ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

»Etwas kommt auf uns zu, und wir haben nicht die geringste Vorstellung, was es sein könnte. Das ist deprimierend.« Krause saß mit ihnen in einem Konferenzraum, und sein Gesicht war grau.

»Ist anzunehmen, dass der Sprengstoff immer noch auf dem Lkw ist?« Esser warf einen Kugelschreiber auf die Tischplatte, dass es schepperte. »Das ist, verdammt noch mal, keine Arbeitsvorlage, das ist weniger als das Stochern im Kaffeesatz.«

Svenja und Müller kamen herein. Sie trugen Trainingsanzüge. Sie waren klatschnass aus Rostock zurückgekehrt und hatten den schönen Hubschrauber des Dienstes mit Lehmklumpen von ihren dreckigen Schuhen versaut. Sie setzten sich still dazu.

»Ich stelle mal die Frage«, sagte Dehner gerade, »was denn eine Frau wie Madeleine Wagner an Berlin so hassenswert finden kann, dass es zerstört werden müsste. Sie muss irgendeinen Grund haben, mit diesem C4 hier aufzutauchen. Sie ist böse, das wissen wir, sie ist kreativ und verfügt über die Möglichkeit, eine beinahe unbegrenzte Energie abzurufen. Also, verdammt noch mal, was kann sie tun?«

»Ich würde sagen, dass der Sprengstoff auf dem Lkw nicht unser Problem sein sollte. Wir müssen einfach den Mut haben, das zunächst einmal zu akzeptieren. Wir haben nicht mehr.« Müller fuhr sich durch das feuchte Haar. »Wenn wir anfangen, diese Prämisse zu zerstören, haben wir gar nichts mehr. Die Wagner hat, Thomas zufolge, in Tirana gesagt, sie bringt das Zeug nach Deutschland. Wenn wir jetzt auf die Idee kommen, dass sie den Sprengstoff auch in vier kleine Schnelltransporter verteilen kann, um damit jeweils ein Ministerium in die Luft zu jagen, dann haben wir keine Grundlage mehr, dann können wir genauso gut annehmen, dass jeweils fünfzig Kilo eine Luxusvilla pulverisieren. Ich rate also dringend: Bleiben wir bei tausend Kilo im Block. Was will sie damit kaputtmachen? Liegt irgendwo in Frau Wagners Geschichte die Antwort auf die Frage, was sie denn unbedingt zerstören müsste?«

»Da sehe ich nicht den geringsten Anhaltspunkt.« Sowinski schüttelte den Kopf. »Diese Dame ist unglaublich politikfern. In diesem Berlin hat sie nichts zu suchen, hier kennt sie sich nicht aus, hier ist sie fremd. Das ist auf keinen Fall ihr Spielfeld.«

»Aber ist genau das nicht ein Punkt, der sie reizen könnte?«, fragte Krause schnell.

»Wieso das denn?« Sowinski schien verblüfft. »Sie hat in ihren dreißig Lebensjahren alles Mögliche angerichtet, aber mit Politikern hatte sie niemals etwas am Hut. Das wüssten wir, das hätten wir herausgefunden.«

»Ja«, gab Krause ihm recht. »Das stimmt wohl.«

»Fragen wir weiter!«, drängte Svenja. »Politiker sind es nicht. Sind es vielleicht Geldmenschen? Geld mag sie doch, oder?«

»Wir können davon ausgehen, dass sie genug Geld verdient hat. Sie könnte sicher ein paar Jahrzehnte locker von den Zinsen leben. Truud wird sie gut bezahlt haben.« Thomas Dehner war unruhig, er hatte keine Geduld mehr. »Ich möchte nicht wissen, was ihr Jongen Truud für Afghanistan zahlte, oder für Venezuela oder für Südkorea oder Mogadischu. Vielleicht ist sie auch deswegen hier, aber das steht deutlich an zweiter Stelle. Sie will hier etwas demonstrieren, verdammt noch mal. Sie will akzeptiert und gefragt werden, sie will die Heldin aus der Provinz sein, in der sie so beschissene Erfahrungen machte. Aber wobei will sie die Heldin sein?«

»Ja, ja«, sagte Krause. »Vielleicht haben Sie recht, vielleicht ist es ein Spiel.«

»Ein Spiel mit eintausend Kilogramm C4? Habt ihr den Verstand verloren, Leute?« Esser war wütend, er hatte einen hochroten Kopf.

