DREIZEHNTES KAPITEL
»Du hast mich gebeten, diese Protokolle der Libyer über die Verhöre der angeblichen Terroristen nachzulesen, die die USA beziehungsweise die CIA, nach Tripolis fliegen ließen«, sagte Esser. »Das habe ich getan, allerdings nur flüchtig, denn sie sind so umfangreich, dass man dazu wahrscheinlich einen ganzen Monat braucht. Ich will gestehen, dass ich danach schlecht geschlafen habe. Das ist kein Lesespaß. Sie haben den Männern – es waren in der Regel nur Männer – wirklich Fingernägel mit Zangen ausgerissen. Und sie haben die Methode One Drop Only aus den ganz dunklen Kellern der Menschheit neu erstehen lassen.«
»Was ist das?«, fragte Krause.
Esser schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Es gab mal eine Reklame für ein Mundwasser, das One Drop Only hieß. Das Zeug soll so scharf und gut sein, dass ein einziger Tropfen in einem Glas mit Wasser ausreicht, um einer guten Mundhygiene gerecht zu werden. Unser oft zitierter Onkel Tobruk machte daraus eine richtige Schweinerei. Er ließ Gefangene auf einem Stuhl festschnallen, und zwar so, dass sie ihren Kopf nicht mehr bewegen konnten. Dann wurde den Männern auf dem Schädel eine kleine Stelle kahl geschoren. Darüber war ein Gefäß mit Wasser, aus dem nur ein einzelner Tropfen auf diese kahle Stelle auf dem Schädel fiel. Anfangs stört das nur wenig, dann wird es lästig, schließlich wird es zu einer Tortur, die Menschen verrückt machen kann. Der Gefangene nimmt sehr schnell jeden Tropfen wie einen Trommelschlag wahr. Irgendwann dreht man durch und gesteht einfach alles, was der Vernehmende hören will.«
»Gibt es Namen der Gefangenen?«
»Ja, alles. Name, Adresse, Alter, Geburtsort, Grund und Anlass des Terrorverdachts. Dann sämtliche Namen der Verhörenden. Svenja hat noch gut vierzig Disketten aus den Rechnern geholt. Da steht alles drin, auch über die Verwaltung dieses mörderischen Apparates bei den Libyern. Männer und Frauen, die gut arbeiteten bei den Verhören, die viele Geständnisse aus den Gefangenen herausholten, bekamen besondere Geldzulagen, wenn sie eine Methode oder eine Kombination von Verhörmethoden ausprobierten und damit Erfolge nachweisen konnten. Es gibt schlichtweg nichts, was sie ausgelassen haben.«
»Ein anderes Thema«, sagte Krause. »Was halten wir von dieser Frau, die angeblich das C4 kaufte und es nach Deutschland bringen will? Kann es sein, dass wir sie in anderen Krisengebieten auf diesem Planeten treffen werden? Atze hat gesagt, sie kommt viel rum. Sollten wir befreundete Dienste bitten auszuhelfen, wenn sie etwas haben? Oder ist das alles noch ein Dunkelfeld?«
»Hast du das Memo von Dehner gelesen, in dem er sein Gespräch mit Atze schildert?«
»Ja, habe ich. Warum?«
»Dehner sagt, die Dame sei in Mogadischu aufgefallen, als ein CIA-Agent getötet wurde. Ein gewisser Ole Bauer. Atze war auch vor Ort. Er hat Weizen nach Mogadischu geliefert. An seiner Erinnerung ist nicht zu zweifeln. Und sie war in Pakistan im Rahmen dieser gewaltigen Flutkatastrophe. Sie ist also sehr beweglich und überall zu Hause. Atze ist der Meinung, dass sie etwas sehr Einfaches tut: Sie bietet ihre Dienste an. Wir wissen allerdings nicht, wie diese Dienste aussehen. Ich würde raten, noch ein wenig abzuwarten, vielleicht taucht sie in anderen Zusammenhängen wieder auf.«
»Sie soll angeblich aus Braunschweig stammen.«
»Goldhändchen bestätigt das. Näheres haben wir aber noch nicht. In Braunschweig gemeldet ist sie aber zurzeit auf keinen Fall.«
»Gibt es dort Verwandte von ihr?«, fragte Krause weiter.
