17



EINE SIMPLE TRITTLEITER aus Metall lehnte an der Seite der Kanzel; das Teil wirkte deplaziert primitiv inmitten der ganzen fremden Hochtechnologie.

Furchtsam beäugte Seilspinnerin die Leiter. »Louise«, nörgelte sie. »Muß ich da wirklich reinklettern?«

Die in ihrem Schutzanzug unförmig und anonym wirkende Louise stand dicht neben ihr. »Nun, das ist der ungefähre Plan. Schau, Seilspinnerin, wir brauchen einen Piloten…« Ihre Stimme brach ab; sie zuckte unsicher die Achseln.

Seilspinnerin schloß die Augen und atmete tief durch, wobei sie versuchte, das Rumoren tief im Magen zu unterdrücken. »Verdammt. Also deshalb bin ich so verdrahtet.«

»Es tut mir leid, daß wir es dir nicht gesagt hatten, bevor wir dich hierher brachten, Seilspinnerin. Wir wußten einfach nicht, was das Beste war. Wäre es einfacher für dich gewesen, wenn du Bescheid gewußt hättest?«

»Ich habe keine Wahl, richtig?«

Louises hinter dem Visier verborgenes Gesicht war hart. »Du bist die beste Kandidatin, die wir haben, Seilspinnerin. Wir brauchen dich.«

Ohne noch weiter über diesen Aspekt nachzudenken, packte Seilspinnerin die Leiter und kletterte hoch.

Sie inspizierte die Pilotenkanzel. Sie war eine offene, aus Werkstoffröhren gefertigte Kuppel. Die Stäbe waren zu einem offenen Gitter angeordnet, die einem schlichten Längs- und Quermuster folgten. Im Innern des Käfigs befand sich eine hufeisenförmige Konsole aus dem schwarzen Xeelee-Material. Andere, aus stumpfem Metall bestehende Instrumente – die vergleichsweise primitiv aussahen und offensichtlich menschlicher Provenienz waren – hatte man nachträglich an der Xeelee-Konsole montiert.

Ein für Menschen geeigneter Sitz war vor der Konsole in dem Käfig verankert worden. Gurte baumelten an ihm herab. Damit er überhaupt in den engen Käfig paßte, war der Sitz recht klein ausgefallen – zu klein für einen Erwachsenen von den Decks, aber nicht für ein Kind… bzw. eine Kindfrau aus dem Wald.

»Ich werde hineinsteigen, Louise.«

»Gut. Aber um Himmels willen, Seilspinnerin, fasse nichts an, bis ich es dir sage.«

Durch die niedrige Gravitation begünstigt, schwang Seilspinnerin die Beine durch den Rahmen aus Werkstoff in den Käfig.

Der Sitz hatte eine optimale Paßform – das wunderte sie aber auch nicht, denn offensichtlich war er ja für sie gemacht worden –, aber er war zu bequem. Der Sitz – die Brust- und Beckengurte, die klobige, mit Instrumenten übersäte Konsole – verschlangen sie regelrecht. Der Käfig war ein Ort sich kreuzender, mysteriöser Schatten, die vom Jupiterring und dem Eis unter ihr geworfen wurden. Er erdrückte sie schier und ließ kaum genug Platz für den Sitz und die Konsole.

Sie schaute durch das trübe Helmvisier, durch den Werkstoff-Käfig auf die Eisebenen von Callisto. Sie erkannte die plumpen Formen der ’bots der Northern, das Beiboot, das sie hergebracht hatte und Louises schattenhafte Gestalt. Alles wirkte entfernt und unerreichbar. Die einzige Realität bestand aus ihr selbst, in diesem Sitz und diesem fremden Schiff – und dem laut in den Ohren hallenden Geräusch ihres Atems.


