige Masse, die zu weit entfernt war, als daß Pfeilmacher sie hätte identifizieren können: Es war der angeflanschte Eis-Asteroid, der noch immer – nach all diesen Jahren – geduldig seine Substanz opferte, um als Reaktionsmasse für das große Raumschiff zu dienen. Und…

»Uvarov. Das Interface. Ich sehe es.«

Dort, auf halber Länge des leuchtenden Auslegers, war eine Tetraederstruktur: Mit blauen Kanten, und durch etwas mit dem Ausleger vertäut, das an goldene Bänder erinnerte.

»Gut.« Er vernahm ein Tremolo der Erleichterung in Uvarovs Stimme. »Gut. Jetzt, Pfeilmacher – such den Himmel ab und beschreibe die Sterne, die du siehst.«

Pfeilmacher richtete den Blick über das Schiff hinaus. Der Ausleger, das Interface, waren in Dunkelheit getaucht.

Uvarovs Tonfall wurde hektisch, fast undeutlich. »Dann könnten wir nämlich unsere Position – und das Datum – anhand der Konstellationen bestimmen. Wenn ich die alten Kataloge noch finde; diese verdammten Survivalists auf den Decks müssen sie an sich gebracht haben. Und…«

»Uvarov.« Pfeilmacher versuchte, energisch zu klingen. »Hör mir zu. Da stimmt etwas nicht.«

»Kann nicht sein. Ich…«

»Es gibt keine Sternenkonstellationen. Es gibt keine Sterne.« Jenseits des Schiffes war nur Leere; es schien so, als ob das große Schiff, mit seinem flammenden Triebwerk und der bevölkerten Lebenskuppel, das einzige Objekt im Universum wäre…

Nein, das war nicht ganz richtig. Er schaute nach links und rechts und überflog den Äquator des ihn umgebenden schwarzgrauen Himmels; da schien etwas zu sein – ein Band aus Licht, das zu schwach war, um seine Farbe zu ermitteln.

Er meldete das Uvarov.

»Der Sternenbogen.« Uvarovs Stimme war jetzt viel schwächer. »Aber das ist unmöglich. Wenn es einen Sternenbogen gibt, müßten wir noch immer mit relativistischer Geschwindigkeit unterwegs sein. Aber das sind wir ja nicht.« Die alte, tote Stimme brach. »Pfeilmacher, du hast die Sterne doch selbst gesehen.«

»Nein.« Pfeilmacher bemühte sich, seiner Stimme einen weichen Klang zu verleihen. »Uvarov, alles, was ich gesehen habe, waren Lichtpunkte in einer Himmelskuppel… Vielleicht waren es nicht einmal Sterne.«

Wenn, dachte er zerknirscht, die Sterne überhaupt jemals existiert haben.

Er betrachtete die Masse des Trägers, als sie nach oben an ihm vorbeiglitt und erfreute sich plötzlich an seiner Größe und den Details. Er war froh, daß es keine Sterne gab. Wenn dieses Schiff alles war, das im ganzen Universum existierte, dann würde ihm auch das genügen. Er könnte sein Lebtag damit verbringen, die in der Lebenskuppel enthaltenen Welten zu erforschen, und außerdem würde es immer noch den Wald geben, zu dem er zurückkehren konnte. Und…

Licht erfüllte die Kabine: Ein ganzer Sturm, bunte Kuben und Sphären, die um ihn herumschwärmten und ihn verwirrten. Dann, so schnell, wie sie aufgetaucht waren, strebten die Kuben aufeinander zu und verschmolzen miteinander.

Da saß ein Mann neben Pfeilmacher, in der Fähre, in einer silbergrauen Kutte und Hosen. Er hatte die Hände ruhig im Schoß gefaltet, und durch seinen Bauch und die Beine konnte Pfeilmacher den Pfeilköcher sehen, den er auf den Sitz gelegt hatte – er konnte wirklich den Köcher sehen, durch das Fleisch des Mannes hindurch.

Der Mann lächelte. »Ich heiße Mark – Mark Bassett Friar Armonk Wu. Hab keine Angst.«

Pfeilmacher schrie auf.


Lieserl schwamm mit den Photino-Vögeln durch das Herz der aufgeblähten Sonne. Die Photino-Vögel schienen den neuen Zustand der Sonne zu genießen. Die Oszillationen des Plasmas bewirkten, daß Energie in Gestalt von Neutrino-Antineutrino-Paaren aus dem Kern strömte, und die Vögel stoben um den Kern herum und tauchten in die Glut dieser neuen Strahlung ein.