»Das wird gegenwärtig festgestellt«, antwortete Esser. »Sag mal, du willst dich doch nicht auf diese fragwürdige Dame einlassen, oder?«
»Fragwürdige Damen hatten wir schon öfter«, meinte Krause nachdenklich. »Da ist etwas an ihr, das mich neugierig macht. Dieser CIA-Agent, wie hieß der noch mal?«
»Ole Bauer.«
»Richtig. Erdrosselt mit einer Gitarrensaite in Mogadischu. Klingt irgendwie bizarr. Ich lege mich nicht fest, aber ich wäre dir dankbar, wenn du Dehner zu mir schicken könntest. Möglichst sofort.«
»Okay. Und noch etwas: Könntest du auf Svenja einwirken, dass sie sich, verdammt noch mal, aus allem heraushält? Wenn der Dienst schon unter Beschuss steht, dann sollten wir uns hüten, uns mit einer Kollegin zu belasten, die einen Berliner Drogendealer mit einem Schuss in den Fuß stoppt.«
»Wie bitte?«
»Ja, das ist passiert, wirklich. Natürlich hat sie eine einleuchtende Erklärung, aber so etwas kann schnell in die Hose gehen. Ich hatte einen Staatsanwalt am Telefon, der mir drohte, er würde die Frau als Zeugin laden.«
»Dann muss ich mit ihr reden.«
»Danke!«, sagte Esser.
Thomas Dehner stand zwanzig Minuten später vor der Haustür und wurde von Wally empfangen.
Er staunte über die ganzen Kommunikationsgeräte auf dem Couchtisch und sagte: »Meine Güte!«
»Sie sprechen mir aus der Seele«, sagte Krause. »Nehmen Sie Platz. Alles klar? Irgendwelche Nachwehen?«
»Tripolis war kein Arbeitsessen«, sagte Dehner. »Es war ziemlich hart. Ich musste Tobruk erschießen.«
»Und ich habe das ausgelöst durch meine Entscheidung«, sagte Krause.
»Ja!«, sagte Dehner. »Ich weiß, es musste sein.«
»Ich wollte Müllers Leben retten«, sagte Krause leise.
»Ist mir klar. Trotzdem.«
»Wollen Sie darüber reden?«
»Ja, würde ich gern.«
»Mit mir?«
»Nein, nicht mit Ihnen.«
»Gut, Sie kriegen professionelle Hilfe. Ich weise das an.« Er drückte auf einen Knopf und sagte: »Kannst du Anweisung geben an den Psychologischen Dienst? Beratung für Thomas Dehner nach dem Tod von Onkel Tobruk. Ziemlich dringend.«
»Ja«, sagte Esser. »Wird erledigt.«
»Nun zu uns beiden«, begann Krause. »Gießen Sie sich ein, was Sie mögen.«
»Einen Kaffee vielleicht«, sagte Thomas Dehner und griff nach der Thermoskanne.
