ZWEITES KAPITEL
Die Maschine aus München landete gegen Mittag in Berlin. Es goss in Strömen, und Thomas Dehner fühlte sich wie gerädert. Er kam aus der albanischen Hauptstadt Tirana, war total übermüdet und wollte unbedingt so schnell wie möglich in seine Wohnung und in sein Bett. Er wollte schlafen, tagelang nur schlafen.
Also rief er noch vom Flughafen aus Sowinski an. »Ich bin wieder hier und erbitte von meinen Vorgesetzten die Erlaubnis, sofort schlafen zu gehen, wenn Sie keine Einwände haben.«
»Ich habe nicht das Geringste dagegen. Gute Ergebnisse?«
»Ich weiß einiges, aber nicht alles. C4 ist für mich mittlerweile ein Albtraum. Das Zeug ist die Hölle, und Truud hat inzwischen eine Jahresproduktion von wahrscheinlich sechstausend Tonnen. Der Kerl ist ein richtig schmieriges Schätzchen. Immerhin kann ich Ihnen eine Frau anbieten, die rund zwanzig Zentner, also eintausend Kilogramm von dem Zeug gekauft hat. Gegen Bares. Und einer von Truuds Leuten sagte, sie wolle damit nach Deutschland.«
»Habe ich da Deutschland gehört?«
»Haben Sie.«
»Und was könnte man mit zwanzig Zentnern von dem Zeug in die Luft blasen?«
»Das Hotel Adlon nehme ich an, oder das Kanzleramt, den Stachus in München samt U-Bahn zum Beispiel, oder das Café Einstein mitsamt den Häusern rechts und links davon, oder irgendein Ministerium, das man nicht mag.«
»Eine Frau, bist du sicher?«
»Eine Frau«, bestätigte Dehner. »Komische Type, angeblich aus Schweden. Ich schreibe es auf. Ach ja, erschießen wollte sie mich auch.«
»Sieh mal einer an. Nichts Wichtiges getroffen, hoffe ich. Schlaf erst einmal aus!«, sagte Sowinski. »Bis morgen.«
Dehner kappte die Verbindung.
Er zog seine große Tasche in Richtung der Taxis, gab knapp seine Adresse an und kämpfte dann energisch gegen seine Müdigkeit, während der gut gelaunte Fahrer unermüdlich darüber schwafelte, dass es in Berlin mindestens zweitausend Taxis zu viel gebe und dass er von der Personenbeförderung nicht mehr leben könne und wahrscheinlich demnächst am Prenzlauer Berg auf irgendeinem dreckigen Gehsteig den Hut hinhalten müsse. Aber das sei vielleicht keine Katastrophe, denn seine Frau spiele hervorragend Akkordeon und er selbst sei nicht schlecht mit der Klarinette.
Als Dehner schließlich die Wohnungstür hinter sich zuzog und endlich allein war, ließ er sich einfach auf sein Bett fallen, zog eine Stunde später die Schuhe aus, zweieinhalb Stunden später seine Kleidung. Dann war er wach und fluchte vor sich hin. Das Fluchen steigerte sich, als er entdeckte, dass sich in seinem Kühlschrank nichts Essbares mehr befand.
Er rief Samy an und sagte: »Hilfe! Du musst herkommen und mir was zu essen bringen.«
»Bist du etwa zu Hause?«
»Bin ich. Und ich möchte Lachs und Krabben. Und vielleicht zwei Flaschen Prosecco, einen Kasten Wasser, einen Kasten Bier, Orangensaft. Dazu Brot und Butter und vielleicht etwas Leberpastete, einen Karton Eier, und, ja, wenn du das auftreiben kannst … Verdammt, dieses Scheißding!«
»Wie bitte?«, fragte Samy verstört.
»Schon gut, kauf das Zeug und komm her!«
Dehner hatte die ganzen Stunden über im Bett auf seiner Waffe gelegen und fragte sich jetzt, wie ihm das hatte passieren können. Er hatte die Tasche noch nicht ausgepackt, aber die Waffe sicherheitshalber herausgenommen und aufs Bett geworfen. Wie hieß es doch so schön über den Umgang mit der Waffe? »Achten Sie immer darauf, in jedem neuen Raum, den Sie während einer Reise mieten und dann betreten, zunächst die Waffe abzulegen und sie unbedingt so aufzubewahren, dass kein Fremder sie sehen oder ertasten kann.« Wer, um Gottes willen, ließ sich bloß solche Texte einfallen?