In den wenigen Jahrzehnten, seitdem sie und ihr Vater zusammen mit Morrow die Lebenskuppel hinabgestiegen waren, hatte Seilspinnerin sich an viele Veränderungen gewöhnt. Allein schon das Altwerden war Herausforderung genug gewesen. Die meisten ihrer Altersgenossen im Wald hatten die ihnen von Louise angebotene AS-Behandlung ausgeschlagen, und schon nach wenigen Jahren hatten sich die physischen Altersunterschiede bemerkbar gemacht und schnell vertieft.

Seilspinnerin hatte eine jüngere Schwester: Kosmetikerin, Pfeilmachers jüngstes Kind. Mit der Zeit war das kleine Mädchen älter geworden, als Seilspinnerin ihre Mutter in Erinnerung hatte, und sie stellte ihre Besuche im Wald langsam ein.

Das Leben der Waldmenschen bewegte sich im Grunde noch immer in den traditionellen Bahnen – ungeachtet des beendeten Fluges der Northern und der Entdeckung der sterbenden Sonne. Aufgrund ihres höheren Bewußtseins – ihres größeren Verständnisses – fühlte sich Seilspinnerin dieser alten, begrenzten Welt entfremdet.

Isoliert durch das Alter und ihre außergewöhnlichen Erfahrungen, hatte sie versucht, sich an das bizarre Universum hinter den Wänden des Schiffes zu gewöhnen. Und, mit den Jahren, hatte sie sehr viel gelernt; Louise Ye Armonk hatte Seilspinnerin, trotz der ständigen Bevormundung, oft versichert, daß sie für jemanden mit ihrem primitiven Hintergrund große Fortschritte machte.

Aber nun wünschte sie sich weg von diesem düsteren, bedrohlichen Ort – sie wollte wieder nackt sein und sich durch die Bäume des Waldes bewegen.


»Seilspinnerin.« Die Stimme des künstlichen Mannes, Mark, ertönte leise in ihrem Helm. »Du mußt dich entspannen. Deine biostatischen Signale zeigen nach oben…«

»Sei ruhig, Mark.« Louise Ye Armonk kletterte zu dem Xeelee-Käfig hinauf, preßte den Körper gegen die schwarzen Stangen und schaute hinein; sie schaltete ihre Helminnenbeleuchtung ein, so daß Seilspinnerin ihr Gesicht sehen konnte. »Seilspinnerin, bist du in Ordnung?«

Seilspinnerin atmete tief durch. »Mir geht es gut.« Sie versuchte, sich auf ihren Ärger zu konzentrieren: Louise mit ihren Bevormundungen, den summenden Geist Mark. Sie fachte den Ärger zu einer Flamme des Zorns an, um die Kälte der Furcht zu vertreiben. »Sag mir einfach, was ich zu tun habe.«

»Okay.« Louise hob die Hände und trat vom Käfig zurück. »Soweit wir wissen, war der Käfig, in dem du sitzt, die Steuerzentrale des Nightfighters. Wie du unschwer erkennen kannst, wurde sie für menschliche Bedürfnisse umgerüstet. Wir haben den Sitz für dich eingebaut. Du hast auch Waldos.«[i]

»Ich habe was?«

»Waldos, Seilspinnerin. Die Metallschachteln oben auf dem Hufeisen. Siehst du sie?«

Es waren drei Boxen mit einer Länge von je dreißig Zentimetern, eine direkt vor Seilspinnerin und die anderen an den Seien. Beleuchtete Sensorfelder – die ihr mittlerweile hinreichend bekannt waren – befanden sich auf der Oberseite. Sie streckte die Hand nach der Box aus…

»Nicht berühren, verdammt«, herrschte Louise sie an.

Seilspinnerin riß die Finger zurück.