»Sie trafen diese Frau in Tirana, von der wir jetzt wissen, dass sie Madeleine Wagner heißt. Sie erlebten sie für ein paar Stunden. Ihr Memo in dieser Sache ist sehr gut. Sie erwähnen einmal, dass diese Frau sich in der Umladestation des Sprengstoffs umsah und danach fragte, wie das C4 auf die abholenden Lkws geladen wird. So weit, so gut. Was meinen Sie: Hat jemand diese Frau geschickt? Oder erledigt sie da etwas im eigenen Namen?«
»Gute Frage«, sagte Dehner. »Ich würde sagen, sie kaufte das Zeug, wie andere Frauen ein Kleid kaufen. Sie kaufte es für sich. Aber das ist natürlich nur ein Gefühl, ich kann dieses Gefühl durch nichts belegen.«
»Ich verstehe.« Krause nickte. »Jetzt zu einem weiteren Punkt. Sie erwähnen in Ihrem Memo, dass die Frau diese Fabrik, in der Jongen Truud das C4 herstellt, besichtigt hat, das heißt: Sie fuhr in dem von Truud gemieteten Audi an der kleinen Fabrik vorbei. Oder hat sie diese Fabrik betreten?«
»Nein, sie hat die Fabrik nicht betreten. Sie fuhr langsam an der Fabrik vorbei, so wie ich das auch gemacht habe. Mir kam sogar die Idee, dass sie vielleicht nur sehen wollte, wo das C4 hergestellt wurde. Dann dachte ich, dass das Unsinn ist, denn warum sollte sich eine Frau eine Fabrik für Sprengstoff von außen ansehen wollen? Sie ist an dem Stoff interessiert, nicht an drei tristen Fertigungshallen. Mir kam auch die Idee, dass sie vielleicht eine Agentin ist, die so vorgeht, wie wir das tun. Ich habe auch gedacht, dass sie möglicherweise für irgendeine Staatsanwaltschaft arbeitet, die eine Klage vorbereitet. Eine Klage gegen den Hersteller Jongen Truud.«
»Sie sind fasziniert von dieser Figur, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete Dehner. »Unbedingt. Sie ist jemand, bei dem ich gern wissen möchte, woher er kommt, welchen Weg er gegangen ist, was ihn beeinflusst hat. Wie kommt eine junge Frau aus Braunschweig dazu, in der Welt herumzureisen und ihre Dienste anzubieten – wofür auch immer?«
»Ja, ja, das ist in der Tat ein Rätsel. Aber mir scheint, Sie haben etwas übersehen, junger Mann.« Krause starrte in seinen winzigen Garten hinaus. »Also, noch einmal in Ruhe: Da kommt eine junge Frau nach Tirana und will eintausend Kilo C4. Schon das ist sehr ungewöhnlich. Sie bekommt das Zeug anstandslos von Jongen Truud, sie zahlt in bar, also etwa achtzig- bis hunderttausend Dollar. Warum das alles?«
»Weil sie gründlich vorgeht«, sagte Dehner.
»Falsch«, sagte Krause mit einem leichten Lächeln. »Weil sie sich kennen: Truud aus Amsterdam und Madeleine aus Braunschweig.«
Dehner hielt seinen Kopf gesenkt und sagte: »Ich Trottel. Natürlich.«
»Dann sollten wir Gas geben«, sagte Krause und drückte einen Knopf. »Sowinski, mein Lieber, schaff mir den Gregor von der CIA in die Leitung. Goldhändchen soll ins Archiv gehen und herausfinden, wo Jongen Truud in den letzten Jahren, bevor er nach Tirana ging, gearbeitet hat.«
»Kommt«, sagte Sowinski blechern aus dem Lautsprecher. »Falls er nicht abgeschaltet ist.«
»Natürlich«, bemerkte Dehner, »sie sehen sich wieder, er erzählt stolz von seiner C4-Fabrik und seinem Auslieferungslager. Und sie fährt diese Stationen ab, um nachzusehen, ob er die Wahrheit sagt.«
»Hier ist Gregor, und er ist schlecht gelaunt«, platzte Sowinski dazwischen.
»Hallo, Kollege«, sagte Krause. »Weißt du was über Ole Bauer? Die Geschichte spielte in Mogadischu.«
»Weshalb willst du das wissen? Und warum kannst du nicht damit warten, bis ich ausgeschlafen habe?«, polterte der Amerikaner.
»Es ist dringend!«
Der CIA-Mann schwieg einen Augenblick. »Unser Ole ist erdrosselt worden. Wir haben keine Ahnung, wer der Täter war, aber wir haben schon früher in Afghanistan auf die gleiche Weise zwei Leute der Drug Enforcement Administration verloren.«
»Sonst noch jemand?«, fragte Krause.
»Ja, noch einer. Ein Koreaner, aus Seoul. Li Nam. Es ging um den Kokainmarkt dort. Ein Beamter von uns war eingeschleust, wir wollten rausfinden, welche der rivalisierenden Banden das Sagen hatte, wer die Preise bestimmte, wer die Kontrolle hatte. Und weil das viel mit Waffenlieferungen und Gegengeschäften zu tun hatte, haben wir es gemacht. Unser Mann war an diesem Li Nam hart dran. Und plötzlich war Li Nam tot. Erdrosselt mit einer D-Saite.«
»Ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte Krause.
