ERSTES KAPITEL

Karl Müllers Stimme kam keuchend mit einem Rauschen im Hintergrund und war kaum zu verstehen.

»Ich habe noch immer keinen Kontakt zu Quelle Sechs.«

»Er hat sich auch hier nicht gemeldet«, erwiderte Sowinski. »Tut mir leid, Junge. Wir nehmen an, er ist tot, in irgendeinem Gefecht erschossen oder schlicht von den Rebellen massakriert. Vielleicht sogar von den eigenen Leuten, weiß der Teufel. Soll ich dich zurückholen, hast du die Nase voll?«

Immer wenn er einen Agenten direkt steuerte, war es unvermeidlich, dass er ihn duzte. In einer Konferenz war er deswegen einmal scharf angegriffen worden, hatte den Vorwurf fehlender Distanz zu Untergebenen aber wütend zurückgewiesen. »Sie sind einsam da draußen. Ich bin in einer solchen Situation schließlich so was wie ihr Vater, verdammt noch mal!«

Müller war seit vierundzwanzig Stunden in der Stadt, er antwortete gelassen: »Dafür ist es zu früh, ich will noch nicht aufgeben. Heute Morgen hatte ich so was wie eine Erscheinung, ich habe gedacht, mich laust der Affe. Ich habe Atze gesehen.«

»Wie bitte? Wo denn?«

»In meinem Hotel, hier in Tripolis. Er hatte allerdings keine Haare mehr, stattdessen eine spiegelglatte sonnengebräunte Birne. Aber kein Zweifel: Er war es! Und er hatte eine junge Frau bei sich. Schön, schlank und ein bisschen wie aus der Retorte, mindestens zwanzig Jahre jünger als er.«

»Hat er dich erkannt?«

»Nein, ich glaube nicht. Er wirkte irgendwie abgehetzt und nicht sehr konzentriert. Er wird den Libyern in diesen Tagen die ganze Welt verkaufen, von Toilettenpapier bis zu Kühlschränken. Aber in erster Linie den ganzen Krankenhauskram, und natürlich Computer, vor allem billige und gebrauchte. Im Chaos läuft er immer zu Hochform auf.«

»Wo genau bist du jetzt?«

»In Gaddafis heiligem Bezirk, auf dem Gelände seines Palastes. Da gibt es eine Reihe von Garagen. Keine Autos mehr drin, aber Leichen, jede Menge Leichen …«

Müllers Stimme versagte, und Sowinski wartete geduldig.

»Sorry«, sagte Müller schließlich, jetzt war er besser zu verstehen. »Aber in den Garagen ist er auch nicht. Gaddafis Leute haben jeden Rebellen oder alle, die sie für Rebellen hielten, einfach sicherheitshalber ohne Anhörung erschossen und weggeräumt. Quelle Sechs kann überall sein. Ist er jemand, der sich den Rebellen anschließen würde?«

»Sein Psychogramm gibt das eigentlich nicht her. Er war schon immer Teil der Machtstruktur. Wir haben uns auch gewundert, dass er sich nicht meldet, obwohl seit Urzeiten festgelegt ist, dass er bei jeder persönlichen und politischen Umstellung eine Eilmeldung absetzt. Quelle Sechs ist ein Familientier, seine erste Sorge gilt immer dem Clan. Wie ist die Lage?«

»Sie sagen, die Rebellen wollen jetzt Sirte ausräuchern, weil der große Sohn der Nation da geboren ist. Gaddafi wird dort von ihnen vermutet. Wir wissen mit Sicherheit, dass er da ist. Ich sehe häufig Kampfjets, sie greifen hier an, aber sie kommen auch vom Mittelmeer rein und stoßen auf Sirte, auf die Raffinerien und Öllager runter. Das sagen die Quellen hier, aber keine ist wirklich gut. Sirte wird die nächste Schweinerei werden, denn die Regulären, die noch bei Gaddafi ausharren, haben nichts zu verlieren, und sie glauben fest daran, dass sie ehrenhaft sterben. Habe ich endlich die Erlaubnis, die private Villa von Nummer Sechs anzulaufen?«

»Hast du. Wir sollten jetzt Schluss machen«, entschied Sowinski. »Diese Handys sind nach zwei Minuten zu orten. Scheißtechnik. Ich melde mich gegen Abend wieder. Oder, besser noch: Du rufst mich, wenn es bei dir acht Uhr ist. Nur über Festnetz. Und geh keine Risiken ein.«

»Haha«, sagte Müller höhnisch. »Sie Scherzbold!« Dann kappte er die Verbindung.