»Seilspinnerin«, erläuterte Louise mit hörbarer Ungeduld, »die Regler in diesen Dingen sind mit dem verbunden worden, was wir für die Steuerung im Innern der Hufeisenkonsole halten – und es ist auch die eigentliche Steuerung des Nightfighters und der Xeelee-Mechanik. Deshalb haben wir sie als Waldos bezeichnet… Durch die Betätigung dieser Waldos kannst du die Steuerung beeinflussen. Die Waldos sind auf Fragmenten basierende Rekonstruktionen, die von dem vernichteten Originallabor übriggeblieben waren.«

»In Ordnung.« Seilspinnerin fuhr sich mit der Zunge über die Lippen; der um den Mund herum eingetrocknete Schweiß schmeckte salzig. »Ich verstehe. Laß uns weitermachen.«

Louise hielt vor dem Käfig die Hände hoch. »Nein. Warte. So einfach ist es nun auch wieder nicht. Wir haben die Waldos aus Überresten rekonstruiert, die von den einstigen menschlichen Forschern stammten. Wir nehmen an, daß sie noch funktionieren. – Aber…«, fuhr sie trocken fort, »wir wissen nicht, zu welchen Reaktionen sie den Nightfighter veranlassen werden. Wir wissen nicht, was geschieht, wenn du die Waldos berührst. Deshalb müssen wir geduldig sein. Experimentieren.«

»Gut«, meinte Seilspinnerin. »Aber die früheren Forscher, vor dem Krieg, müssen doch gewußt haben, was sie taten. Oder?«

»Nicht unbedingt«, relativierte Mark. »Wenn sie nämlich in der Lage gewesen wären, die Xeelee-Technologie zu enträtseln, hätten sie den Krieg vielleicht nicht verloren…«

»Halt’s Maul«, sagte Louise milde. »Nun, Seilspinnerin. Hör mir jetzt gut zu. Du hast drei Waldos – drei Boxen. Wir glauben – wir vermuten –, daß die Box direkt vor dir über eine Schnittstelle mit der Steuerung des Hyperantriebs verbunden ist und die zwei an den Seiten mit dem IntraSystem-Antrieb.«

»IntraSystem?«

»Unterlicht-Antrieb, mit dem du dich im Sonnensystem bewegen kannst. Alles klar? Nun, Seilspinnerin, heute werden wir den Hyperantrieb nicht betätigen – der Waldo ist nämlich noch nicht aktiviert. Wir wollen nur sehen, ob der IntraSystem-Antrieb arbeitet. In Ordnung?«

»Ja.« Seilspinnerin schaute auf die zwei Boxen; die in stetem Gelb und Grün glühenden Sensorflächen signalisierten Bereitschaft.

»Auf dem Waldo zu deiner Linken befindet sich eine gelbe Markierung. Sie müßte eigentlich leuchten. Siehst du sie?«

»Ja.«

Louise zögerte. »Seilspinnerin, fertig werden. Wir wissen nicht, was wir zu erwarten haben. Es könnten Veränderungen eintreten…«

»Ich bin bereit.«

»Berühre die gelbe Fläche – einmal, und zwar so kurz wie möglich…«

Seilspinnerin versuchte, ihre Angst zu verdrängen. Sie hob die Hand…

Seilspinnerin. Hab keine Angst.

Konsterniert drehte sie sich im Sessel um.

Es war eine trockene, müde Stimme gewesen – die Stimme eines Mannes, die irgendwo in ihrem Helm ertönte.

Natürlich befand sie sich allein in dem Käfig.

Es ist nur eine Maschine, sagte die Stimme jetzt. Es gibt nichts, wovor du dich fürchten müßtest…

Teufel, dachte sie. Was ist das? Drehe ich etwa durch?

Aber seltsamerweise war die Stimme – der Eindruck einer unsichtbaren Präsenz, hier bei ihr im Käfig – irgendwie tröstlich.

Seilspinnerin ließ die rechte Hand über dem Waldo schweben. Dann drückte sie einen behandschuhten Finger in das gelbe Licht.