»Nehmen wir an, es ist ein Spiel.« Krause beugte sich weit über den Tisch und schloss die Augen. »Wie sieht denn ein Spiel mit dieser Frau aus? Sie verkauft sich doch in der Branche als beste Killerin, die die Welt jemals sah. Oder ist das falsch? Sie sagt also: Ich bin die absolut Beste! Und ihr Herausforderer sagt: Aber das Ding in Berlin, das schaffst du nicht! Und sie sagt: Ich mache es, ich beweise es dir!«

»Möglich«, stimmte Müller zu. »Aber was ist das? Will sie der Bundeskanzlerin die Toilette in die Luft jagen? Will sie dem Wirtschaftsminister zu einem Flug in die Stratosphäre verhelfen? Will sie im Reichstag die Kuppel zertrümmern? Was muss sie machen, um das Spiel zu gewinnen?«

»Irgendetwas, was ihr keiner zutraut«, sagte Krause. »So einfach ist das.« Dann grinste er süffisant. »Ich weiß, ich bin ein Spielverderber.«

Gillian kam über Lautsprecher: »Ich habe neuen Kaffee, und ich habe neue Puddingteilchen. Ist jemand interessiert?«

Als niemand sonst sich meldete, bemerkte Goldhändchen leise: »Ich hätte gerne einen Kaffee.«

Eine junge Frauenstimme sagte plötzlich über die Lautsprecher: »Also, das ist wirklich komisch, Chef. Wir hatten doch Suchbegriffe eingegeben. Geklaute Lkws und so. Und jetzt kriege ich hier eine Meldung aus Bremen-Lilienthal. Da ist jemand überwältigt worden, ein Mann. Gefesselt und Klebeband über dem Mund. Das ist der Fahrer von dem Lkw der Firma. Und der ist geklaut worden. Hier steht, dass die Kripo Bremen zuständig ist.«

»Ja, und?«, fragte Goldhändchen genervt. »Was soll das jetzt?«

»Die Firma heißt SOLIDE TISCHE, Chef. Der Gefesselte ist der Fahrer des Firmen-Lkw. Aber das Fahrzeug ist weg. Ich sag ja bloß, damit wir das nicht vergessen. Das hatten wir doch so vereinbart, damit wir nichts aus den Augen verlieren.«

»Moment!«, sagte eine zweite Frauenstimme. »Da war was, Chef. Aber ich weiß nicht mehr genau, was. Da muss ich mal nachschauen. Als wir die Gerüchte erzeugt haben, da sind wir doch – also, Sie haben gesagt, dass wir auch mal im Bundeskanzleramt reinschauen sollen, weil die doch auch bei den Gerüchten mitgemacht haben. Von wegen ›der Bundesnachrichtendienst ist auch nicht mehr das, was er mal war‹ und all die anderen falschen Behauptungen, die wir so gefunden haben. Und dabei ist mir SOLIDE TISCHE aufgefallen. Ich wusste doch, dass da was war, also das …«

»Millie!«, unterbrach Goldhändchen. »Du hast sicher recht, und ihr seid alle verdammt gut gewesen. Aber das ist jetzt vorbei, das ist gelaufen. In Bremen mag ja ein Lkw geklaut worden sein, aber das hat mit uns hier nichts zu tun.«

Die Stimme namens Millie klang tief beleidigt. »Das stimmt doch alles gar nicht. Sie können das doch nachlesen, Chef. Diese Firma SOLIDE TISCHE aus Bremen liefert heute Möbel an das Bundeskanzleramt. Neue Möbel für die Kantine. Das können Sie im Internet nachlesen. Vielleicht sind die schon da. Da müssen wir uns kümmern, Chef.«

»Das Spiel!«, sagte Krause lächelnd. »Das Spiel!« Dann sackte er auf seinem Stuhl förmlich zusammen, faltete die Hände und schloss die Augen. »Das Bundesverdienstkreuz für Sie, Goldhändchen!«, sagte er.

»Zu viel der Ehre!«, sagte Goldhändchen bescheiden. »Und was jetzt?«

»Jetzt gucken wir einfach nach!«, sagte Müller. »Wir haben ja sowieso nichts zu tun.«

»Augenblick, Leute!«, sagte Krause. »Ich gebe mich auf keinen Fall der Hoffnung hin, dass Frau Wagner mit eintausend Kilogramm C4 auf dem Hof des Bundeskanzleramtes steht. Das wäre ja zu viel des Guten. Aber wir sollten wenigstens eine Arbeitsteilung vornehmen. Wer spricht mit der Kriminalpolizei in Bremen?«

Sowinski hob die Hand.