»Du bist blöde, Dehner!«, sagte er laut. An der rechten Hüfte hatte er eine große rote Druckstelle.
Anderthalb Stunden später kam Samy und schleppte die Einkäufe in mehreren Etappen keuchend in die Wohnung hinauf. Er freute sich, dass Thomas wieder zurück war, und wie üblich geriet er vor Aufregung ins Stottern, vergaß den Kühlschrank zu schließen und wollte etwas ganz Wichtiges erzählen, was ihm aber nicht auf Anhieb gelang.
Dehner legte ihm den Arm um die Schultern und sagte mit ruhiger Stimme: »Langsam, Samy, langsam. Das Tollste wäre, wenn du uns erst mal Brote machst. Und du darfst auch einen halben Prosecco mit Orangensaft trinken.«
Samy war vierzehn und so etwas wie ein Segen für die Straße. Er wurde von seiner alleinerziehenden Mama liebevoll betreut, und alle kannten und mochten ihn. Er kaufte für alte Damen ein, er hütete Kinder, und er durfte unter Aufsicht schon mal im Kiosk gegenüber bedienen. Man sagte, er sei in seiner Entwicklung im Alter von acht Jahren stecken geblieben. Dazu hatte er seit seiner Geburt einen leichten Hüftschaden.
Er himmelte Dehner an, weil der offensichtlich dauernd in fremden Ländern unterwegs war und immer mit den Fliegern durch die Lüfte ritt. Irgendwann hatte er einmal zu Dehner gesagt: »Also, so was wie du will ich auch mal werden.« Sie saßen sich in der Küche am Esstisch gegenüber und aßen zusammen.
»Wo warst du?«
»In Albanien.«
»Wo ist das denn?«
»Es liegt am Adriatischen Meer, gegenüber von Italien.«
»Was hast du da gemacht?«
»Ich habe Leute getroffen, die mit Sprengstoff umgehen und ihn herstellen. Das Zeug heißt C4 und ist so ähnlich wie Dynamit. Du erinnerst dich doch an die Knete, mit der du als Kind immer gespielt hast. C4 sieht ähnlich aus, mal bräunlich, mal dunkelgrün, man kann es formen, wie man will. Man kann damit Steine sprengen, also in Steinbrüchen. Mit den Steinen kannst du dann ein Haus bauen.«
»Willst du so was haben?«
»Ja, mal sehen. Mein Chef will wissen, was man damit alles machen kann. Vielleicht kaufen wir was von dem Zeug.«
Wieder entstand das Bild der Frau vor seinen Augen, diese Eiseskälte, mit der sie ihre Blicke abschätzend über den Frühstücksraum des Hotels hatte gleiten lassen. Nicht der Hauch eines Lächelns auf ihrem Gesicht. Sie widmete sich für einige Minuten der Morgenzeitung, nippte in einem festen Rhythmus an ihrem Kaffee, nahm eine Winzigkeit Müsli zu sich und schien ganz offensichtlich kein Interesse daran zu haben, mit irgendjemandem auch nur ein Wort zu wechseln.
»Ich muss jetzt arbeiten, Samy«, erklärte Dehner schließlich.
Als Samy gegangen war, setzte er sich an seinen Laptop und begann zu schreiben. Für ihn war es wichtig, das Memorandum über einen Einsatz dann zu schreiben, wenn es ihm auf den Nägeln brannte, nur so wurden die Schilderungen authentisch. Und die Frau brannte ihm auf den Nägeln, obwohl sie ihn in erotischer Hinsicht nicht interessierte. Thomas Dehner bezeichnete sich selbst als BS, was ihm zufolge »bekennender Schwuler« bedeutete.
»Mein Aufenthalt in Albanien galt im Wesentlichen der Erkundung eines Sprengstoffs, der weltweit unter der Bezeichnung C4 bekannt ist und ursprünglich von der Firma Semtex in Tschechien industriell hergestellt wurde (und immer noch wird). Mittlerweile sind Lizenzen zur Herstellung in alle Welt verkauft, aber der Stoff wird zunehmend und in hohem Maß auf der Welt kopiert und somit illegal hergestellt.
Selbstmordattentäter verwenden vorwiegend C4. Unsere diensteigenen Chemiker werden ihre wissenschaftlichen Bemerkungen hinzufügen, ich beschränke mich hier auf das Notwendigste und gebe eine Schilderung meiner Tage in Tirana wieder.