»Wie soll das aussehen?«
»Ich bekomme von euch sämtliche Unterlagen, die diese Morde betreffen. Vor allem alle Tatortfotos. Im Gegenzug kannst du dir hier alle Unterlagen über den Folterer Onkel Tobruk in Tripolis abholen, einschließlich aller Briefe und Notizen, die deine Leute in dieser Sache an die Libyer geschrieben haben. Wir haben etwa siebenhundert Seiten in einem Aktenordner und rund vierzig Disketten der guten alten Sorte über das blutige Geschäft des Tobruk.«
Es folgte ein langes Schweigen.
»Ist das dein Ernst?«
»Es ist mein Ernst«, sagte Krause. »Aber du musst selbst kommen, das kann ich keinem Boten anvertrauen.«
»Du hast gute Leute, alle Achtung.«
»Es war eine sehr gute Frau. Die Beste«, sagte Krause zufrieden.
Karl Müller hatte einen Termin beim Arzt vom Dienst.
Er bekam einen neuen Verband und den Rat, die Krücken nicht mehr zu benutzen, eine Schonhaltung zu vermeiden und sich viel, aber vorsichtig zu bewegen. »Und keine Schmerzmittel. Benötigen Sie psychologische Hilfe?«
»Danke, nein, brauche ich nicht.«
»Sie sollten mir aber trotzdem die Gefühle beschreiben, die nach Ihrer Verwundung in Ihnen aufgestiegen sind. Ich muss auch diese Frage stellen.«
»Der alte Mann und die jungen Leute, die mich anschossen, waren sicherlich aus ihrer Sicht im Recht. Ich habe sie bedroht, ich habe den alten Mann angegriffen und auf eine Liege geworfen. Ich muss mich nicht damit auseinandersetzen.«
»Das reicht mir schon, danke«, sagte der Arzt.
Müller rief ein Taxi und ließ sich zu Svenjas Wohnung fahren. Er hatte vor, seine Sachen zu holen und in seine eigene Wohnung zu fahren. Er musste Wäsche waschen und Kleidung in die Reinigung bringen, musste seine Post durchsehen, Rechnungen bezahlen – all die Dinge erledigen, die er so furchtbar öde fand.
Svenja war nicht da, sie hatte ihm eine Nachricht hinterlassen: Muss zum Chef, ich weiß nicht genau, warum. Möglich, dass sie mich gefeuert haben. Anna-Maria hat angerufen, sie klang traurig und nach Chaos. Ruf sie mal an, ich habe es versprochen. S.
Weil er ohnehin wusste, dass er sich nicht verstecken konnte, rief er seine Tochter an.
Seine Exfrau war am Apparat, sie klang erschöpft. »Ich bin vollkommen fertig. Dass du dich auch mal wieder meldest, ist ja echt eine Sensation. Ja, ja, danke der Nachfrage. Anna-Maria ist gut drauf, ich bin gut drauf, alles in Ordnung, keine besonderen Vorkommnisse.«
»Ist Anna-Maria da? Kann ich sie sprechen?«
»Ja, sie ist da. Und versprich ihr nicht wieder, mit ihr ein Eis essen zu gehen. Das hast du schon so oft angekündigt, und nie hat es geklappt.«
»Ich verspreche ihr nichts«, versicherte er.
Dann war seine Tochter am Apparat, es wurde sofort hektisch.