»Wer geht in die Rechner im Kanzleramt?«

»Bin schon drin«, sagte Goldhändchen, der mit schnellen Fingern auf seinem Laptop spielte. »Hier steht, dass der Pächter der Kantine sich aufrichtig freut, die neuen Tische und Stühle endlich aufstellen zu können. Damit es schöner wird und gemütlicher. Dann meldet sich noch ein gewisser Peter, die Küchenhilfe. Er schreibt, dass die Stühle weicher sind und irgendwie arschgenau. Er schreibt wirklich arschgenau, Leute, der hat sogar Humor.«

»Müller, Svenja, Thomas. Sie nehmen jeder einen Wagen mit Fahrer. Sie kriegen feste Telefonverbindungen. Können wir uns auf die Kameras am Bundeskanzleramt schalten?«

»Können wir«, sagte Goldhändchen. »Ich verschwinde hier, ich gehe in mein Paradies, hier ist mir zu wenig los. Ich würde gerne wissen, wie die Frau das gedeichselt hat.« Er klappte den Laptop zusammen, stand auf und rannte buchstäblich aus dem Raum.

»Vielleicht hat die Frau gar nichts gedeichselt?«, bemerkte Esser. »Vielleicht kriegt die Kantine tatsächlich nur neue Möbel.«

»Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man«, bemerkte Sowinski.

»Ist Arthur Schlauf noch bei seinem Vater?«, fragte Krause.

»Wahrscheinlich«, sagte Esser. »Da wollte er jedenfalls hin.«

»Dann sollten wir ihn holen«, sagte Krause. »Das muss schnell gehen.«

»Wir nehmen den Hubschrauber«, sagte Esser bestimmt. »Bei näherem Hinsehen«, sagte Svenja, »bekommt das alles seinen Sinn.«

»Vielleicht«, nickte Krause. Dann stand auch er auf, um den Raum zu verlassen. Er hob die Arme an und sagte: »Ich bin richtig steif, ich habe es schon wieder in den Lenden. Wir sitzen einfach zu viel.« Er machte ganz kleine Schritte und bewegte sich sehr langsam. »Lasst euch ausrüsten. Und dann ab die Post.«

Dann fiel die Tür hinter ihm zu.

»Wie bei den drei Musketieren«, sagte Svenja. »Eigentlich sind sie zu faul, um für den König zu sterben.«

Sie bekamen ein Headset und hatten ein Mikrofon dicht am Unterkiefer. Sie wurden ausgerüstet mit jeweils zwei Neun-Millimeter-Glock 17, und Müller moserte, dass er lieber die Walther PPK hätte, sie sei wesentlich präziser.

»Jetzt stell dich nicht so an«, sagte der Ausrüster scharf. »Du sollst nicht schön schießen, sondern zweckmäßig. Diese Waffe ist ein klassischer Killer, das weißt du.«

Als sie mit den Autos den Dienst verließen, kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Ihre Fahrer trugen schusssichere Westen und sahen um den Bauch herum grotesk dick aus.

»Was machen wir denn, wenn Madeleine Wagner bereits irgendwo unterwegs ist, um den nächstbesten Flieger zu erreichen?«, fragte Svenja.

»Dann wünschen wir gute Reise und gehen in die neue Kantine essen!«, bemerkte Thomas Dehner.

»Wenn es das ist, was ich denke, wird sie auf jeden Fall zugucken«, sagte Müller. »Wir fahren einfach mal vor und schauen, was ist. Thomas, du sicherst nach hinten. Svenja rechts in Fahrtrichtung, ich links. Ist das okay? Chef, wissen die Bescheid?«

»Sie erwarten euch«, sagte Krause kühl. »Aber sie glauben uns nicht, sie denken, wir spinnen.«

»Das kennen wir ja«, murmelte Svenja. »Das denken sie doch immer.«

»Wir parken links vor dem Eingang für Kaiser und Könige, da wo das rostige Metallding steht, die Kunst«, legte Müller fest. »Da bleiben die Wagen stehen. Dann nach vorne zum Arbeitseingang.«

»Der Lkw steht tatsächlich da. Ganz weit vorn«, sagte Krause. »Sieht eigentlich nicht so aus, als hätte er C4 an Bord. Richtig friedlich.«

»Wie schön!«, sagte Dehner.

»Eine Ladung friedliches C4«, ergänzte Svenja.

Sie stiegen aus und gingen hintereinander her.

Am Tor zum Arbeitseingang stand neben dem Glasbau des Pförtners ein Uniformierter und sah ihnen entgegen. Er wirkte nervös. Hier lief etwas ab, von dem er absolut nichts wusste, das aber auf keinen Fall in seine Planung passte. Hinter ihm standen seine weiblichen und männlichen Kameraden, zusammengedrängt und höchst misstrauisch. Dass drei Unbekannte sie einfach verscheuchen konnten, hätten sie nie gedacht.

Der Uniformierte sagte etwas beleidigt: »Ich nehme an, Sie sind die Herrschaften, die nachsehen wollen.«

»Das ist richtig«, antwortete Müller. »Die Herrschaften sind wir.«

»Der Lkw steht da hinten, am Eingang vorbei. Sehen Sie ihn?«

»Wir sehen ihn. Und wo ist der Fahrer?«

»Der hat die Kiste abgestellt, kam hier zum Wachhaus und hat gesagt, er müsse eben seiner Frau Bescheid sagen, die sei in seinem Pkw hinter ihm hergefahren. Von Bremen her.«

»Wann war das?«, fragte Müller.