Ich hatte das Ziel, einen Mann zu untersuchen, der in der Szene der Sprengstoffhersteller eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Es handelt sich um Jongen Truud, einen gebürtigen Holländer, der bisher durch fahrbare Heroinküchen aufgefallen ist, nun aber auch auf dem Sektor Sprengstoff in das internationale Geschäft einsteigen will.
Dabei traf ich auf eine Frau, die im Hotel den Namen Britt Sauwer angegeben hatte, Geburtsland Schweden, wohnhaft in Stockholm. Alter ungefähr dreißig, etwa 163 Zentimeter groß, schlank, durchtrainiert. Die Frau kaufte zwanzig Zentner C4. Sie bezahlte bar in US-Dollar.
Ein Angestellter von Jongen Truud erwähnte mir gegenüber, dass die Frau geäußert habe, sie wolle den Sprengstoff nach Deutschland bringen. Wohin, wurde nicht erwähnt.
Einige Grunddaten über den Sprengstoff C4 (das heißt: Composite Compound 4): C4 ist in der Herstellung ziemlich einfach. Man braucht Hexogen, Bis-Ethylhexyl, Polyisobutylen und Mineralöl. Die genauen Anteile kann sich jeder aus dem Internet herunterladen. Die Stoffe sind jedem Chemiker zugänglich.
Die Besonderheit dieses Stoffes liegt darin, dass er vollkommen gefahrlos transportiert, gelagert und bearbeitet werden kann. Man kann damit also eine Zahnpastatube füllen oder eine Schuhcremedose, man kann Kinder damit kleine Figuren basteln lassen. Das alles ist vollkommen ungefährlich. (Bei Briefbomben wurde in den letzten Jahren häufig C4 nachgewiesen.)
Ein weitere Besonderheit des Stoffes: Bei keiner Fahrzeugkontrolle oder Zollstelle fällt das Zeug auf, es ist faktisch geruchlos und kann auch beim Röntgen durch entsprechende Anlagen zum Beispiel von Zollbehörden oder Polizei nicht festgestellt werden. Man könnte also buchstäblich einen ganzen Schuh damit modellieren und wird nicht auffallen, man könnte ebenso eine schusssichere Weste damit auskleiden, und niemand würde es merken.
Um eine annähernde Vorstellung der Masse C4 zu vermitteln, sei darauf hingewiesen, dass ein handelsübliches Paket Butter (250 Gramm) in etwa dem Verhältnis von Masse und Gewicht des Sprengstoffs gleicht.
Bei dem in Tschechien bei Semtex industriell gefertigten C4 setzt man Metallspäne hinzu, sodass der Stoff beim Röntgen gefunden wird bzw. Detektoren anschlagen. Man setzt des Weiteren starke Geruchsstoffe hinzu, sodass das C4 von Spürhunden gefunden werden kann. Beim illegal hergestellten C4 wird auf diese Zusätze selbstverständlich verzichtet, was bedeutet, dass C4 ohne Zusatzstoffe nahezu unbegrenzt, verdeckt unter anderer Ladung, über Grenzen transportiert werden kann.
Gezündet wird die Masse konventionell mittels einer Zündkapsel, die etwa so groß ist wie das Unterteil eines Kugelschreibers. Die Zündung erfolgt entweder per Draht oder aber mittels Handytastatur. Das Sprengstoffpaket enthält also einen Empfänger. Wenn man beim Handy eine bestimmte Nummer wählt, wird dadurch ein elektrischer Impuls ausgelöst. Dieser zündet die Kapsel und die wiederum das C4. Einen solchen Zünder kann mittlerweile jeder Elektroniker im eigenen Hobbyraum herstellen.
Zunehmend Verwendung findet dieser Sprengstoff bei Selbstmordattentätern, die sich in den meisten Fällen einen Gürtel aus C4 anlegen und in der Millisekunde vor der Sprengung einfach einen eingebauten Schalter betätigen.
Informationen zu Jongen Truud (48): Möglicherweise in Amsterdam geboren, seit etwa zwanzig Jahren zu Hause in Laos, Thailand, Kambodscha, Afghanistan, Pakistan. Nicht vorbestraft. Heroinhersteller, Drogentransporteur, Autoverleiher, Autoverkäufer, gegenwärtig in Tirana, Albanien, dort keine feste Adresse, ständig als Gast aus dem Ausland gemeldet in einer kleinen, elitären privaten Pension, in der auch Staatsgäste untergebracht werden.