Die Materie des trägen, kollabierenden Kerns war jetzt so komprimiert, daß sie degenerierte, ihre Dichte so hoch, daß die molekularen Bindungskräfte, die ihre Eigenschaften als Gas definierten, versagten. Nun wurde dem Gravitationskollaps durch den Druck der Elektronen selbst entgegengewirkt: Das mysteriöse Gesetz der Quantenmechanik, als Pauli-Prinzip bekannt, welches besagt, daß keine zwei Elektronen das gleiche Energieniveau besitzen können.

Doch Lieserl erkannte, daß dieser neue Gleichgewichtszustand nicht von Dauer sein konnte. Die den Kern umgebende Schale aus fusionierendem Wasserstoff expandierte weiterhin nach außen und regnete Heliumasche auf den Kern ab; und so wurde der Kern immer größer und heizte sich auf.

Jetzt, wo die inneren Planeten vernichtet waren, fühlte sie sich völlig isoliert.

Im Vergleich hierzu waren selbst die fischäugigen Bürokraten der Assimilationsperiode richtige Kontaktpersonen gewesen. Es war ihr äußerst wichtig gewesen, anderen ihre Eindrücke mitzuteilen – Wesen außerhalb ihres eigenen Sensoriums. Sie fragte sich, ob ein Mensch nicht verrückt werden mußte, wenn er für eine entsprechend lange Zeit ohne Kommunikationsmöglichkeiten war.

Aber dann rief sie sich wieder ironisch ins Bewußtsein, daß sie ja gar kein menschliches Wesen war…

Zum Teufel damit! Sie schloß die Augen und streckte sich. Dann führte sie eine langsame, gründliche Inventur ihres virtuellen Körpers durch. Sie bog die Finger, genoß das spezifische Gefühl arbeitender Sehnen und gestraffter Haut; sie krümmte den Rücken und spürte, wie sich die Beinmuskeln anspannten; sie bewegte die Füße hin und her, als ob sie für ein Himmelsballett trainierte und konzentrierte sich auf die langsame, geschmeidige Arbeit ihrer Knöchel und Zehen.

Sie war menschlich, nun gut, und sie war entschlossen, es auch zu bleiben – trotz der Art und Weise, wie sie von den Menschen während ihres kurzen, aber nach wie vor präsenten, körperlichen Lebens behandelt worden war. Was war sie denn anderes gewesen als ein Freak, ein Experiment, das schließlich eingestellt worden war.

Sie schuldete den Menschen nichts, sagte sie sich.

Vielleicht.

Aber erneut wurde sie von diesem verschütteten Drang zur Kommunikation überwältigt: Sie hatte das Bedürfnis, jemandem von all dem zu berichten, ihn zu warnen.

Doch sie wußte auch, daß diese Gefühle unlogisch waren. Seit die telemetrische Wurmlochverbindung deaktiviert worden war, verfügte sie ohnehin über keine Kommunikationsmöglichkeiten mehr. Und während sie geträumt hatte, hier im gefährdeten Herzen der Sonne, waren draußen im Sonnensystem fünf Millionen Jahre vergangen. Nach allem, was sie wußte, lebten wohl nirgendwo mehr Menschen, denen sie ihre Erkenntnisse zum Vortrag hätte bringen können.

Aber nach wie vor sehnte sie sich danach, zu reden.

Erneut drang Maserstrahlung aus einer Konvektionszelle und berieselte sie, hell und kohärent.

Neugierig geworden, folgte sie dem Pfad einer Konvektionszelle, wie sie mit ihrer Fracht aus Wärmeenergie Kurs aus dem Herzen der Sonne hinaus nahm. Sie sah, daß die Kollision der Partikel das Gas mit Energie aufpumpte – und die Monoxid-Moleküle wurden in einen instabilen, angeregten Zustand versetzt und rotierten schnell.

Ein Photon, das mit genau der richtigen Frequenz auf ein aufgepumptes Molekül traf, konnte dieses Molekül aus seinem instabilen Zustand befreien. Das Molekül gab Energie ab und emittierte ein weiteres Photon mit derselben Frequenz. Also gab es nun zwei Photonen, wo es zuvor nur eines gegeben hatte… Und die beiden Photonen stimulierten zwei weitere Atome, woraus sich dann vier Photonen ergaben… Eine geometrisch ansteigende Kettenreaktion mit einer Flut aus Photonen von den angeregten Siliziummonoxid-Molekülen – alle mit derselben Mikrowellen-Frequenz, und alle kohärent – mit derselben Phase.