»Vor etwa einer halben Stunde. Der wird gleich wieder hier sein.«

»Wer soll den Lkw abladen?«, fragte Müller.

»Ein paar Leute vom Hausmeister und der Fahrer. Die Kantine ist heute ja geschlossen wegen der neuen Möbel. Ist da wirklich irgendwas faul?«

»Das wissen wir noch nicht«, sagte Müller freundlich. Er starrte auf den Laster. Auf der rückseitigen blauen Plane stand in Weiß SOLIDE TISCHE. »Also, dann sehen wir doch mal nach.«

Sie gingen jetzt nebeneinander.

»Ich habe das ausgerechnet«, kam Esser über Funk. »Wenn die Paletten hintereinanderliegen, dann sind sie nicht auf dem Hänger, sondern auf dem vorderen Teil.«

»Was sagt denn die Kripo in Bremen?«, fragte Svenja.

»Die findet das Ganze sehr komisch«, erwiderte Sowinski. »Der Fahrer jedenfalls ist heute Morgen von der Geschäftsführerin aufgefunden worden. Gefesselt und geknebelt. Er sagt, er wäre gestern Abend noch einmal gucken gegangen, ob der Wagen richtig beladen ist. Reine Routine. Alles wäre okay gewesen. Dann sei er niedergeschlagen worden und erst wieder aufgewacht, nachdem sie ihn gefesselt und seinen Mund mit Klebeband zugepflastert hätten. Der Fahrer hat gehört, dass sie etwas an der Ladung verändert haben. Aber was, das hat er natürlich nicht mitgekriegt. Heute Morgen ganz in der Früh, so gegen fünf Uhr vielleicht, sei der Lkw dann vom Hof gefahren.«

Sie kamen jetzt an dem Eingang vorbei, den die Minister benutzten, alle Mitarbeiter und alle Besucher. Alles war ruhig.

Sie erreichten das Fahrzeug.

»Wie machen wir es?«, fragte Dehner.

»Wir rollen die Plane hinten nach oben«, entschied Müller. »Und sobald sie hoch genug ist, krieche ich rein. Svenja links, du rechts.«

Sie rollten die Plane wie einen Teppich hoch und konnten schon nach einer Minute die Ladung sehen.

»Es sieht nach einem Riesenhaufen Pappe aus«, sagte Müller. »Sie schützt die Möbel.«

»Das ist richtig«, kommentierte Esser. »Die Möbel sind aus Buchenholz, jedes Teil ist von zwei Pappen geschützt.«

»Dann bleibt mal da unten stehen«, bemerkte Müller gelassen. »Ich reiche euch die Teile an. Okay?«

»Klar«, sagte Svenja. »Mach mal.«

Es waren Stühle, sechs hintereinander. Svenja und Dehner stellten sie einfach auf den Asphalt.

»Moment mal«, sagte Müller aus dem Inneren. Er hatte die Bretter einer Palette gesehen und legte sich flach auf den Bauch, dann schob er sich vorwärts.

»Svenja«, keuchte er angestrengt, »falls ich hier hochgehe, könntest du dich bitte um Anna-Maria kümmern?«

»Würde ich ja gerne«, sagte Svenja trocken, »aber du vergisst, dass ich dann ebenfalls draufgehe. Und Thomas ist auch nicht geeignet.« Sie lächelte Dehner an, der überhaupt nichts verstand und etwas dümmlich schaute.

Müller sah etwas, das tiefblau war. Es handelte sich um Plastiksäcke, die auf der Palette gestapelt waren. Er packte einen und bewegte sich damit auf dem Bauch rückwärts, sodass seine Schuhe als Erstes wieder zu sehen waren. Dann stand er auf und wandte sich ihnen zu. »Auf dem Sack hier steht: Humus aus Finnland! Für prächtige Blumen in Ihrem Garten!«

Dehner nahm das Paket an und legte es ganz vorsichtig auf den Asphalt. »Und jetzt?«

»Jetzt gucken wir rein«, sagte Svenja.

Müller sprang von der Hängergabel. »Da liegt ziemlich viel von dem Zeug«, sagte er völlig ruhig. »Chef, Sie müssen gleich eine Entscheidung treffen. Moment noch.« Er griff in eine Tasche seiner Weste, holte ein kleines Messer heraus und klappte eine Klinge auf. Er kniete sich neben das Paket und stach in die Plastikverpackung und schnitt sie auf.