Truud ist seit Kurzem ausgestattet mit Papieren auf den Namen Bert Neuwein, deutscher Staatsangehöriger, geboren am 1. Mai 1964 in Emden, Nordfriesland. (Achtung! Die Folien und Textdokumente aller dieser Papiere, einschließlich der Geburtsurkunde und des Familienstammbuches, sind echt, stammen wahrscheinlich aus einem Einbruch in einem Einwohnermeldeamt.)
Truud hat bereits als Jugendlicher in Amsterdam mit Drogen gehandelt. Er selbst nahm niemals Drogen, raucht nicht, trinkt keinen Alkohol, auffällige Frauengeschichten oder sexuelle Vorlieben sind nicht bekannt. Allerdings darf nicht unterschätzt werden, dass der Mann stets bewaffnet und als erstaunlich guter Schütze bekannt ist. Er trainiert mindestens einmal im Monat mit scharfer Munition und trägt die Waffe rechts am Gürtel.
Zuerst Gelegenheitsdealer, dann zunehmend eingesetzt von den in Amsterdam lebenden chinesischen Drogenhändlern, die mit festen Partnern im Goldenen Dreieck (Laos, Kambodscha, Thailand), aber auch mit Afghanistan und neuerdings mit Mexiko Handel treiben.
Truud wurde wahrscheinlich auf Empfehlung von Mi Wintan (Drogenhändler und Sippenältester in Amsterdam) in Laos, dann in Thailand, dann in Kambodscha fester Mitarbeiter eines Drogenhändlerrings mit dem Namen KETTE, DIE NICHT REISST (laotisch). Er wechselte dann ins Management der Firma und schickte in Wohnanhängern untergebrachte Heroinküchen samt den Chemikern in nahezu alle Staaten, die unmittelbar vor Österreich auf dem Weg von Kleinasien nach Europa liegen. Die Qualität seines Stoffes war besser als die der Konkurrenz, was ihm verstärkt Abnehmer brachte.
Sein Umsatz in den letzten fünfzehn Jahren wird auf etwa 650 Millionen Euro geschätzt, über sein persönliches Vermögen ist nichts bekannt.
Sein Status in Tirana kann als völlig abgesichert gelten. Er hat direkte Verbindungen bis in die Staatsspitze und ist damit beschäftigt, seine C4-Produktion auszubauen. Offiziell verleiht er Autos (hochwertige, darunter einen goldenen Rolls-Royce für Hochzeiten) und führt europäische Automarken nach Albanien ein, im Wesentlichen für hoch angesiedelte Bürokraten und die Staatsspitze. Diese Tätigkeiten scheinen allerdings Tarnung zu sein, wahrscheinlich wird er systematisch für eine andere und neue Managementtätigkeit vorbereitet.
Bei näherer Betrachtung von Truuds Arbeitstag kommt tatsächlich der Verdacht auf, dass er eigentlich in Tirana nichts anderes als hochbezahlte Ferien verbringt. Er hat ein sehr modernes Büro in der Stadt, beste Adresse (im Dienst bekannt), kommt morgens für eine Stunde dorthin und bespricht sich mit seiner Sekretärin, die dann für den Rest des Tages die anfallenden Arbeiten alleine erledigt. Wenn Truud telefoniert, verlässt er grundsätzlich das Büro und erledigt die Telefonate von seinem Auto auf dem Parkplatz des Bürogebäudes aus.
Der beste Handyladen der Stadt erteilte über einen Mittelsmann die Auskunft, dass Truud pro Monat etwa acht bis fünfzehn neue Handys bekommt, je nach Anforderung. Wir können also davon ausgehen, dass er die Handys nach jeweils wenigen Telefonaten zerstört, um jede Identifikation und Nachprüfbarkeit von Verbindungen zu vermeiden.
Abgesehen von der C4-Produktion kümmert sich Truud um ein sogenanntes Hygiene-Institut, das offensichtlich mit Suchtstoffen experimentiert (siehe Stadtplan und Fotos). Es gilt bei unseren Informanten als sicher, dass bestimmte Stoffe aus dem Institut an Strafgefangenen getestet werden. Insider vermuten, dass Truud mit neuen chemischen Stoffen auf den Drogenmarkt gehen will. Typisch für seine Vorgehensweise ist, dass seine Aktionen von staatlicher Seite abgesegnet sind.