Lieserl wußte, daß signifikante Masereffekte nur dann erzielt werden konnten, wenn die aufgepumpten Moleküle in gerader Linie aufgereiht wurden und somit einen langen Kohärenzpfad bildeten. Die Konvektionszellen mit ihren langen, viele Millionen Jahre dauernden Reisen zur Oberfläche und zurück lieferten exakt solche Pfade. Maserstrahlung strömte kaskadenförmig nach oben und unten an den langen Flanken der Zellen entlang, drang in den Heliumkern ein und stach wieder aus ihm heraus.

Sie sah, daß die Maserstrahlung sogar ganz aus der Sonne entweichen konnte. Die Konvektionsquellen touchierten in ihren Extrempositionen die Oberfläche; Maserenergie wurde tangential zur Oberfläche der aufgeblähten Sonne ausgestoßen und bildete winzige, präzise Leuchtbojen aus kohärentem Licht.

Und diese Maserbojen waren, wie sie mit zunehmender Erregung realisierte, höchst individuell.

Aufgeregt flog sie kreuz und quer durch die riesigen Konvektionszellen. Sie fand heraus, daß sie ohne Schwierigkeiten die Form der kohärenten Siliziummonoxid-Maserstrahlen manipulieren konnte; sie prägte der kohärenten Wellenlänge, Polarisation und Phase der Strahlen eine Struktur auf.

Sie begann mit einfachen Signalen: Sequenzen von Primzahlen, schlichten binären Symbolkonfigurationen. Sie konnte das fast bis ultimo treiben; aufgrund der Zeit, welche die kohärente Strahlung benötigte, ihre Feuerpunkte an der Oberfläche zu erreichen, genügte es, wenn sie alle paar Tage zu den Konvektionszellen zurückkehrte, um ihre Signalsequenz zu aktualisieren. Sie konnte Echos ihrer Signale sogar noch an der Unterseite der Zellen registrieren.

Dann, als ihre Zuversicht wuchs, begann sie ihrer einfachen Signalstruktur spezifische Informationsinhalte aufzuprägen. Mit binären Darstellungen von zwei- und dreidimensionalen Bildern und mit Daten, die sie in allen ihr bekannten menschlichen Sprachen aufbereitete, begann sie zu senden, was sie erlebt hatte, hier im Herzen der Sonne – und was die Photino-Vögel dem Stern der Menschheit antaten.

Fieberhaft modulierte sie die Masersignale, während der Todeskampf der Sonne in sein letztes Stadium eintrat.


In der Heckkombüse der Great Britain saß Louise vor ihren Computern. Das kleine Boot von der Lebenskuppel wurde als ein Block von Pixeln abgebildet, der an einer schematischen Darstellung der Northern vorbeiglitt.

Über die Funkbrücke hörte sie Schreie.

»Oh, bei allen Teufeln der Hölle, Mark, erschrecke ihn nicht so, daß er völlig durchdreht.«

Mark klang verletzt. »Ich tue mein Bestes.«

Louise war zu müde, zu erschöpft, um sich dieser plötzlichen Flut von Ereignissen zu stellen.

Manchmal versuchte sie, sich an die Zeit zu erinnern, als sie jung gewesen war. Oder zumindest nicht ganz so alt. Es hätte natürlich anders kommen können, wenn Mark überlebt hätte: Sein AS-System war nach vierhundert Jahren implodiert, nicht lange, nachdem er und Louise von der Lebenskuppel in die Britain übergewechselt waren. Vielleicht, wenn Mark noch gelebt hätte, wenn sie all diese Jahre mit einem Menschen verbracht hätte – nicht allein –, würde sie sich jetzt nicht so verdammt schal fühlen.

Sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß, was auch immer sich heute ereignete, die lange Reise der Northern sich jetzt ihrem Ende zuneigte. Noch ein paar Jahrzehnte, wenn sie das Wurmloch-Interface und die zusammengewürfelte Besatzung der Lebenskuppel geführt hatte – diejenigen, die in diesen sich untereinander bekämpfenden, ausschwärmenden Massen überlebt hatten –, in all diesen schrecklichen Jahren, würde sie schließlich auch bereit sein, abzutreten. Vielleicht würde sie dann auch implodieren, spekulierte sie, wie eine vertrocknete Hülle.