In etwa zweihundert Metern Entfernung sah er so etwas wie einen großen grünen Fleck, eine Oase, die in der Hitze flirrte. Niedrige grüne Bäume oder Büsche. Das war genau das, was er brauchte: auf dem Rasen liegen und Erde riechen.

Er hatte in der letzten Garage sechs Tote im Zustand fortgeschrittener Verwesung vorgefunden. Als er eine der Leichen umgedreht hatte, um ihr Gesicht sehen zu können, sorgten die entweichenden Fäulnisgase dafür, dass er sich auf der Stelle übergeben musste.

»Ich stinke wie ein Schwein«, sagte er laut und machte sich auf den Weg.

Das Grün war eine Illusion, das mickrige Gras unter den Büschen voller Glasscherben und Holzsplitter. Jemand hatte sehr viele alte, blutige Verbände liegen lassen. Das Blut war braun. Da lag eine menschliche Hand, abgerissen im Gelenk. Hier ein riesiger beigefarbener Ledersessel, neu, durchaus elegant und mit Sicherheit teuer, vollkommen in Streifen aufgeschlitzt, als habe man Gaddafi verdächtigt, ein paar Dollarscheine in dem Möbel versteckt zu haben.

Verblüfft stellte er fest, dass er plötzlich Hunger und Sehnsucht nach einer Tasse Kaffee hatte, aber er konnte unmöglich in diesen verdreckten und stinkenden Kleidern in sein Hotel in der Innenstadt zurück. Er konnte sich so nicht einmal in ein Taxi setzen. Es war schon absurd: Hier hockte er in Gaddafis Palast in Tripolis auf einem miesen Stück besudelten Rasens und machte sich Gedanken über sein Outfit. Dann begann er leise zu lachen, weil er sich vorstellte, wie er in diesem Palast etwas zum Anziehen auftrieb. Am besten eine dieser größenwahnsinnigen Uniformen, die Gaddafi für sich hatte erfinden lassen.

Karl Müller, designed by Gaddafi.

Langsam machte er sich auf den Weg, um eine Straße mit viel Verkehr zu suchen. Er musste unbedingt einen Laden finden, in dem er ein paar einfache Klamotten kaufen konnte.

Er sah eine kleine Gruppe von Männern mit Kalaschnikows schnell auf ein Gebäude zugehen. Er hoffte, dass sie ihn nicht bemerkt hatten, aber die Hoffnung zerstob in Sekunden.

Eine schmale Gestalt löste sich aus der Gruppe und kam auf ihn zu. In schnellem Lauf nahm der Junge die Kalaschnikow erst quer vor den Bauch, dann seitlich und schrie auf ihn ein: »Stehen bleiben! Bleib gefälligst stehen!«

»Immer mit der Ruhe«, sagte Müller laut auf Arabisch. »Ich bin ein Freund, Mann. Beruhige dich.«

»Was willst du hier?«, fragte der Junge. Er war vielleicht sechzehn Jahre alt. Seine Stimme war zittrig und klang leicht hysterisch. »Hast du etwa den großen Schweinehund gestützt?«

»Ich schaue mich hier nur um, ich bin neugierig, ich war noch nie hier«, sagte Müller. Dann nahm er die Plastikkarte, die vor seinem Bauch baumelte, und hielt sie dem Jungen hin. »Du kannst nachsehen, alles okay.«

Der Junge schaute auf die Plastikkarte und sagte: »Überall die gleiche Scheiße. Jeder hat so eine Karte. Was soll das? Woher hast du diesen Ausweis?«

Müller sah ihn mit festem Blick an: »Deine Leute haben mir den Ausweis gegeben. Ich bin nicht dein Feind.«

»Wer mein Feind ist, bestimme ich«, bellte der Junge zornig. Aber seine Wut war gebrochen, er konnte Müller schon nicht mehr in die Augen schauen und wandte sich ab, weil er im Grunde hilflos war. Dann setzte er sich in Trab, um seine Gruppe wieder einzuholen.

Müller atmete ein paarmal tief durch. Man konnte in dieser Stadt sehr schnell sterben, einfach so, ganz ohne Grund.

Er war unter einer der ständigen Legenden unterwegs, die für solche Zwecke gedacht waren: Dr. Kai Dieckmann, Sicherheitsberater der Bundesrepublik Deutschland. Das stand auch auf dem Plastikschildchen, das er an einem langen schmalen Baumwollband um den Hals trug, gestempelt von der vorläufigen Verwaltung der Rebellen. Er hatte eine ausreichende Menge an US-Dollar in seinem Gürtel und trug im Rückenfach seiner beigefarbenen Anglerweste aus Sicherheitsgründen einen 38er Colt Special, obwohl er diese Waffe nicht mochte: Sie war zu klein, und es war nicht einfach, damit sicher zu treffen.