»Können wir uns treffen, Papa?«
»Ja. Wann soll es denn sein?«
»Jetzt.«
»Kannst du denn in die Stadt kommen? Ich meine, du brauchst doch einen Bus oder eine Straßenbahn oder die U-Bahn oder was weiß ich. Und es ist schon fast Abend. Ich meine …«
»Das macht doch nichts«, rief sie begeistert. »Ich darf sowieso bis neun, halb zehn aufbleiben. Das geht doch, Papa.«
»Sag Mama, sie soll dir ein Taxi rufen und dir Geld leihen. Ein Zehner wird reichen. Du fährst bis zum Hauptbahnhof vor den Haupteingang. Ich komme auch dorthin, okay?«
»Ja klar, Papa. Bis gleich.«
Müller bestellte sich ein Taxi, und er war froh, dass er dem Treffen mit seiner Tochter sofort und ohne Wenn und Aber zugestimmt hatte. Er wollte es hinter sich bringen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, hatte wegen dieses Kindes immer ein schlechtes Gewissen gehabt.
Er hinterließ Svenja ebenfalls eine Nachricht, er sei unterwegs mit seiner Tochter und werde sie anrufen.
Er war vor ihr am Hauptbahnhof und sah zu, wie sie aus dem Taxi stieg. Sie ist ein ganz schönes Stück gewachsen, dachte er, und sie ist wirklich hübsch. Sie kam auf ihn zugerannt und schlang die Arme um seine Taille. »Papa!«
»Das ist aber schön«, sagte er. Sie war doch noch ein richtiges Kind. Hoffentlich. Sie war jetzt zehn.
»Wo bist du denn zuletzt gewesen?«, fragte sie atemlos.
»In Tripolis, in Libyen, Nordafrika«, antwortete er.
»Ich habe Mama gesagt, ich wette, dass du da bist. Weil du bist doch immer im Krieg, und das ist immer im Fernsehen.« Ihre zarten Finger mit den grün lackierten Nägeln flatterten aufgeregt durch die Luft, während sie nebeneinanderher gingen.
»Was treiben wir jetzt? Hast du Hunger?«
»Ich muss dich sprechen«, sagte sie mit ernster Miene. »Es ist wirklich dringend. Kann ich nicht bei dir leben, Papa? Zu Hause ist es ganz schrecklich.« Plötzlich sah sie, dass er humpelte. »Was hast du denn?«
»Nur eine kleine Verletzung«, sagte er. »Das ist bald wieder okay. Wieso ist es zu Hause denn schrecklich?«
»Mama hat jetzt diesen Neuen, Ronald heißt der. Er ist ein Arsch, ein richtiger Arsch, Papa. Er ist wirklich übel. Er meckert rum, wo er kann. Dauernd ist es ihm zu laut, weil er immer liest. Fernsehen kann man auch nicht mehr, weil er dasitzt und liest. Wenn Freundinnen bei mir sind, müssen wir auf Zehenspitzen gehen. Ich will da weg. Und er ist arbeitslos.« Sie sprach das letzte Wort voller Verachtung aus. Dann sah Müller, dass sie weinte.
»Das geht leider nicht.« Er bemühte sich um Freundlichkeit und Zuwendung, fühlte dabei langsam Panik aufsteigen und rang um die richtigen Worte. »Ich bin die meiste Zeit irgendwo im Ausland unterwegs, ich bin nur ganz selten in Berlin. Das weißt du doch. Bei mir kannst du nicht leben, weil ich hier nicht lebe.« Wie soll sie das verstehen?, dachte er. Ich war noch nie wirklich für sie da. Sie weiß nichts von mir, ich weiß nichts von ihr.
»Wenn du von irgendwoher zurückkommst, Papa, dann könnte ich für dich kochen. Das ist doch easy.« Sie weinte immer noch.