Sie rief eine Projektion seiner Flugbahn auf. »Das Boot nimmt jedenfalls nicht Kurs auf die Britain«, meldete sie Virtuell-Mark. »Es zieht an uns vorbei…«

Eine neue Stimme drang jetzt unter statischen Störungen aus ihrem Rechner. »Pfeilmacher. Pfeilmacher. Hör mir zu. Du mußt das Interface erreichen. Laß dich nicht von ihnen aufhalten…«

Für Louise war das eine Stimme aus einer längst vergangenen Zeit. Sie wurde durch das Alter verzerrt, fast zu einer Karikatur reduziert, hallte, als ob Jahrhunderte leere Räume wären.

Sie lokalisierte den Ursprung der Sendung – eine Konsole in der Basis der Lebenskuppel, in der Nähe der Beiboothangars – und schaltete eine Gegensprechverbindung. »Uvarov? Garry Uvarov?«

Abrupt verstummte die Stimme.

Sie hörte, wie Mark in dem Boot sagte: »Jetzt nur keine Panik. Ich weiß ja, daß das alles fremd für dich ist, aber ich will dir nichts tun.« Pause. »Ich könnte es auch gar nicht, selbst wenn ich wollte. Ich verrate dir ein Geheimnis: Ich bin nicht real. Siehst du? Meine Hand geht direkt durch deinen Arm, und…«

Weitere Schreie, noch schriller als zuvor.

Oh, Mark…

»Kommen Sie schon, Uvarov«, meinte sie. »Ich weiß, daß Sie es sind. Ich höre noch immer diesen verdammten lunaren Akzent heraus. Sprechen Sie mit mir.«

»Oh, verdammt, Louise«, meldete Mark, »er ist durchgeknallt. Er hat den Steuerknüppel gepackt: Er beschleunigt – direkt auf das Interface zu.«

Sie sah, daß Mark recht hatte; die Geschwindigkeit des Bootes hatte sich erhöht, und es nahm eindeutig Kurs auf die Position, wo das Wurmloch-Interface in seinem Netz aus supraleitenden Bändern aufgehängt und magnetisch mit der Struktur des GUT-Schiffs verankert war.

Sie hackte Abfragen in die Rechner. Es blieben nicht einmal mehr zwei Minuten, bis das Boot das Interface erreichte.

»Uvarov, hören Sie zu«, sagte sie nachdrücklich. »Sie müssen antworten. Bitte.« Während sie sprach, huschten ihre Hände über die Tastaturen; sie instruierte ihre Prozessoren, eine Möglichkeit zu suchen, die Kontrolle über das Boot zu übernehmen. Sie verfluchte sich in Gedanken wegen ihrer Fahrlässigkeit. Sie hatte buchstäblich Jahrhunderte gehabt, um Mittel und Wege zu finden, die Beiboote der Lebenskuppel zu deaktivieren. Aber mit diesem Szenario hätte sie nie gerechnet, ein irrer Wilder mit Gesichtsbemalung, der mit noch relativistischer Geschwindigkeit das Interface anflog.

Nun, sie hätte, verdammt, damit rechnen müssen.

»Uvarov. Sie müssen antworten. Wir befinden uns noch im Flug.« Sie versuchte, sich den Zustand des alten Eugenikers vorzustellen und führte auf der Grundlage der wenigen Worte, die sie von ihm gehört hatte, wilde Extrapolationen durch. »Uvarov, hören Sie mich? Sie müssen ihn aufhalten – den Mann in dem Boot, diesen Pfeilmacher. Er wird sich umbringen…« Und, dachte sie düster, vielleicht das ganze verdammte Schiff dazu. »Sie wissen genauso gut wie ich, daß das Interface während des Fluges nicht benutzt werden kann. Die kinetische Energiedifferenz zwischen unserem Interface und dem in der Vergangenheit verbliebenen Gegenstück wird das Wurmloch destabilisieren. Wenn Ihr Pfeilmacher mit diesem Boot dort einfliegt, wird er das Wurmloch zerstören.«

»Sie lügen«, raspelte Uvarov. »Die Reise ist vorbei. Wir haben die Sterne gesehen.«

»Uvarov, hören Sie mir zu. Wir sind noch immer im relativistischen Bereich.« Sie drehte sich um und schaute durch die kleinen Bullaugen der Kabine. Die Britain hing unter der Masse der Lebenskuppel, so daß die Kuppel riesig und strahlend über ihr stand; der Ausleger stach in einer Entfernung von ein paar hundert Metern durch den Raum. Und, um den Ausleger herum, leuchtete der Sternenbogen – der durch ihre Bewegung verzerrte Ring aus Sternenlicht – trübe und unendlich weit entfernt.