»Es sind zwei Taschen, die äußere ist der Humus aus Finnland, die zweite ist weiß und trägt die Aufschrift EARTHCARE. Ich hole jetzt die Masse aus der Verpackung.«

Er nahm eine Handvoll heraus. Es war eine braungrüne Masse, und sie sah aus wie Plastilin. »Nach meiner Kenntnis ist das eindeutig C4. Chef, wir müssen evakuieren.«

»Müssen wir!«, bestätigte Krause.

»Wie sieht so ein Zünder aus?«, fragte Thomas Dehner.

»Ziemlich klein«, sagte Müller. »Du brauchst ja auch nur einen Funken, das reicht schon. Ein Zünder ist ungefähr so klein wie die untere Hälfte eines Kugelschreibers. Irgendjemand drückt auf sein Handy, und Bumm!«

»Steht da nicht herum!« Sowinskis Stimme klang schrill. »Haut da ab!«

»Keine Aufregung!«, sagte Krause. »Das liegt jetzt in Gottes Hand. Ganz ruhig.«

Noch nie hatte jemand von ihm einen solchen Spruch gehört.

»Das ist doch jetzt wohl nicht dein Ernst!«, brüllte Esser.

»Nun mal langsam«, sagte Müller. »Wenn der Zünder den Befehl kriegt, kriegt er den Befehl. Daran ändern wir doch nichts.«

»Sie evakuieren«, sagte Krause. »Sie fangen jetzt an. Die Kanzlerin und ihr Stab müssen zuerst raus.«

»Sie ist da?«, fragte Svenja verblüfft. »Mein Gott, die ist doch sonst fast nie da.«

»Heute schon«, sagte Esser, und er schien sich wieder etwas beruhigt zu haben.

»Was glauben Sie, Müller?«, fragte Krause. »Kann man die Ladung bewegen?«

»Kann ich nicht genau sagen. Ich müsste nachsehen.«

»Dann tun Sie das bitte«, sagte Krause.

»Das geht doch nicht, verdammt!«, fuhr Svenja dazwischen. »Du hast doch gar keine Übung.«

»Dazu brauche ich keine Übung, dazu brauche ich Glück«, sagte Müller lakonisch.

»Kann ich das machen?«, fragte Dehner. »Ich habe solche Teile in einem anderen Leben schon gefahren.«

»Dann mach du das«, sagte Müller. »Aber mach es langsam. Chef, ist es okay, wenn er fährt?«

»Das ist okay«, bestätigte Krause.

»Ich hoffe, der Schlüssel steckt«, sagte Dehner leise. Er wirkte gelassen und ging an dem Lkw vorbei nach vorn zum Fahrerhaus.

»Svenja, was siehst du jetzt, wenn du zum Pförtnerhaus guckst?«, fragte Esser.

»Ich sehe drei, nein, vier kleine Gruppen. Eine steht vor der Schweizer Botschaft. Sehen alle wie Touristen aus. Da rauschen dauernd Taxis vom Hauptbahnhof vorbei, da ist die Kontrollgruppe des Hauses, sechs Leute vorne an dem kleinen Gebäude an der Einfahrt, wenn ich richtig zähle. Alles in allem friedlich. Nichts Auffälliges.«

»Dehner«, kam Sowinskis Stimme. »Schlüssel da?«

»Kein Schlüssel«, antwortete Dehner seufzend.

»Welches Fabrikat hat der Lkw?«

»Volvo«, sagten Müller und Dehner gleichzeitig.

»Dann greif an der Steuersäule nach unten, dann senkrecht nach oben. Du müsstest jetzt einen Kabelbaum finden. Hast du?« Sowinski klang nervös.

»Habe ich«, sagte Dehner trocken.

»Okay. Verfolge den Kabelbaum nach oben zum Zündschloss.«

»Habe ich«, sagte Dehner. »Vier Drähte, ist das okay?«

»Völlig okay!«, sagte Sowinski. »Den roten und den schwarzen reißt du raus. Kräftig ziehen.«

»Okay, habe ich.«

»Jetzt legst du das Metall frei, damit du zünden kannst. Müsste einfach sein.«

»Ist einfach. Moment noch.« Er lachte kurz auf. »Ich habe zwar schon einen Lkw gefahren, aber noch nie einen geklaut. Ich zünde jetzt.«

Es klang, als würde der Motor husten. Dann sprang er an.

»Moment«, sagte Müller scharf. »Die da am Einlass! Die müssen verschwinden.«

»Aber ja«, sagte Krause. »Ich habe eine Verbindung dorthin. Ich lasse ihnen Bescheid geben.« Es gab einige Geräusche, dann Wortfetzen, dann brüllte jemand etwas Unverständliches.

Müller sah, wie die Uniformierten aus dem kleinen Gebäude kamen und nach rechts hinter der nächsten Mauer verschwanden.