Er ging im Palastbereich von Gaddafi über schier endlose schmale Asphaltpisten, vorbei an kleinen und großen Gebäuden, Ummantelungen von Klimaanlagen und offen stehenden Einstiegen in das Bunkersystem des Palastes bis zu einem großen schmiedeeisernen Tor, das entweder durch Beschuss oder aber von einem aufgebrachten Mob aus den Angeln gerissen worden war. Dann stand er auf einem Gehsteig, vor sich eine Straße, auf der dichter Verkehr brauste. Er hielt einfach den rechten Daumen nach oben.

Beinahe augenblicklich stoppte ein Taxi, der Fahrer öffnete die Tür und sagte irgendetwas Unverständliches, wahrscheinlich in irgendeinem Dialekt dieser Stadt.

Müller beugte sich zu ihm hinunter und erklärte auf Arabisch, er sei dreckig und stinke nach Tod, und der Mann möge das nicht übel nehmen. Ob er ihm wohl neue, einfache Kleidung besorgen könne. Der sehr junge Fahrer nahm die angebotene Hundertdollarscheine und antwortete mit steinernem Gesicht, er würde das gerne tun und ob Müller so freundlich sein wolle, hier zu warten.

Mit Sicherheit würde er unterwegs anhalten und die Banknote einer genauen Betrachtung unterziehen. Echt oder nicht echt?

»And I need underwear!«, erklärte Müller mit erhobenem Zeigefinger.

Der junge Mann nickte lächelnd: »Okay, okay!«, und gab Gas.

Müller setzte sich auf einen großen, gelben Sandstein, der auf dem Gehsteig neben dem zerstörten Tor lag, und zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise rauchte er nicht, aber Männer, die rauchten, signalisierten überall auf der Welt eine gewisse Sorglosigkeit. Nur deshalb trug er immer ein Päckchen in seiner Weste bei sich.

Erfahrungsgemäß war das Risiko, von dem jungen Taxifahrer betrogen zu werden, nahe null, richtige Kerle helfen einander. Und wo hundert US-Dollar riskiert wurden, um an lächerliche Billigkleidung zu gelangen, würde noch mehr zu holen sein.

Müller sah eindeutig europäisch aus wie all die unzähligen Journalisten, die auftragsgemäß zu beobachten hatten, wie Gaddafis Reich zerfiel. Er sah so aus wie all die Menschen ohne Namen, die im Laufe der Rebellion in diese Stadt gekommen waren und jetzt vom frühen Morgen bis spät in die Nacht irgendwelchen dunklen Aufträgen nachgingen, von denen sie so wenig wie möglich preisgaben. Irgendwann würden sie wieder verschwinden, und mit wenigen Ausnahmen würde sich kein Mensch an sie erinnern. Krise und Bürgerkrieg waren ihr Job.

Müller hatte einige CIA-Leute erkannt, ein paar Frauen und Männer des chinesischen Geheimdienstes, Männer des englischen MI6, Frauen und Männer des Geheimdienstes der Franzosen. Und zu seiner Erheiterung auch reichlich Personal des israelischen Mossad, das hastig irgendwelche Aufgaben hinter sich brachte, um bereits nach wenigen Stunden wieder ausgetauscht zu werden. Blitzschnell und ohne Spuren zu hinterlassen.

Einer von ihnen, ein schmaler Vierzigjähriger, war beim Frühstück hinter seinem Rücken vorbeigestrichen und hatte ihm leicht eine Hand auf die Schulter gelegt. »Mach deine Sache gut, Bruder!«, hatte er geflüstert.

»Wie immer«, hatte Müller geantwortet, und sie hatten beide gegrinst.

Müllers Haar war schütter, sandfarben, dünn, wahrscheinlich würde er spätestens mit fünfzig eine Glatze haben, jetzt war er vierundvierzig. Sein Gesicht war rundlich mit hellen grauen Augen und einem schmalen Mund. Er war knapp eins achtzig groß, schlank, körperlich in Höchstform, und er wirkte ungemein freundlich, wie alle Männer, die ein Kind liebevoll anschauen können. Müller hatte selbst ein Kind, und er wusste nicht, wie das Kind dachte und fühlte. Das machte ihn unsicher, manchmal muffig und wortlos. Er war nicht fähig, darüber zu reden, und gelegentlich kam es vor, dass er seinen Beruf dafür verantwortlich machte. Gleichzeitig wusste er, dass es ganz so einfach nicht war. Es war wohl so, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er heiratete und Vater wurde. Für Agenten war ein bürgerliches Leben nicht geeignet. In ihrer Welt gab es einfach keinen Raum für herkömmliche Lebensweisen. Seine Tochter war jetzt zehn, und es bedrückte ihn, dass er so gut wie nichts von ihr wusste, nichts von ihrem Leben, nichts von ihren Wünschen, nichts von ihren Träumen. Er nannte ihre Mutter nur »meine Ex«, und auch von deren Leben wusste er sehr wenig. Selbst die Tatsache, dass er brav für dieses Kind bezahlte, machte die Sache nicht besser.