Eine kaum wahrnehmbare Veränderung der Lichtverhältnisse um sie herum. Kein Laut, keine Bewegung. Sie schaute nach unten, durch die Stangen ihres Käfigs.

Das Eis war weg. Callisto war verschwunden.

Sie wand sich im Sitz, wobei die Gurte an der Brust schabten, und schaute aus dem Käfig. Die Ringe von Jupiter und der aufgeblähte Leib der Sonne bedeckten den Himmel – völlig unbeeindruckt vom Verschwinden eines einzelnen Mondes. Sie konnte die Northern nicht sehen.

Rechts von ihr, unterhalb des Nightfighters, ortete sie eine Eiskugel, die so klein war, daß sie sie mit der Hand hätte umschließen können.

War das vielleicht Callisto? Wenn ja, dann hatte sie sich in weniger als einem Herzschlag Tausende von Kilometern von dem Mond entfernt – und nichts gespürt.

Sie schaute sich um.

Der Xeelee-Nightfighter hatte seine Platanensetzling-Schwingen entfaltet. Schichten aus tiefer Schwärze -Hunderte von Kilometern lang – wickelten sich aus ihren Hundert-Meter-Behältern im Raum hinter ihr ab und verdeckten die Sterne.

Mit ihrer Berührung hatte sie das alte Xeelee-Schiff zum Leben erweckt.

Sie schrie auf und bedeckte das Helmvisier mit den Händen.

Lieserl verließ den Kern, durchbrach die Schale des fusionierenden Wasserstoffs und inspizierte ihre Maser-Konvektionsschleifen. Sie spürte die verzerrten Echos der letzten Sendung, die ihre Zyklen durch die Kohärenzpfade der Konvektionsschleifen überstanden hatten.

Sie justierte den Informationsgehalt ihrer Maserbrücken und initialisierte neue Sendungen. Sie führte auf der Basis ihrer neuesten Erkenntnisse Updates durch und erneuerte – so eindringlich und prägnant wie möglich – ihre Warnungen bezüglich der wahrscheinlichen zukünftigen Entwicklung der Sonne.

Als sie damit fertig war, spürte sie Erleichterung. Wieder einmal war sie diesem absurden Kommunikationsbedürfnis nachgekommen; wieder einmal hatte sie ihre absurden alten Schuldgefühle beruhigt…

Aber erst nachdem sie ihre Botschaft abgeschickt hatte, befaßte sie sich eingehend mit den umlaufenden Resten ihrer letzten Signale.

Erneut ließ sie die Maserimpulse vor sich ablaufen. Die Inhalte hatten sich verändert – und diesmal waren die Signale nicht einfach nur schwächer geworden. Wie konnte das möglich sein? Vielleicht ein unbekannter physikalischer Vorgang an der Oberfläche des Roten Riesen? Oder – so spekulierte sie, während sie mit zunehmender Erregung Spuren einer Struktur in den Veränderungen registrierte – oder war da jemand dort draußen: Ein Überlebender, noch dazu eindeutig ein Mensch – und versuchte, mit ihr zu kommunizieren?

Fieberhaft sog sie den schwachen, in den Maserimpulsen enthaltenen Datenstrom in sich auf.


Achtzigtausend Kilometer von Callisto entfernt hatten sich Beiboote der Northern zu einer annähernden Kugel konfiguriert. Im Mittelpunkt dieser Kugel hingen die ausgefahrenen Schwingen des Xeelee-Schiffes und schimmerten dunkel – fast lebendig.

Seilspinnerin saß mit Louise hinter der sicheren, schützenden Glaswandung eines Bootes. Mit Berührungen der kleinen Steuerkonsole vor ihr dirigierte Louise das Beiboot um den Xeelee-Nightfighter herum; benachbarte Boote glitten durch den Raum, Blasen aus Licht und Wärme. Die Schwingen waren riesige Skulpturen im Raum, Schwarz in Schwarz. Seilspinnerin hörte, wie Mark in Louises Ohr flüsterte, und Zahlen und Abbildungen liefen über ein Notebook in Louises Schoß.