»Ein Treffer bei meiner Nummer sechzehn«, sagte eine junge Frau ein wenig spöttisch. »Scheint ein Mann zu sein. Er hat keine Ahnung von Frauen und ist der festen Meinung, er hätte alle im Griff. Er spricht davon, dass niemand die Leistungen unserer Kanzlerin zu würdigen weiß.«
»Ich habe hier einen oder eine, die sagt, ihr Vater hätte behauptet, der BND sei in völlige Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Seit sie ihm sogar die Baupläne für das neue Zentrum geklaut haben, könne man vom Geheimdienst nichts mehr erwarten.«
»Hier steht was ganz Tolles«, sagte einer der jungen Männer. »Jemand, der sich Watcher nennt, hat herausgefunden, dass alle politischen Gemeinheiten der letzten Wochen, die sich gegen unsere Kanzlerin richten, ohne Antworten blieben, weil die Frau zu viel zu arbeiten hat und auf die haltlosen Unterstellungen nicht mehr angemessen reagieren kann.«
»Hier steht, dass der mit Abstand größte Gegner des BND seine eigene Rechtsabteilung ist, die jedes Risiko vermeidet und jede echte Agententätigkeit unterbindet. Überschrift: Der BND im Würgegriff der Männer ohne Mumm!«
»Halt!«, schrie eine junge Frau. »Halt das mal fest, bitte. Ich habe hier jemanden, der genau diesen Spruch auf dem Schirm hat. Er nennt sich Wahrer der Wahrheit. Und er sagt, es sei einwandfrei erwiesen, dass der BND ins Ausland geflohene deutsche Wirtschaftsverbrecher als Informanten angeheuert hätte. Er sagt, dass dieses unseriöse Verfahren den Dienst Millionen im Jahr kostet und bisher noch niemals irgendeine wichtige Erkenntnis gebracht hat …«
»Ich habe hier einen geklauten Lkw. Das ist nicht zu fassen. Woher weiß Goldhändchen so was im Voraus? Das kann doch nicht sein.«
»Hier ist jemand, der keinen Namen hat. Er sagt: Der BND leidet seit Jahren unter der Tatsache, dass alle vielversprechenden Spuren im internationalen Geflecht der Terroristen nur von der CIA kommen und nicht mehr von den Franzosen oder Deutschen. Und dass die Engländer es längst aufgegeben haben, überhaupt auf dieser Verdachtsschiene zu sammeln und zu ermitteln.«
Goldhändchen stand plötzlich in der Tür und strahlte sie an. »Ich nehme an, dass euer Geschäft blüht. Kann ich denn erfahren, was ihr herausgefunden habt?«
»Bis jetzt nur das Übliche: ein paar Verrückte, ein paar, die sich wichtigmachen wollen, nichts Besonderes eben, höchstens Spinner.«
»Dann macht mal fein weiter«, sagte Goldhändchen lächelnd. »Und hinterlasst schleimige Spuren. Ihr werdet sehen, dass es sich lohnt und dass ihr nur auf den fettesten Fisch warten müsst. Er wird euch ins Netz gehen, da bin ich ganz sicher. Und achtet bitte auf die magischen Buchstaben AX (d). Das ist das Kürzel, unter dem unser Informant im Rechnungswesen hier im Haus geführt wird. Und niemand, ich wiederhole, niemand darf das wissen oder jemals gewusst haben. Und trotzdem ist es passiert.« Dann verschwand er und zog die Tür ganz leise hinter sich zu.
Als er wieder in seinem Kommandostand vor den Bildschirmen saß, fragte er sich, ob er mit seinen Erkenntnissen noch ein wenig warten sollte. Er fand es bedrückend, dass Krause für sein Alter eine entschieden zu hohe Schlagzahl an Arbeitsstunden hinlegte. Aber dann siegte der Jäger in ihm, und er klinkte sich in die offene Leitung zu Krause ein.
Er sagte knapp: »Ich hätte da was!«
»Na, dann legen Sie mal los«, sagte Krause nach einem Seufzer.
»Erstens hat sich Gregor von der CIA gemeldet. Er lässt ausrichten, dass er den nächsten Flieger nach Europa nimmt und in acht Stunden in Berlin ankommen wird. Er bittet um das Material aus Tripolis in einem Diplomatenkoffer mit Siegel. Er wird keine Zeit haben, das Material zu prüfen. Er sagt, er hat eigentlich gar keine Zeit. Ich habe das gegengecheckt und festgestellt, dass er nur drei Stunden später auf einer Maschine ist, die Berlin–London–Washington geht. Also das Übliche, die ganz normale Hetze. Ich frage mich allerdings, wie Sie beide zusammenkommen. Wie soll das gehen? Gregor zu Ihnen nach Hause?«
»Auf keinen Fall«, entgegnete Krause scharf. »Sagen Sie Gillian bitte, sie soll den kleinen Konferenzraum neben Esser ein wenig herrichten. Und ich brauche Esser und Sowinski zu dem Termin. Ein Wagen soll mich abholen, dann muss ich eben durch die Hintertür reinkommen.«
Goldhändchen lachte.