Er hatte viele Jahre in dem steten Bemühen verbracht, ungeheuer durchschnittlich und langweilig zu wirken, und die meisten Menschen, denen er begegnete, vergaßen ihn auch sofort wieder. Er war nichts als ein freundlicher, farbloser Mann.

Das Libyen dieser atemlosen Tage war ein Land der steinernen Gesichter, und noch herrschte Krieg. Niemand hier wusste, was morgen sein würde. Falls eine Stadt für Müller genau richtig war, so war es diese hier – Tripolis.

Der Taxifahrer kam nach einer guten halben Stunde zurück. Er rumpelte der Einfachheit halber mit seinem alten Toyota gleich auf den Gehsteig. Als er Müller drei sandfarbene Leinenhosen, drei T-Shirts in Militärgrün und zwei Garnituren Unterwäsche durch das heruntergekurbelte Fenster reichte, sagte er: »You can do it in my car!«

»Nein, nein, lass mal«, winkte Müller ab, »ich stinke wie der Teufel.« Er verschwand lieber hinter dem Tor und zog sich dort rasch um. Die Hosen waren etwas zu lang, er krempelte sie hoch. Die verdreckte und stinkende Kleidung ließ er einfach liegen. Nur die Weste nahm er mit. Sie war das Kleidungsstück, auf das er nicht verzichten konnte. Darin steckten drei sehr spezielle Handys, ein Satz Papiere, etwas Kleingeld, eingenäht für den Krisenfall zehntausend amerikanische Dollar, eine zweite klobige Brille, die seine Nacht zum grünen Tag machen konnte. Darüber hinaus ein paar chemische Hilfen wie ein starkes Schmerzmittel und ein höllisch aufputschendes Speed, vor dem er sich geradezu fürchtete – und natürlich die Zigaretten.

Schließlich setzte er sich in das Taxi und bekam von dem Fahrer einen Fünfzigdollarschein gereicht. »Das ist das Wechselgeld«, sagte der Junge.

»Gehört dir«, sagte Müller und gab sein Fahrtziel an.

Vor dem Hotel fragte er den Fahrer, ob er bereit sei, ihn in zwei Stunden wieder abzuholen und ihm dann etwa zwei bis drei Stunden lang zur Verfügung zu stehen. Der Junge nickte und sagte, er werde da sein.

Müller durchquerte die Eingangshalle, benutzte nicht den Lift, sondern rannte die Treppen hoch zu seinem Zimmer im dritten Stock. Er zog sich aus und stellte sich unter die Dusche. Obwohl er sich mehrmals von Kopf bis Fuß eingeseift hatte, war er immer noch überzeugt, nach der Garage der Toten zu riechen, und er wusste, dass das einige Zeit so bleiben würde. Der Geruch der Vernichtung ließ sich nicht so einfach abwaschen.

Er legte sich auf das Bett und dachte an Svenja, überlegte, ob er sie anrufen sollte. Aber er wusste, dass ihm wieder einmal die richtigen Worte fehlen würden, und er ließ es sein.

Gillian kam über Lautsprecher: »Hier ist der Stellvertreter, der Neue von den Haushältern, Chef. Er will ein Informationsgespräch.« Gillian kicherte leise. »Sein Spitzname ist hohle Nuss.«

»Ich habe noch nie eine hohle Nuss empfangen«, murmelte Krause nicht sonderlich konzentriert.

»Dann ist das eine Premiere«, stellte Gillian fest und lachte. »Der Mann hat das seinen Initialen zu verdanken, er heißt Herbert Nieswandt. Er ist schon ein paar Monate hier, macht mächtig Dampf und findet alles Mögliche unmöglich. Er macht sich die ganze Zeit übel bemerkbar, er kritisiert sogar, dass ein paar Leute in den Pausen runter unter die Bäume gehen, um diskret eine Zigarette zu rauchen. Er wünscht sich eine Stunde bei Ihnen.«

»Sagen Sie ihm, das ist zu viel. Mehr als zwanzig Minuten sind nicht drin. Wann?«

»Am besten jetzt. Dann haben Sie es hinter sich. Und anschließend Müller in Tripolis?«

»Also jetzt«, seufzte Krause. »Und anschließend Müller.«

Der Mann, der in sein Büro kam, war klein, hager und drahtig. Es war exakt der Typ, den Krause durchaus verächtlich Erbsenzähler nannte.