In einem Winkel ihres Bewußtseins wünschte sie sich, ihn auszublenden und eine virtuelle Illusion zu erzeugen, in der sie sich verstecken konnte.

»Ich sehe den verdammten Sternenbogen, Uvarov. Ich sehe ihn mit eigenen Augen, hier und jetzt. Wir werden zwar langsamer, sind aber noch immer im relativistischen Bereich. Unsere Reise wird noch Jahrzehnte dauern…« War es vielleicht möglich, daß Uvarov das vergessen hatte?

Im Hintergrund konnte sie Marks Stimme hören, die geduldig auf den Primitiven in der Fähre einredete; ihre Rechner präsentierten ihr endlose Darstellungen der mißlungenen Versuche der Prozessoren, die autonomen Systeme des Bootes zu übernehmen, sowie die erstaunlich flotte Annäherung des Bootes an das Interface.


Er schob den primitiven Hebel bis zum Anschlag nach vorn. Die Fähre jagte an dem Ausleger vorbei. Er war fasziniert, involviert in die außergewöhnlichen Geschehnisse um ihn herum, und hatte jegliche Angst abgestreift.

Erneut umfaßte ein Rahmen aus Licht das Boot, erweiterte sich und verschluckte es wie ein klaffender Mund. Diesmal war der Rahmen dreieckig, nicht viereckig; er wurde von blauem Licht markiert, nicht von silbrig-weißem. Und er enthielt keine düstere, schwarzgraue Leere – sondern einen Pool aus goldenem Licht, unwirklich leuchtend.

Da waren Sterne in diesem Pool. Welche Ironie, dachte Pfeilmacher, daß er vielleicht hier die Sterne finden würde, von denen der alte, verrückte Uvarov geträumt hatte.

Der Geister-Mann – Mark – redete noch immer hektisch auf ihn ein; jetzt aber zerfiel der Geist in Würfel aus Licht, die sich in der Luft verteilten, schrumpften und schmolzen.

Pfeilmacher schaute kaum hin.


Plötzlich glaubte sie zu verstehen.

Sie sprach schnell. »Uvarov, hören Sie zu. Bitte. Die Himmelskuppel über dem Wald ist überhaupt nicht transparent. Sie ist semiaktiv – sie wurde konstruiert, um die Verzerrungseffekte des Fluges zu kompensieren und eine Illusion von Sternen, eines normalen Himmels, zu projizieren. Garry, hören Sie mich? Die Himmelskuppel zeigt eine Rekonstruktion des Himmels – und ich glaube, Sie haben vergessen, daß es sich um eine Rekonstruktion handelt. Die Waldmenschen können die Sterne nicht gesehen haben.« Sie suchte nach Worten, um zu diesem Mann vorzudringen, den sie vor eintausend Jahren zum letztenmal gesehen hatte. »Es tut mir leid, Garry. Das meine ich wirklich so. Aber Sie müssen ihn zur Umkehr bewegen.«

»Louise.« Marks Stimme war abgehackt und hektisch. »Pfeilmacher antwortet nicht. Ich werde mich jetzt auflösen; wir befinden uns schon im exotischen Feld des Interfaces, und…«

»Das Interface, Pfeilmacher!« schrie Uvarov. »Du wirst fünf Millionen Jahre in die Vergangenheit reisen – sag ihnen, daß wir hier sind, daß wir es geschafft haben. Pfeilmacher!«

Weitere Stimmen ertönten über Uvarovs Verbindung: Ein Mann und ein Mädchen. »Pfeilmacher! Pfeilmacher! Komm zurück…«

Marks Stimme brach ab.

Auf Louises Rechner konvergierten die leuchtenden, spielzeugartigen Darstellungen des Bootes und des Interface.


Der weißblaue Rahmen umfing ihn nun vollständig, und sein Glühen durchflutete die Kabine des Bootes mit schattenlosem Licht und blendete den Ausleger und die Lebenskuppel aus, als ob sie immateriell wären. Die Fähre erzitterte, und ihre Struktur glühte blauviolett.

Die Stimme von Seilspinnerin, seiner Tochter, wurde undeutlich.

»Kümmere dich um deine Schwestern, Seilspinnerin«, rief er ihr zu.

Ihre Antwort konnte er nicht mehr verstehen. Bald hörte er nur noch den Klang ihrer lieben Stimme, bittend und flehend.

Ein Tunnel – ausgekleidet mit Schichten aus Licht, leuchtend und unglaublich lang – öffnete sich vor ihm.