Krause fragte: »Noch etwas?«
»Ja. Ich habe Madeleine Wagner in Braunschweig recherchiert. Das Material liegt abrufbereit bei Esser. Es existiert eine Mutter namens Ulrike. Sie ist vierundfünfzig Jahre alt. Nach Ansicht des zuständigen Jugendamtes eine unmögliche Person. Sie verkauft Talismane, rostige alte Nägel, Stückchen von roter Koralle, winzige Halbedelsteine, kleine Stoffpuppen, Kreuze aus alten, vertrockneten Baumästen, mit denen man Gegner verhexen kann. Sie behauptet, sie könne in die Zukunft sehen, und es kostet offiziell zweihundert Euro, von ihr empfangen zu werden. Aber notfalls macht sie es auch für einen Zehner. Sie ist arbeitslos, hat keinen Beruf erlernt und lebte nach Auskunft des Jugendamtes in den letzten dreißig Jahren mit grob geschätzt acht bis zehn verschiedenen Männern. Sie wird vom Sozialamt gesponsert. Und sie ist beim nächsten Lidl-Markt und beim ALDI insgesamt vierzehnmal wegen Diebstahls von billigen Nahrungsmitteln aufgefallen. Meistens war es Schokolade; seltener Schnaps.«
»Das hört sich nicht gut an«, murmelte Krause.
»Nein. Aber vielleicht sollten wir besser auf die Dame verzichten«, äußerte Goldhändchen vorsichtig.
»Aus welchem Grund?«, fragte Krause schnell.
»Weil sie eine Ansammlung trivialer Lebensumstände zu sein scheint. Das Übliche eben: Niemals hat irgendwer sie wirklich ernst genommen, also wurde sie eine Hexe oder irgendetwas in der Art. Acht bis zehn Kerle ausprobiert, und keiner war der Richtige. Das ist so mittelmäßig, dass es schon wieder rührend ist. Das klingt nach einem Lebenslauf in der Kanalisation.«
»Das mag so scheinen«, stimmte Krause zu, »aber eigentlich suche ich nach so etwas.«
Sie hatten sich in Bens Kneipe auf die hohen Hocker am Tresen gesetzt und ein paar Kleinigkeiten zu essen bestellt. Mettbrötchen, die legendär waren, kleine Portionen Krabben mit Schwarzbrot und ein halbes Forellenfilet mit ein wenig Meerrettich.
»Sie hat mich richtig aufgemischt«, sagte Müller trocken und wütend. »Sie war so hilflos und hat dauernd geweint, und ich hatte, verdammt noch mal, kein einziges gutes Argument, außer der Versicherung, dass ich sie ohne Zweifel verstehe und dass ich mir sehr gut vorstellen kann, warum sie nicht mehr bei ihrer Mutter leben will. Was hätte ich denn sagen sollen? Und sie hat ganz ernsthaft vorgeschlagen, dass sie für mich kocht, wenn ich von einem Einsatz nach Hause komme. Irgendwann habe ich gedacht, ich müsste gleich selbst heulen. Sie war so ernsthaft, sie hatte diesen ganz großen Kummer. Und ich wusste die ganze Zeit, dass sie nichts von mir weiß und ich eigentlich auch nichts von ihr. Ich habe keine Ahnung, wovon sie träumt, welche Musik sie gern mag, was für ein Leben sie führt, was sie wirklich über ihre Mutter denkt. Nur immer dieser verdammte Ronald, der ihr auf die Nerven geht.«
»Du liebst sie, nicht wahr?«, fragte Svenja leise.