Man konnte sich vorstellen, dass der Mann morgens gegen fünf Uhr aufstand, sich in einen hässlichen, aber teuren Trainingsanzug warf, um dann fünf Kilometer zu rennen. Anschließend würde er duschen, danach eine Scheibe Vollkornknäckebrot mit einem halben Glas Milch zu sich nehmen und peinlich genau darauf achten, jeden Bissen sehr lange und gründlich zu kauen, sodass ein gesunder Speichelfluss gesichert wurde, der wiederum den gesamten Tag beeinflussen konnte.

Zwanghaft, dachte Krause. Vorsicht, zwanghaft!

»Mein Name ist Herbert Nieswandt«, erklärte der Mann leise. »Wir sind uns vor Wochen kurz begegnet, als ich hier eingeführt wurde.«

»Das ist schön«, dröhnte Krause. »Machen wir es uns doch bequem. Gillian, wir möchten bitte einen Kaffee. Und? Zufrieden hier mit uns?«

»Ja, doch, im Großen und Ganzen schon.«

»Gut«, sagte Krause. »Was kann ich denn für Sie tun?«

»Ich hätte da ein paar Fragen, Herr Doktor«, sagte der Mann, den man hohle Nuss nannte. »Da ist ein Problemfeld, das ich nicht verstehe.«

»Fragen Sie«, ermunterte ihn Krause. »Fragen sind das Salz des Lebens. Problemfelder wohl auch.«

Sie setzten sich in die Sitzgruppe aus schwarzem Leder, und Gillian brachte ihnen den Kaffee. Sie warteten, bis sie gegangen war, dann sagte Krause: »Also, mein Lieber. Tun Sie sich keinen Zwang an.«

»Wir haben da Agenteneinsätze, also das, was wir haushälterisch als AiE bezeichnen. Und Sie sind Chef der Operationen, Sie machen die Planungen, Sie legen die Dauer und die Wege fest.« Er machte eine kurze Pause und lächelte leicht. »Wenn ich das alles richtig sehe. Sie treffen die Entscheidung, Sie bestimmen, wie das läuft. Dabei entstehen hohe Kosten, außerordentlich hohe Kosten, wie ich meine. Könnte man diese Einsätze nicht stark verringern?«

»Das könnte man nicht«, sagte Krause und dachte resigniert: Schon wieder einer, der das Rad neu erfindet! »Anders gefragt: Wie sollen wir Ihrer Meinung nach die hohen Kosten denn vermeiden?«

»Wir haben Residenten des BND an den Botschaften. Einheimische, die uns über die aktuelle politische Lage informieren. Die könnten doch vieles vor Ort erledigen? Dadurch wären fast fünfzig Prozent der Kosten dieser Einsätze vermeidbar. Übers Jahr gesehen geht es dabei um viele Hunderttausende.«

»Sie bewegen sich jetzt auf dünnem Eis«, sagte Krause gefährlich leise und starrte auf seine Schuhe. Dieser Vorschlag kam mit jedem neuen Erbsenzähler erneut auf den Tisch. Es war weniger ein konstruktiver Vorschlag als ein lächerliches Mantra.

»Ich will es nur verstehen«, sagte der Mann sanft wie ein Lamm.

»Agenten sind absolute Spezialisten«, erklärte Krause geduldig. »Sie sind für Einsätze im Ausland ausgebildet. Sie sprechen mehrere Sprachen, ihr Wissen ist breit gefächert, sie sind in körperlicher Höchstform, und sie stehen extreme Situationen durch. Es sind Situationen, in die Sie und ich niemals geraten dürften, weil wir sie nicht überleben würden. Und sie sind geschult auf die besonderen Umstände, die jeder Informant bedeutet. Kein Resident kann Agenten ersetzen, die Leute in der Botschaft schon gar nicht. Sie haben andere Dinge zu erledigen, zum Beispiel wichtige Beurteilungen ihres Gastlandes zu liefern, die wiederum von den Agenten gebraucht werden. Ich erwähne das nur, weil Sie nicht zu wissen scheinen, über was Sie eigentlich mit mir reden wollen.« Dann wedelte er kurz mit beiden Händen. »Diese Agenten, mein Lieber, von denen Sie nichts zu wissen scheinen, halten im Dienst dieses deutschen Gemeinwesens ihren Arsch hin, um es mal poetisch auszudrücken.«

»Ich will lediglich mit Ihnen gemeinsam Geld sparen«, bemerkte Herbert Nieswandt. Seine dunklen Augen wirkten völlig leblos, wie Steine.