Seilspinnerins Helmvisier baumelte auf dem Rücken, und sie genoß das Gefühl frischer Luft im Gesicht. Es war wundervoll, einmal nicht ihre eigenen muffigen Ausdünstungen einatmen zu müssen.

Sie hatte die Pfeilspitze ihres Vaters aus dem Anzug hervorgekramt, so daß sie nun auf der Brust baumelte; sie berührte sie und rieb die Hände hingebungsvoll an den glatten Flächen.

Louise sah zu Seilspinnerin hinüber. »Bist du jetzt wieder in Ordnung?« Sie klang so, als ob sie sich entschuldigen wollte. »Mark ist so schnell zu dir gekommen, wie er konnte. Und…«

Seilspinnerin nickte knapp. »Mir ist ja nichts passiert.«

»Nein.« Louise wandte sich wieder ihrem Notebook zu; ihre Konzentration galt eindeutig den Daten, die von dem aktivierten Nightfighter hereinkamen. »Nein, du warst gut«, murmelte sie.

»Ja«, grunzte Seilspinnerin. »Nun, ich hoffe, daß es das auch wert war.«

Louise schaute von ihrem Rechner auf. »Das war es. Glaube mir, Seilspinnerin; selbst wenn du das jetzt noch nicht ganz nachvollziehen kannst. Schon die Tatsache, daß du auf diesem kurzen Flug nicht verletzt wurdest, ist schon bezeichnend genug.«

Marks Stimme sagte: »Du hast im Bruchteil einer Sekunde mehr als zehntausend Kilometer zurückgelegt, Seilspinnerin. Eigentlich hätte man dich danach mit der Spachtel von den Stäben dieses Käfigs abkratzen müssen. Statt dessen hat dich jedoch etwas beschützt…«

Louise sah Seilspinnerin an. »Er hat schon eine merkwürdige Art, die Dinge auf den Punkt zu bringen, was?«

Sie lachten beide. Seilspinnerin spürte, wie ein Teil der Betäubung von ihr abfiel.

»Mark hat recht«, bestätigte Louise. »Dank deiner Hilfe erfahren wir unwahrscheinlich viel über den Nightfighter. So wissen wir jetzt zum Beispiel, daß wir ihn benutzen können, ohne uns dabei selbst umzubringen… Und, Seilspinnerin, Verständnis ist der Schlüssel, um alles von einer Bedrohung in eine Chance umzuwandeln.«

Louise führte das Boot auf eine ausgedehntere Kreisbahn um die ausgebreiteten Schwingen des Xeelee-Schiffes. Die Flügel waren wie ein Sternenloses Loch, das unterhalb von Seilspinnerin aus dem Raum gefräst worden war; sie wiesen nach wie vor die generellen Platanensetzling-Konturen der aus Xeelee-Werkstoff bestehenden Flügel auf, waren jetzt aber viel länger. Seilspinnerin konnte erkennen, daß ’bots auf der Oberfläche der Schwingen arbeiteten.

»So weit draußen übt die Massenenergie des Flügelsystems tatsächlich eine Gravitationswirkung auf das Boot aus«, murmelte Louise. »Die Masse der Flügel entspricht der eines kleinen Asteroiden… Der Rechner zeigt mir, daß die Systeme des Bootes den Einfluß der Schwingen korrigieren müssen.«

»Laß uns ein Stück hineinfliegen.«

Sie führte das Boot auf einen niedrigen bogenförmigen Kurs über die Kante eines Flügels und dann an seiner Oberfläche entlang. Die Schwinge mit einer Länge von hundertsechzig Kilometern erstreckte sich unter Seilspinnerin wie die Haut einer dunklen Welt; das kleine Boot flog stetig über der schwarzen Landschaft dahin.