Die Herstellung des C4 findet in einem alten, unauffälligen Firmengelände nordwestlich von Tirana in etwa fünfzehn Kilometern Entfernung von der Hauptstadt in bergigem Gebiet statt. Es handelt sich um drei Hallen. Das Gelände liegt offen neben einer kleinen Straße und ist von einem hochwertigen Starkstrom-Elektrozaun umgeben. Es wird zusätzlich mit automatischen Kameras (aus Deutschland) abgesichert. An einer Einfahrt steht ein Pförtner, der bewaffnet ist und niemals allein seinen Dienst versieht. Gewöhnlich habe ich drei Männer registriert. Der Betrieb läuft rund um die Uhr in zwei Schichten (siehe beigefügte Fotos und den aufgenommenen Bericht eines Informanten).
Wenn der Sprengstoff aus der Herstellung abgefahren wird, so werden dafür grundsätzlich Lastwagen einer Firma namens AUTOSILO benutzt. Besitzer der Firma und der Trucks ist Truud. Sie fahren den Stoff in einen südlichen Stadtteil von Tirana, entladen dort in eine Lagerhalle (genaue Adresse und Lageplan siehe aktuelles Archiv).
Aus diesem Lager werden die Käufer bedient. Die kommen jedoch mit diesem Zwischenlager des Stoffes niemals in Berührung. Der Stoff wird für sie in der Regel in einem weiteren Lager bereitgehalten (genaue Lage siehe Fotografien und Stadtplan). Die Trucks fahren dort vor, werden von Truuds Leuten beladen und verschwinden wieder.
Aufgrund der Nähe zum Meer werden sehr viele Frachten von Truud auf Schiffe verladen. Das sind in der Regel Kümos, Küstenmotorschiffe. Diese Art der Verfrachtung ist besonders gut geeignet, die Wege des Stoffes beständig in einer Grauzone zu halten. Die Regel ist, dass Trucks von AUTOSILO zu den Schiffen fahren und die Frachten, gewöhnlich auf Paletten, umgeladen werden.
Diese Schiffe fahren ständig in Küstennähe zwischen Staaten hin und her, sodass es möglich ist, mit drei bis vier oder mehr Umladungen die Ware von den offiziellen Listen langsam verschwinden zu lassen. Man hat also die Möglichkeit, in einem ganz unbedeutenden Hafen große Mengen des Stoffes anzulanden, die dann, wiederum in kleine Portionen aufgeteilt, erneut auf die Reise gehen oder aber von großen Transportschiffen zu anderen Kontinenten verfrachtet werden.
Im Wesentlichen wird der Sprengstoff unter der Bezeichnung EARTHCARE als hochwertiger Pflanzen- und Blumendünger in undurchsichtigen weißen Plastiktüten von jeweils acht Kilogramm gehandelt. Die Qualität des Sprengstoffs soll hervorragend sein.
Ich habe in der Verladestation für die Kunden, die die Ware in Trucks abfahren lassen, eine solche Plastiktüte an mich genommen, habe den Sprengstoff ausgeschüttet und nur einen Rest zur chemischen Untersuchung mitsamt der weißen Plastiktüte mit dem Logo EARTHCARE mit nach Berlin gebracht, damit die Möglichkeit besteht, den Stoff und die Verpackung genau zu untersuchen. Diese kurze nächtliche Aktion ist nicht bemerkt worden.
Meine persönliche Einschätzung von Truud läuft darauf hinaus, dass wir den Mann unter allen Umständen wie bisher mindestens einmal im Jahr einer Großen Anfrage unterwerfen sollten. Er sollte auch in die Listen der befreundeten Dienste Eingang finden. Der Mann ist eindeutig hochgradig gefährlich.
Ich komme jetzt zu der Frau, auf die ich anfangs einging: Britt Sauwer, schwedischer Herkunft, wohnhaft in Stockholm, Alter ungefähr dreißig. Der Dienst hat meiner Kenntnis nach über diese Frau keinerlei Angaben, sie ist also ein unbeschriebenes Blatt.
Nach den Quellen vor Ort ist eine Frau, die C4 kauft, ganz ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist, dass sie persönlich in Tirana auftauchte, die Ware bar bezahlte und sich darüber informierte, wie der Stoff an den Käufer gelangt. Sie tauchte also direkt am zweiten Zwischenlager auf, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen.
Ich erwähnte bereits, dass diese Frau eintausend Kilogramm C4 kaufte und bar in US-Dollar bezahlte. Im Grunde ist das ein für Truud äußerst ungewöhnliches, ja unmögliches Geschäft, denn er verkauft sein C4 niemals an eine ihm unbekannte Person oder Adresse. Die Frau muss ihm also zumindest durch zuverlässige Dritte empfohlen worden sein.