»Weiß Ihr Vorgesetzter, dass Sie mich in dieser Sache kontaktieren?«, fragte Krause scharf.

»Nein. Aber das muss er auch nicht.«

»Das muss er sehr wohl«, sagte Krause wütend. »Tut mir leid, aber für derartige Diskussionen sehe ich keinerlei Anlass.« Krause stand auf und setzte hinzu: »Ich nehme zu Ihren Gunsten an, dass Sie einfach mal auf den Busch klopfen wollten. Ausgerechnet auf einem Sektor, von dem Sie offensichtlich keine Ahnung haben. Das ist leider fehlgeschlagen.«

»Da ist noch etwas«, sagte Nieswandt leise und ohne erkennbare Regung. Er saß jetzt weit zurückgelehnt und hatte den Kopf ein wenig eingezogen, als würde er einen Angriff befürchten. »Es gibt da in den Einzelabrechnungen wiederholt einen Posten unter der Bezeichnung AX (d). Da sind einmal vierzigtausend Euro eingesetzt, dann dreimal sechzigtausend Euro, dann einmal hunderttausend, also insgesamt dreihundertzwanzigtausend Euro binnen drei Jahren. Und das in bar! Ich nehme an, dass es sich bei der Bezeichnung um einen Mann namens Arthur Schlauf handelt, der als international agierender Kaufmann bekannt ist, ohne eine feste Adresse. Er wird von einigen deutschen Finanzämtern wegen Steuerhinterziehung gesucht. Er ist des Weiteren unter der Bezeichnung ›großer Leichenfledderer‹ bekannt, weil er nach Katastrophen, Krisen und Kriegen in den jeweiligen Ländern auftaucht, um sämtlichen nur erdenkbaren Schund zu verkaufen, von Aspirin bis hin zu Lokusbürsten. Er hat eine, gelinde ausgedrückt, streng riechende und unangenehme Nähe zu unserer Regierung und der Kanzlerin und …«

»Stopp!« Krause war schnell aufgestanden und hatte beide Hände ausgebreitet, als würde er bedroht. Aber er sprach plötzlich sehr sanft. »Bevor Sie anfangen, über Dinge zu sprechen, von denen Sie absolut keine Ahnung haben können, sage ich Ihnen, dass ich den von Ihnen angesprochenen Mann nicht kenne, nicht einmal eine Ahnung von seiner Existenz habe. Tun Sie sich jetzt den Gefallen und verschwinden Sie ganz schnell aus meinem Büro.« Er zeigte mit einem kurzen, dicken Zeigefinger auf die Tür seines Büros. »Raus hier!«

Nieswandt erhob sich und verließ mit steinernem Gesicht den Raum.

Krause drückte eine Taste: »Gillian, ich brauche Esser und Sowinski. Jetzt.«

Sie kamen nach zwei Minuten, und sie sahen aus wie Männer, die hier zu Hause waren, was der Realität genau entsprach. Sie trugen beide einfache karierte Hemden und darüber ausgebeulte, offensichtlich uralte Strickwesten. Der eine in Blau, der andere in Grün.

Der eine war einundsechzig Jahre alt, der andere vierundfünfzig.

Esser sagte noch in der Tür erwartungsvoll: »Ich vermute, sie haben Gaddafi.«

»Irrtum. Ich verlasse vorübergehend dieses Haus«, bemerkte ihr Chef leise. Sein Gesicht wirkte auf einmal hager, obwohl er ein fetter kleiner Mann war.

Es kam keine Gegenfrage. Sie setzten sich.

»Wir haben einen neuen Haushälter hier, der mich gefragt hat, ob einige Zahlungen unter einem bestimmten Code unseren Freund Atze betreffen. Ich denke, das wirkt zunächst wie ein blödsinniger Angriff auf meine Integrität. Aber es ist wohl ein Generalangriff auf diese Abteilung hier, wenn nicht noch viel mehr. Das ist sehr hinterhältig, wie ich betonen möchte, durchaus eine Schweinerei. Aber trotzdem sollten wir ganz schnell untersuchen, wie ausgerechnet ein neuer Haushälter auf diesen Namen kommen kann und den auch noch aus den rechnerischen Belegen als Kürzel kennt. Ich benachrichtige den Präsidenten schriftlich, dann gehe ich heim.«

»Du hast gerade sechs Agenten draußen, wie soll das denn gehen?«, fragte Sowinski. Es klang nicht anklagend, sondern war eine ganz sachliche Frage. Schließlich war es eine oft bewiesene Tatsache: Allein Krauses Stimme in einem kurzen Telefonat konnte Agenten im Einsatz wieder ruhiger atmen lassen.