Louise sprach weiter. »Der Flügel ist dünn – so weit wir wissen, entspricht seine Stärke gerade einer Planckschen Wellenlänge, der kürzesten überhaupt möglichen Distanz. Er hat eine extrem hohe Oberflächenspannung – bzw. äquivalent hierzu eine hohe Oberflächen-Energiedichte –, so hoch, daß sein Schwerefeld nicht mehr den Newtonschen Standards entspricht; es ist vielmehr schon relativistisch… Verstehst du das, Seilspinnerin?«

Seilspinnerin erwiderte nichts.

»Schau«, sagte Louise, »auf weite Entfernung wurde das Boot schon von den Schwingen angezogen, als ob sie aus normaler Materie bestünden. Aber das tun sie nicht. Und aus dieser Nähe kann ich auch den Unterschied erkennen.«

Sie brachte das Beiboot zum Stillstand und ließ es langsam auf die Oberfläche des Flügels hinabsinken.

Seilspinnerin schaute hinunter und konnte dabei nicht sagen, wie weit der nachtschwarze, konturenlose Boden entfernt war. Wollte Louise etwa dort landen?

Der Abstieg des Bootes verlangsamte sich.

Louise bearbeitete ihre Steuerkonsole und ließ die kleinen Noniusdüsen feuern, einmal, zweimal, und schickte sie wieder in Richtung der Flügeloberfläche. Aber erneut verzögerte das Boot; es kam allmählich zum Stillstand und begann dann wieder langsam zu steigen, als ob es abgeprallt wäre.

In Louises Gesicht spiegelte sich Erregung. »Seilspinnerin, hast du das eben gespürt? Siehst du, was geschieht? Auf diese geringe Distanz weist die Oberfläche der Schwinge eine negative Gravitation auf. Sie stößt uns ab!«

Seilspinnerin musterte sie. »Ich kenne dich, Louise. Du hast doch sicher schon herausgefunden, wie ein Diskontinuitätentriebwerk arbeitet. Du hast diesen Abstoßungseffekt doch erwartet, stimmt’s?«

Louise lächelte und wedelte mit einer Hand in Richtung des Xeelee-Schiffes. »Nun ja. Vielleicht habe ich ein paar fundierte Überlegungen angestellt. Dieses Schiff ist kein Zauberwerk. Nicht einmal hinsichtlich dieses Antigravitations-Effekts. Es ist nur eine Umsetzung der höheren Physik. Aber wir könnten so etwas natürlich nicht bauen.« Ihr Blick wirkte entrückt. »Jedenfalls noch nicht…«

»Erzähl mir, wie es funktioniert, Louise.«


Bei extremen Temperatur- und Druckverhältnissen erreichte die Raumzeit ein Maximum an Symmetrie (so erfuhr Seilspinnerin von Louise). Die Fundamentalkräfte der Physik vereinigten sich zu einer einzigen Superkraft.

Bei einer Reduktion dieses Extremzustandes zerbrachen die Symmetrien. Die Kräfte der Physik – Gravitation, Kernkraft, Elektromagnetismus – kondensierten aus der Superkraft.

»Nun«, sagte Louise, »überlege einmal, wie Wasser zu Eis gefriert. Erinnere dich an das, was wir auf Callisto gesehen haben – all diese Verwerfungen im Eis, weißt du noch? Wenn Wasser gefriert, geschieht das nicht auf gleichmäßige und symmetrische Art. Es treten gewöhnlich Defekte auf – Diskontinuitäten im Eis.

Und genau auf diese Art, wenn die physikalischen Kräfte aus der Superkraft ausfallen, können Defekte auftreten – aber hier handelt es sich dann um Defekte in der Raumzeit selbst.«

Der Raum war dreidimensional. Es waren drei Arten stabiler Defekte möglich: In null, einer oder zwei Dimensionen. Bei diesen Defekten handelte es sich um Punkte – Monopole – oder Linien – kosmische Strings – oder Ebenen – Weltflächen.