Das allein reicht jedoch nicht: Er muss auch sicher sein, dass die Frau den Mund hält und dass der Kauf des C4 kein Scheinkauf durch irgendwelche ermittelnden Behörden ist.
Während meines siebentägigen Aufenthalts in Tirana war die Frau an den ersten drei Tagen dort. Sie fiel mir sofort auf, weil sie eine unbeschreibliche Kälte ausstrahlt. Wie bekannt, ermuntern uns unsere Psychologen immer wieder dazu, während des Einsatzes auch Dinge wahrzunehmen und aufzuschreiben, die mit den sichtbaren Fakten nichts zu tun haben, sondern im emotionalen Bereich angesiedelt sind. Bei dieser Frau bekam ich das Frösteln.
Auf den ersten Blick ist sie eine schlanke, zarte Person, bei genauerer Betrachtung relativiert sich das jedoch: Sie ist körperlich in bester Verfassung, strahlt Energie aus, bewegt sich langsam und selbstbewusst, hat aber offensichtlich nicht das Bedürfnis, irgendjemandem zu gefallen, sondern signalisiert im Gegenteil, dass sie keinerlei Kontakt wünscht.
Die Frau ist überaus attraktiv und macht sofort neugierig, ganz gleich, aus welcher Perspektive man sie auch betrachten mag.
Tirana ist nicht gerade ein Eldorado des Jetsets, dennoch findet man erstaunlich viele Besucher aus westlichen Ländern in den guten Hotels der Stadt. Die meisten sind wohl aus geschäftlichen Gründen dort. Und die Augen dieser Männer richteten sich beim Frühstück ausschließlich auf diese Frau, es war beinahe schon peinlich. Es war aber eindeutig, dass sie in keiner Weise darauf reagierte. Ein schönes, strenges Gesicht, oval, mit einem sehr sinnlichen Mund. Kein Make-up, oder so perfekt geschminkt, dass man es nicht bemerkte. Den Tisch hatte sie so gewählt, dass sie mit dem Rücken zur Wand saß, also alles kontrollieren konnte.
Ich traf die Frau wieder, als sie das zweite Lager besuchte, in dem der Sprengstoff auf die Trucks der Käufer geladen wird. Sie sprach perfekt und beinahe akzentfrei Englisch, und sie wollte wissen, wie sie ihren Truckfahrer instruieren muss, damit er vorfährt, sofort die Ladung aufnimmt und sich nicht unnötig aufhalten muss. Das hatte eindeutig etwas von Generalstabsarbeit.
Sie hatte einen Leihwagen (einen schweren Audi, natürlich von Truud), und ich sah sie darin, wie sie um das große Grundstück in den Bergen herumkurvte, in dem das C4 hergestellt wird. Die Tatsache, dass sie sich darum kümmerte, könnte darauf hinweisen, dass sie etwas in Erfahrung bringen wollte. Vielleicht ist sie eine penibel arbeitende Spionin, vielleicht von unserem Gewerbe. Auf jeden Fall aber ist sie gründlich.
Am Nachmittag des zweiten Tages verließ sie das Hotel gegen 14 Uhr, setzte sich in den Wagen und verließ die Stadt in Richtung Süden. Ich folgte ihr ungefähr zehn Kilometer, kehrte dann um. Ich wollte mir ihr Zimmer ansehen und hoffte dabei ausfindig machen zu können, wer sie ist.
Das Ergebnis der kurzen Inspektion ihres Zimmers war ausgesprochen dürftig. Eine geradezu mustergültige Aufgeräumtheit, nichts Besonderes in ihrem Koffer, abgesehen von ungefähr achttausend US-Dollar.
Sie kam überraschend schnell zurück, und ich musste auf einen flachen Außensims an der Rückwand des Gebäudes im ersten Stock ausweichen. Zwei Fenster waren vom Hotelpersonal zur Lüftung offen gelassen worden. Ich konnte die Frau durch die Spiegelung in der Scheibe beobachten.
Sie betrat das Zimmer, wurde gleich misstrauisch und hatte sofort eine kleine Waffe in der Hand. Ich vermute, dass es ein Derringer war, den sie in der Handtasche mit sich trug, und ich habe keinerlei Zweifel, dass sie mich erschossen hätte, falls nötig.
Wenn ich bei Truud auf die Notwendigkeit verwiesen habe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, so würde ich das bei dieser Frau ebenfalls dringend empfehlen.
gez. Thomas Dehner (nach der Rückkehr aus Tirana)«