»Okay«, sagte Müller. »Thomas, alles klar?«

»Ja. Aber ich habe einen Vorschlag. Ich drücke den Hänger gegen den schweren Sicherungszaun rechts von mir. Dann koppeln wir ihn ab, und ich kann leichter zurücksetzen.«

»Sehr gut!«, kam Sowinskis Stimme. »Mach das, aber mach es schnell.«

»Okay.« Dehner gab Gas, dann schaltete er sehr hart und lenkte nach rechts. »Kann ich los?«

»Fahr los«, sagte Svenja. »Du müsstest mich jetzt im rechten Außenspiegel haben.«

»Ich sehe dich«, antwortete Dehner.

»Dann los. Ich kopple den Hänger ab, wenn du stehst.« Svenja lachte und erklärte: »Und dass du mir eng am Körper bleibst, damit wir auch ordentlich zusammen in die Luft fliegen.«

»Mach ich!«, sagte Dehner etwas zittrig.

Er gab Gas, zu viel Gas.

Müller vermutete, dass Dehner herausfinden wollte, wie die Kupplung reagierte.

Tatsächlich wurde der Motor nach einigen Sekunden leiser, und dann begannen sich die Räder langsam zu drehen. Der Anhänger wurde nach hinten gedrückt, beschrieb eine steile Kurve nach links, bis er gegen den Zaun stieß.

»Das reicht«, sagte Svenja. »Ich häng das Ding ab. Karl, kannst du mal helfen?«

»Aber ja«, sagte Müller völlig ruhig.

»Mann, das dauert, das dauert!« Sowinskis Stimme klang nicht gut.

»Du kannst vorziehen«, sagte Müller.

»Okay«, sagte Dehner.

Das Fahrzeug bewegte sich langsam nach vorn, bis es etwa nach fünfzehn Metern wieder stoppte.

»So ist es gut«, sagte Müller. »Jetzt kommt die Rolle rückwärts. Alles klar?«

»Alles klar«, sagte Dehner. Er klang etwas nuschelig, die Nerven machten sich bemerkbar.

»Das Gebäude ist geräumt«, sagte Krause. »Das Bombenräumkommando kommt. Sie sagen, es dauert noch acht Minuten.«

»Sollen wir verschwinden?«, fragte Müller.

»Nein«, sagte Krause. »Weitermachen.«

»So ein Scheiß!«, sagte Sowinski schrill.

»Okay, Thomas.« Das war wieder Müller. »Setz zurück. Nicht mehr als Schrittgeschwindigkeit. Ich gehe im Blickwinkel deines linken Außenspiegels.«

»Ich sehe dich«, sagte Dehner.

Der Lkw setzte sich langsam in Bewegung.

»Ich muss es langsam machen«, sagte Dehner leise, als müsse er sich entschuldigen. »Sonst ecke ich irgendwo an.«

»Wir haben ja Zeit«, murmelte Svenja.

Nur die ersten Meter waren stockend, dann wurde die Fahrt gleichmäßiger.

»Gut so«, sagte Müller. »Keine Korrekturen. Wenn du so bleibst, kommst du glatt durch. Langsam, langsam. Weiter so, komm schon, Junge, du bist gut.«

»Das hat meine Mutter auch immer gesagt«, entgegnete Dehner trocken. In seiner Stimme war jetzt keine Nervosität mehr. Dann fragte er unvermittelt: »Stehen da etwa noch Touristen rum?«

»Ja, viel zu viele«, sagte Esser. »Ich sehe mindestens dreißig. Scheucht die weg, verdammt noch mal.«

»Mache ich«, sagte Svenja ruhig. Sie ging schnell und entschlossen auf das Wachhäuschen zu und dann weiter auf der Straßenseite der Schweizer Botschaft. »Bitte, verschwinden Sie!«, schrie sie. »Das ist ein Alarm!« Die Menschen sahen sie verwirrt an. »Hauen Sie ab!«, schrie Svenja.

Die nächste kleine Gruppe stand auf dem großen Wiesengelände, und eine sehr dicke Frau erklärte ihnen etwas, wahrscheinlich eine Stadtführerin. »Das ist ein Alarm! Verschwinden Sie!«, rief Svenja.

»Komm, Junge, komm schon. Gleich bist du durchs Tor, komm schon. Das machst du wirklich gut.« Müller dirigierte Thomas Dehner mit leiser, ruhiger Stimme. »Du hast jetzt noch acht Meter, um neben das Wachhäuschen zu kommen.«

»Ich sehe dich«, sagte Dehner. »Das klappt schon, das ist wie Baggerfahren.«

»Ich habe noch nie einen Bagger gefahren«, sagte Müller.

»Stopp! Stopp, verdammt noch mal.« Es war Krauses Stimme.

»Was ist?«, fragte Müller.