»Das müsst ihr übernehmen, was sonst?« Unvermittelt setzte er laut hinzu: »Gillian, wir möchten drei große Cognac. Und Puddingteilchen.«

»Müller hat Atze in Tripolis gesehen«, sagte Sowinski. »Heute, im Hotel.«

»Wie kann dieser idiotische Mensch überhaupt auf Arthur Schlauf kommen? Wer könnte da irgendetwas gesagt haben? Wir haben bar bezahlt, oder? Ist Schlauf jemals mit Klarnamen vorgekommen?« Krause hielt die Augen halb geschlossen, er schien am Ende seiner Weisheit.

»Niemals«, sagte Esser, »niemals hat irgendeiner in dieser Etage den Namen erwähnt. Und Goldhändchen, unser Computergenie, sicherlich auch nicht. Also wer, verdammt noch mal?« Dann lächelte er unvermittelt und fragte erheitert: »Du hast diese Euroerbse beleidigt, nicht wahr?«

»Ein bisschen«, gab Krause trocken zu. »Wo kommt der eigentlich her?«

»Das können wir herausfinden«, sagte Esser. »Vielleicht ist er ein Trojaner, vielleicht ist er jemand, der irgendeinen anderen im Haus beerben möchte? Vielleicht einer, der den Weg irgendeines anderen vorbereitet? Hat er sich so benommen?«

»Er setzte sich da auf den Sessel, wirkte klein und unscheinbar und forderte mich auf, mit ihm zusammen zu sparen, in meinem Budget. Und dann kam plötzlich die Erwähnung Atzes. Wer hat Atze eigentlich abgeschöpft und bezahlt?«

Die beiden Männer wussten, dass Krause hochgradig erregt und wütend war, aber er zeigte es nicht, weder durch die Stimmlage noch durch seine Mimik.

»Es war immer Müller«, antwortete Sowinski schnell. »Die beiden kommen gut miteinander aus. Atze ist ein gerissener Hund, und Müller manchmal auch.«

»Und wo wurde er bezahlt?«

»Niemals im Inland«, sagte Sowinski. »Immer draußen. Meistens Asien, einmal Washington. Und immer in Dollar. In Deutschland ist er nur vorübergehend mal aufgetaucht, wenn er seinen alten Vater besucht hat. Aber wir haben ihn hier niemals kontaktiert und auch niemals mit ihm gesprochen.«

Gillian kam mit dem Cognac und den Puddingteilchen und stellte alles vor ihnen ab, dann verschwand sie wieder.

Sie tranken einen Schluck.

Krause nahm ein Puddingteilchen und biss hinein. Dann erklärte er mit vollem Mund: »Das stelle man sich einmal vor: Er hat von einer unangenehmen, streng riechenden Nähe Atzes zu unserer Regierung und der Bundeskanzlerin gesprochen. Wie lange ist das eigentlich her?«

»Die Beleidigung?«, fragte Esser. »Da war sie gerade gewählt. Also nur ein paar Jahre. Kann es nicht sein, dass diese Geschichte von irgendjemandem im Kanzleramt gesteuert wird? Haben wir da einen Intimfeind?«

»Todsicher sogar. Das ist jetzt aber scheißegal«, stellte Sowinski resolut fest. »Was machen wir? Du gibst dem Präsidenten Nachricht und gehst heim. Was machen wir mit Atze? Lassen wir ihn sterben?«

»Niemals«, reagierte Esser schnell. »Der Mann ist viel zu gut, als dass man ihn sterben lassen könnte. Sollten wir Goldhändchen nicht überreden, sich mal in ein paar Rechner zu hacken?«

Krause nickte bedächtig. »Goldhändchen soll sofort damit beginnen, und er soll niemanden ausnehmen, nicht einmal das Kanzleramt. Gleichgültig, woher es kommt: Wir gehen auf dieses Problem nicht ein, wir reagieren mit Hochmut und satter Arroganz. Wir blinzeln nicht einmal, wenn jemand uns darauf anspricht. Und wenn ihr hausintern gefragt werdet, wer diese hohle Nuss ist, dann sagt einfach, ihr kennt ihn nicht und habt auch keine Lust, ihn kennenzulernen. Und ich werde Müller sagen, er soll mit Atze in Tripolis reden, nur auf den Busch klopfen. Atze muss gewarnt werden. Sonst noch was?«