Er versank in dem goldenen Pool – und auch Seilspinnerins Stimme versiegte.


Louise massierte sich die Schläfen und schloß die Augen. Es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Nicht jetzt.

Sie erinnerte sich, wie sich herausgestellt hatte – im Frühstadium des Fluges, schon nach erschreckend kurzer Zeit –, daß die fragile Sozietät der Northern vor dem Zusammenbruch stand. Mark hatte ihr geholfen, die komplexe soziale Dynamik zu verstehen, die im Innern der Lebenskuppel ablief: Wie er sagte, umfaßte die Kuppel ein geschlossenes System mit positiven Sozio-Rückkopplungsmechanismen, die zu gravierenden Instabilitäten führten, und…

Aber dieses Verständnis hatte ihnen indessen nicht bei der Bewältigung des Zusammenbruchs geholfen.

Die erste Rebellion war durch einen von Louises engsten Verbündeten inspiriert worden: Uvarov, der seinen durch die Eugenik motivierten Rückzug in den Wald durchgeführt hatte, und Suprahet – bzw. die Planer, welche die eigentliche Philosophie von Suprahet zu einer bizarren Ideologie pervertieren ließen – hatten die von Louise errichtete Autorität eliminiert und den restlichen Bewohnern der Lebenskuppel ihren Willen aufgezwungen.

Louise und Mark hatten sich an diesen Ort zurückgezogen: Zu der umgebauten, sicheren Great Britain. Von hier aus hatte Louise die Hauptsysteme des Schiffes – Lebenserhaltung und Steuerung – von den Bewohnern der Kuppel isoliert. Im Verlauf der vielen seither vergangenen Jahrhunderte – lange nach Marks Tod, lange nachdem die Bewohner der Kuppel ihre Existenz vergessen hatten – hatte sie ihre schützende Hand über die wimmelnden Massen innerhalb der Lebenskuppel gehalten: Die Luft erneuert, sichergestellt, daß die Balance der kleinen, isolierten Ökologie aufrechterhalten wurde, das Schiff zu seinem Ziel geleitet.

Der Umgang miteinander, ihre Ideologien, entzogen sich ihrer Einflußnahme. Vielleicht war das schon immer so gewesen. Ihr ging es lediglich darum, möglichst viele von ihnen am Leben zu erhalten.

Aber jetzt, wenn das Wurmloch verloren war, wäre das alles für nichts gewesen. Nichts.

Die kinetische Energie des Bootes zerstörte die Raumzeit-Verwerfung, welche das Wurmloch darstellte. Das dahinterliegende Portal implodierte mit Lichtgeschwindigkeit, und Gravitationswellen sowie exotische Teilchen pulsierten um das Boot.

Pfeilmacher spürte, wie die Luft in den Lungen dicker wurde und Kälte sich über seine bloße Haut legte. Das Boot machte einen Satz, und er wäre fast vom Sitz geschleudert worden; ruhig wickelte er Seilspinnerins Lianenseil von der Hüfte ab und band es um den Körper und den Sitz, so daß er sicheren Halt hatte.

Er hielt die Hände vor das Gesicht. Er sah Reif, der auf der Haut glitzerte; der Atem entwich dampfend vor ihm in die Luft.

Die zerbrechliche Hülle des Bootes knackte und glühte; der Reihe nach fielen die Systeme der Fähre -Heizung, Beleuchtung, Luftversorgung – unter den Hammerschlägen dieser unglaublichen Bewegung aus.

Durch ein vergängliches Netzwerk aus Wurmlöchern, die hinter ihm in Stürmen aus schweren Teilchen und Gravitationswellen kollabierten, stürzte Pfeilmacher durch Vergangenheit und Zukunft, wobei das Licht der kollabierenden Raumzeit auf seinem zitternden Fleisch spielte.


Licht waberte aus dem Interface. Es strömte wie eine Flüssigkeit aus jeder Flanke des Tetraeders und badete die Northern in violettem Feuer.

Es war wie eine kleine Sonne.

Das Raumschiff erzitterte. Die stetige Glut des GUT-Triebwerkes flackerte – sie flackerte tatsächlich, zum erstenmal nach Jahrhunderten. Die alt und fragil in ihrem Netz hängende Britain schaukelte hin und her, und Louise vernahm ein entferntes Scheppern fallender Objekte, das irreal vertraute Geräusch sich verschiebender Möbel.

In der ganzen Lebenskuppel flackerten die Lichter und erloschen.