»Ja, Gott sei Dank, das habe ich deutlich gespürt.«
»Und dann kam deine Wohnung.«
»Dann kam die Wohnung. Ich wusste nicht, wohin mit ihr, ich hatte keine Lust auf Eis essen, und sie wollte auch nirgendwohin, sie wollte einfach nur über diesen Kummer sprechen, verstehst du? Dann weinte sie dauernd, und ich dachte, alle Leute, die uns begegnen, sehen das und denken weiß Gott was. Da habe ich gesagt: Komm, wir fahren in meine Wohnung, da können wir in Ruhe weiterreden. Also haben wir ein Taxi genommen und sind hingefahren. Wir gehen das Treppenhaus hoch, und da sehe ich, dass die Wohnungstür nur angelehnt ist. Die Wohnung war offen, das Schloss war herausgestemmt. Ich glaube, ich habe ziemlich blöd geschaut. Wir sind rein. Dann habe ich gesehen, dass die Wohnung auseinandergenommen worden war. Sie haben schlicht alles durchsucht und wahrscheinlich nichts gefunden. Sämtliche Schubladen auf den Boden entleert, sogar in der Küche. Sie haben sämtliche Polster und Kissen aufgeschlitzt. Die Bude ist ein einziges Trümmerfeld. Ich bin nach Standard vorgegangen, habe Sowinski kontaktiert, weil das Vorschrift ist. Er hat mir Leute geschickt, und die haben uns weggeschickt. Anna-Maria hatte natürlich schreckliche Angst. Ich habe uns ein Taxi gerufen und bin mit ihr zu meiner Ex gefahren. Das Mädchen war total verwirrt. Ich musste ihr versprechen, mich sofort zu melden, wenn ich irgendetwas weiß. Es war ein richtig schöner Tag, verdammte Scheiße.«
»Haben die wirklich was gesucht?«, fragte Svenja.
»Nein«, antwortete er. »Wer immer diese Leute sind: Sie wollen etwas demonstrieren, sie wollen sagen: Wir haben dich identifiziert, wir wissen, wer du bist und was du tust. Es ist dieselbe Geschichte wie mit dem Foto von uns beiden. Ich habe keine Ahnung, was dahintersteckt, aber es sieht nicht harmlos aus, wir sollten uns Sorgen machen.«
»Hat Sowinski schon angerufen?«
»Nein. Aber er sagte, er wird die Polizei hinzuziehen. Das muss er schon aus versicherungsrechtlichen Gründen. Er lässt eine neue Tür einsetzen und basta.« Müller hob den rechten Arm. »Ben, kann ich noch ein Pils haben?«
»Dann gehen wir fröhlichen Zeiten entgegen, und ich kann darauf warten, dass jemand meine Wohnung verwüstet.« Svenja seufzte. »Vielleicht sollten wir eine Hotelsuite nehmen. Ich frage mich, was da im Hintergrund abläuft. Ich glaube nicht mehr, dass das alles nur mit Atze zu tun hat. Ich glaube viel eher, dass jemand daran arbeitet, unseren Präsidenten aus dem Amt zu schießen, und natürlich auch Krause, Esser und Sowinski. Irgendjemand will die große Veränderung, den ganz großen, neuen Anfang. Und die Chance dazu bekommt er nur, wenn er alles, was steht und funktioniert, kaputtmacht, irgendwie.«
»Das denke ich auch.« Müller nickte. »Haben sie dich jetzt eigentlich gefeuert?«
»Nein, haben sie nicht. Krause sagt, sie werden mich abmahnen. Er meint, ich soll mich einfach aus allem heraushalten. Ich habe ihm diese Dealernummer erklärt, und er sagte, er habe sich das genauso vorgestellt. Er war ganz merkwürdig, beinahe irgendwie unsicher. Nicht unsicher bei mir, da war er klar. Aber unsicher, was ihn selbst anbelangt. Er sagte, die Rechtsabteilung werde ihn anhören, er sagte auch, sie würden dich anhören, und natürlich auch Dehner. Und wenn ich ihn richtig verstanden habe, geht es bei ihm darum, ob er mich erstens verteidigt, und zweitens, ob er mich unbedingt halten will. Wenn er sich dazu entschließt, dann haben die unbekannten Gegner ein echtes Problem. Ich war so glücklich, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich habe gedacht, ich sitze bei meinem Papa und darf Weihnachtsgeschenke aufpacken.« Sie wischte sich über die Augen.