»Bleiben wir sachlich«, sagte Krause. »Svenja! Bewegen Sie sich zurück zu Müller und Dehner.« Er wartete geduldig, bis Svenja schnell an dem Wachhäuschen vorbei auf das Gelände des Kanzleramtes gelaufen war. »Ich wundere mich, dass ihr immer noch am Leben seid. Kann Dehner mal den Motor abstellen?«

»Kann ich«, sagte Dehner.

Es wurde sehr still.

»Also«, sagte Krause. »Wenn es stimmt, dass der Fahrer eine halbe Stunde vor Beginn der Aktion den Lkw verließ, dann ist bis jetzt etwa eine Stunde vergangen. Warum ist die Ladung dann noch nicht hochgegangen? Entweder ist kein Zünder eingebaut, oder er ist nicht gezündet worden, weil er durch einen technischen Defekt nicht mehr mit irgendeinem Auslöser in Verbindung steht.«

»Verstanden«, sagte Müller.

»Passt das zu Madeleine Wagner? Ist das unsere Kiri?«

»Auf keinen Fall«, sagte Svenja. »Sie will sehen, was sie anrichtet.«

»Sehr richtig«, stimmte Krause zu. »Meiner Überzeugung nach steht sie irgendwo nahe bei Ihnen. Sie will das erleben, sie hat sich richtig Mühe gegeben, sie hat etwas Sensationelles auf die Beine gestellt. Und sie braucht auf jeden Fall einen Beweis, nicht wahr? Sie wird filmen, denke ich. Suchen Sie. Aber bitte so, dass sie erst im letzten Moment bemerkt, dass wir sie geortet haben.«

»Okay«, sagte Müller. »Wird gemacht. Thomas, steig aus.«

Es war gespenstisch ruhig, keine Sirene heulte, niemand ging auch nur einen Schritt schneller. Es gab keine Bewegung, die auf Eile hindeutete.

Sie gingen gemächlich nebeneinander zum kleinen Bau der Wachhabenden zurück.

Der Uniformierte, der sie empfangen hatte, machte zwei, drei Schritte und bemerkte beunruhigt: »Wir haben den Befehl zu gehen. Was ist denn?«

»Sprengstoff!«, sagte Svenja.

»Ach, du lieber Gott!«, sagte der Mann erschrocken.« Dann lächelte er etwas verkrampft. »Sie machen einen Scherz, nicht wahr?« Er war blass.

»Kein Scherz«, sagte Dehner.

»Ja«, bestätigte Müller. »Bringen Sie Ihre Ärsche in Sicherheit. Das ist nichts für einen Heldentod.«

Sie gingen an dem kleinen Wachhaus vorbei und blieben stehen. Sie sahen sich aufmerksam um, hoben aber nicht einmal die Köpfe.

»Sie wird also fotografieren oder filmen«, sagte Svenja. »Sie kann da vor der Schweizer Botschaft stehen, da sind immer noch drei Leute. Oder irgendwo bei den Leuten auf dem Rasen vor dem Parlament. Sollen wir die Autos aktivieren?«

»Noch nicht«, sagte Müller. »Ich nehme an, dass sie immer noch rote Haare hat, oder?«

»Stimmt, sie hatte keine Zeit, die Farbe zu ändern«, sagte Svenja.

»Sie steht da in der Gruppe dieser drei Leute vor der Schweizer Botschaft.« Dehner sprach ohne jede Betonung und fast, ohne die Lippen zu bewegen. »Die Frau ist meine Obsession, die würde ich überall erkennen. Seht ihr sie? Sie trägt einen leichten, dunklen Mantel. Sie steht neben einem großen Mann in einem Trenchcoat. Sie trägt ein Kopftuch, ein rotes. Und sie filmt.«

»Wie machen wir das?«, fragte Svenja und sah auf den Asphalt zwischen ihren Füßen.

»Schnell«, sagte Müller. »Nicht hinsehen. Ich sage los, und dann geht es ab.«

Sie standen jetzt zusammen wie drei Leute, die sich einfach nur miteinander unterhielten.

»Chef, wir sehen sie. Wir holen sie«, sagte Müller.

»Das ist gut«, sagte Krause. »Denkt daran, sie wird schießen.«

»Wir denken immer an alles!«, sagte Svenja.

»Los!«, sagte Müller. Er startete am schnellsten, weil er den Befehl gegeben hatte, aber nach den ersten Schritten lagen Svenja und Dehner mit ihm auf gleicher Höhe.

Die Frau reagierte viel zu spät. Sie hörte auf zu filmen und ließ die Kamera einfach fallen. Sie klappte den Mantel auf und hielt plötzlich irgendetwas in der Hand, etwas Großes, Klobiges.

»Waffe!«, schrie Müller.

Sie lief an der Fassade der Botschaft entlang, hielt inne und drehte sich um.