Die Defekte waren echte Verwerfungen in der Raumzeit. Innerhalb der Defekte existierten Schichten – oder Punkte bzw. Linien – eines Falschvakuums: Stellen, an denen die Bedingungen des hochdichten, symmetrischen und vereinigten Zustands noch immer Gültigkeit hatten – wie im Eis eingeschlossene Schichten aus flüssigem Wasser.

»Diese Erscheinungen können natürlichen Ursprungs sein«, dozierte Louise. »Wahrscheinlich kamen die meisten zustande, als das Universum nach dem Urknall expandierte. Und möglicherweise«, fuhr sie langsam fort, »können diese Defekte auch künstlich erzeugt werden.«

Seilspinnerin schaute aus dem Beiboot auf den Nightfighter. »Willst du damit sagen…«

»Ich will damit sagen, daß die Xeelee Raumzeitdefekte erzeugen und kontrollieren können. Wir vermuten, daß die ›Flügel‹ dieses Nightfighters Defekte repräsentieren: Weltflächen, die durch Schleifen aus kosmischen Strings miteinander verknüpft sind.

Seilspinnerin, die Xeelee verwenden Schichten aus Antimaterie zum Antrieb ihrer Raumfahrzeuge…«

Die Weltflächen waren inhärent instabil; sich selbst überlassen zerfielen sie unter Aussendung von Gravitationsstößen und strebten mit annähernder Lichtgeschwindigkeit auseinander. Um das zu verhindern, mußte der Xeelee-Nightfighter diese Verwerfungen also aktiv stabilisieren und wieder destabilisieren, um Vortrieb zu gewinnen.

Louise glaubte, daß die Kontrolle des Weltflächen-Antigravitationseffektes der Fähigkeit des Schiffes zugrunde liegen mußte, die Pilotenkanzel vor den Auswirkungen der Beschleunigung abzuschirmen.

»Das alles klingt unglaublich«, kommentierte Seilspinnerin.

»Ein solches Wort gibt es nicht«, korrigierte Louise aggressiv. »Dein Ausflug war eine echte Leistung.« Seilspinnerin hatte Louise, die von den konstruktiven Fertigkeiten der Xeelee sichtlich begeistert war, noch nie in einem derart lebendigen und enthusiastischen Tonfall sprechen hören. »Du hast uns den ersten Durchbruch zum Verständnis der Funktionsweise dieses Nightfighters verschafft – und, was noch wichtiger ist, wie wir ihn benutzen können, ohne uns dabei selbst zu zerstören.«

Seilspinnerin runzelte die Stirn. »Und ist das denn so wichtig?«

Louise sah sie ernst an. »Seilspinnerin, ich muß das noch intensiver mit dir erörtern. Aber ich glaube, daß es davon abhängt, wie kompetent wir diesen Nightfighter einsetzen, ob wir – die menschliche Rasse – überleben oder zusammen mit der Sonne untergehen.«

Seilspinnerin schaute zu dem Xeelee-Raumschiff hinaus, zu den Ansammlungen von Drohnen-’bots, die geschäftig auf der Flügeloberfläche umherwuselten.

Vielleicht hatte Louise recht; vielleicht wurde etwas durch das Verständnis seiner Funktionsweise wirklich weniger bedrohlich. Der Xeelee-Nightfighter war kein Monster. Er war ein Werkzeug – eine Ressource, die von den Menschen genutzt werden konnte.

»Gut«, sagte sie. »Was nun?«

Louise grinste. »Nun ist es wohl an der Zeit, den Nightfighter auf einen kleinen Testflug durch das Sonnensystem zu schicken. Ich möchte wissen, was hier vorgefallen ist. Und«, ergänzte sie mit sich verhärtenden Gesichtszügen, »ich will wissen, was mit unserer Sonne geschieht…«