»Dann muss ich dich in deinem trauten Heim technisch aufrüsten«, sagte Sowinski. »Drei, vier Handys, direkte Funkstrecke, offene Leitung, automatische Überwachung aller Geräte, Laserabschirmung aller Außenwände deiner Luxusvilla und so weiter und so fort. Da kannst du endlich einmal erleben, was alles nötig ist, damit du so arbeiten kannst, wie du es gewohnt bist. Es steckt nämlich eine Menge Technik dahinter, wenn der Krause meint, er drückt nur mal eben auf den Knopf und wartet, was passiert. Dann wirst du endlich mal begreifen, dass die Zeit von Telex und Telegramm vorbei ist, mein Alter. Und du musst deine Frau unbedingt vor dem anstehenden Chaos warnen.«

Krause verzog keine Miene. Er fragte: »Wo ist Svenja?«

»Wieder hier«, antwortete Esser. »Aus Syrien zurück. Ich mache mir Sorgen um sie. Wir haben täglich ein Zeitfenster von nur vier Minuten gehabt, und ich habe gemerkt, dass das viel zu wenig war. Sie wirkt abgehetzt, ist total geschafft. Aber sie ist hier in Berlin mit guten Ergebnissen von den Quellen Drei und Neun in Damaskus. Sie schreibt jetzt gerade zu Hause an den Memos. Sie kann sowieso noch nicht schlafen.«

»Und was sagen die Memos?«, fragte Krause.

Esser antwortete: »Assad hat keine Chance, er bekommt keine Ruhe mehr, und irgendwann wird er zu verschwinden versuchen, weil das Feuer unter seinem syrischen Arsch zu heiß wird. Und er hat nicht erkannte Widersacher im eigenen Haus. Zwei aus dem Sippenzirkus kennen wir jetzt, samt Psychogramm und Soziogramm.«

»Assad hat es schwer«, murmelte Esser. »Und er hat brutal reagiert. Er lässt auf Frauen und Kinder schießen, Soldaten laufen ihm weg, und er lässt auch sie unter Feuer nehmen. Die arabischen Brüder sind gegen ihn, er hat keinen Rückhalt mehr. Das ist seit Cäsar so: Wenn sie verlieren, verlieren sie auch jedes Maß.«

Sie schwiegen eine Weile.

»Hat Svenja einen Psychologen?«, fragte Krause.

»Hat sie. Er sagt, sie kommt gut voran, aber es wird dauern.« Sowinskis Stimme klang ungehalten. Es ärgerte ihn immer, wenn Agenten nach einem Einsatz therapeutische Hilfe brauchten. »Es wäre bestimmt ganz gut, wenn du dich um sie kümmern könntest. Vielleicht eine kurze Anhörung bei dir? Damit sie wieder besser klarkommt in dieser verdammten Welt.«

»War das ein XXL

»Du hast das so eingeschätzt. Sie hatte eine Waffe, aber sie brauchte sie nicht«, erklärte Esser. »Einmal war es heikel, weil jemand mit ihr schlafen wollte, aber sie hat den Mann bewusstlos geschlagen und konnte verschwinden.«

»Ist ihr Zustand als Burn-out eingestuft?«

»Nein«, sagte Sowinski. »Aber als ziemlich schwerer Erschöpfungszustand. Sie sagt, sie will sich nur noch die Decke über den Kopf ziehen.«

»Gut. Schick sie zu mir nach Hause, wenn Zeit dazu ist.«

»Dann sind wir ja beruhigt«, sagte Esser lächelnd. »Papa kümmert sich.«

»Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, bemerkte Krause mit starrer Miene.

»Das weißt du sehr wohl, also bitte keine Lügen«, sagte Sowinski bedächtig. »Auch nicht unter dem Aspekt, dass wir alle berufsmäßige Lügner sind.«

»Ich hab da nur so ein Gefühl«, meinte Krause vage.

Sie schwiegen wieder.

Müller und Svenja waren seit Jahren ein Liebespaar. Und sie waren an einem Punkt angelangt, an dem sie nicht mehr weiterwussten. Beide litten darunter und fühlten sich völlig hilflos.

Derartige Verbindungen im Dienst waren streng verboten. Aber es war passiert, und im Grunde waren sie drei besorgte Väter mit zwei Kindern, von denen sie nicht genau wussten, wie sie reagieren würden.

Esser sagte seufzend: »Sie müssen das allein schaffen, wir können da nichts tun.«

»Das ist wohl so«, antwortete Krause. »Dann schreibe ich jetzt dem Präsidenten, und ihr nehmt die gottverdammten Puddingteilchen mit. Ich werde zu fett.«