Svenja schrie: »Waffe!«

Dann feuerte die Frau. Es war eine Kette von Blitzen.

Dehner war am schnellsten. Er schoss noch im Laufen. Svenja kam von rechts in einem leichten Bogen und feuerte ebenfalls. Müller gab keinen einzigen Schuss ab, rannte einfach, bis er bei der Frau war. Die Frau versuchte aufrecht stehen zu bleiben, aber das gelang ihr nicht. Langsam sackte sie auf die Betonplatten und blieb dort reglos liegen.

Dann hob Müller die Hand.

»Sie ist tot«, sagte er schwer atmend.

»Eine Maschinenpistole«, keuchte Svenja.

»Ja«, sagte Dehner.

Müller gab den Fahrern in ihren Autos ein Handzeichen. »Wir ziehen ab, Krause erledigt den Rest.«

»Kann man Zünder eigentlich orten?«, fragte Svenja.

»Kann man«, sagte Müller. »Das Metall kann man orten.«

Sie stiegen in der Tiefgarage des Dienstes aus und fuhren im Lift nach oben. Esser und Sowinski standen wartend da und lächelten ihnen stolz entgegen.

»Es war ziemlich einfach«, sagte Müller knapp.

»Wie immer«, sagte Dehner.

»Wo ist Atze?«, fragte Svenja.

»Er sitzt bei Krause auf dem Sofa«, sagte Esser. »Und er heult wie ein Schlosshund. Gehen wir rein.«

Svenja nickte.

Krause hockte an seinem Schreibtisch und hatte einen roten Kopf. Er blickte kurz auf, als Esser und Sowinski das Zimmer betraten und Müller, Svenja und Dehner den beiden in kurzem Abstand folgten.

Auf dem schwarzen Ledersofa saß Atze. Er trug einen Jeansanzug, wahrscheinlich um zu demonstrieren, wie normal er aussehen konnte, wenn er Ferien hatte.

»Das sind die Leute, die Sie fast getötet hätten!«, stellte Krause fest und nickte in Richtung seiner Agenten.

Atze hatte ein graues Gesicht, und seine Augen waren tränenblind. Er stotterte irgendetwas Unverständliches.

»Verdammt noch mal«, sagte Krause. »Sie haben dem Deal zugestimmt! Ihretwegen wären viele Menschen gestorben. Mann, nun stehen Sie doch endlich dazu. Es war Ihr Geschäft, Ihr Deal. Und Sie behaupten, das sei alles nur ein Spaß gewesen?«

»Und darf ich jetzt bitte auch mal wissen, warum er mich beinahe getötet hätte?«, fragte Müller mit ruhiger Stimme.

»Erzählen Sie es ihm noch einmal«, sagte Krause mit einem Seufzer. »Mein Mitarbeiter hat schließlich das Recht, zu erfahren, weshalb er fast gestorben wäre.«

Atze sah die drei traurig an und wartete, bis sie sich alle gesetzt hatten.

»Es begann in Mogadischu. Kiri war da, und ich habe ihr ein wenig von mir erzählt. Weshalb ich aus Deutschland verschwunden bin und dass mein Vater nach dem viel zu frühen Tod meiner Mutter immer einsamer wurde und keinen mehr sehen wollte. Und sie erzählte mir von ihrer Kindheit und von dieser schrecklichen Mutter und von dem Leben in diesem Kaff und dass sie einfach nie eine Chance bekommen hatte. Und dann sagte sie: Du zahlst mir eine Million, wenn ich der Kanzlerin was vor die Nase setze, damit sie endlich merkt, dass sie mit uns nicht so umgehen kann. Ich habe doch nicht gedacht, dass Kiri das wirklich tut. Ich habe das doch nicht ernst genommen. Okay, habe ich gesagt, mach das, und du kriegst eine Million! Das war alles nur Spaß, nichts Ernstes. So was würde mir im Traum nicht einfallen. Ich bin ein friedlicher Mensch, das müssen Sie mir einfach glauben.«

»Das müssen wir Ihnen durchaus nicht glauben«, sagte Krause wütend. »Aber auf jeden Fall sind Sie der einzige Mensch, mit dem die Frau etwas verband, sie war eine echte Leidensgenossin. Esser, tu mir den Gefallen und schaff ihn raus, ich will ihn nicht mehr sehen.«

Esser stand auf, Atze folgte ihm schluchzend. Sie gingen hinaus.

Krause sah Dehner an und sagte: »Danke fürs Lkw-Fahren. Ich habe Sie gestoppt, weil ich dachte, die Frau wird nicht nur filmen, sondern auch schießen. Und wenn sie den Lkw beschossen hätte, wäre es sicher recht ungemütlich geworden.«

Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille, dann sagte Sowinski: »Gillian hat Puddingteilchen.«