SIEBTES KAPITEL
Sie saßen zu dritt vor dem Tisch mit den verwirrend vielen Geräten und wirkten wie die erschöpften Mitglieder eines schlechten Männergesangvereins, die das Pannenkonzert des Jahres hinter sich gebracht haben. Da nur zwei von ihnen auf das Sofa passten, saß der Dritte, Esser, auf einem wackeligen Gartenstuhl, den er triefnass vom letzten Regen auf der Terrasse erbeutet hatte.
»Was, zum Teufel«, fragte Krause erbost, »habt ihr denn erwartet? Dass Frau Takamoto brav zu Hause sitzt und gelegentlich telefonisch bei uns anfragt, ob wir das Leben ihres Liebhabers eventuell erhalten könnten?«
»Moment mal«, fuhr Sowinski auf. »Ich habe mir von ihr versprechen lassen, dass sie unter keinen Umständen Blödsinn macht. Und sie war doch hier bei dir. Warum hast du sie nicht losgeschickt?«
»Weil sich zu diesem Zeitpunkt Quelle Sechs noch nicht gemeldet hatte!«, antwortete Krause. »Verdammt noch mal, ich dachte, wir sind Profis und denken mit. Müller war von der Leine, aber noch nicht in Gewahrsam eines Kidnappers.«
»Sie hat versprochen, sie macht keinen Blödsinn«, wiederholte Sowinski eigensinnig.
»Sie hat behauptet, sie kennt Mona nicht«, murmelte Esser. »Und ich Idiot habe angenommen, sie sagt die Wahrheit. Dabei muss sie Mona kennen, wenn sie eine gute Agentin sein will.«
»Also, machen wir es kurz, verdammt noch mal!«, polterte Krause. »Sie ist mit DHL-Cargo nach Stuttgart und dann mit einem kleinen Jet voller Bohrköpfe direkt nach Tripolis. Gut geplant, schnell durchgezogen, Agentin vor Ort, alles in Butter.« Krause gestattete sich ein boshaftes Lächeln. Dann setzte er schroff hinzu: »Ihr hättet sie nach Tripolis schicken müssen, sofort, ohne zu zögern.«
Esser sagte: »Mir scheint, dass …«
Sowinski brauste auf: »Die Frau wird die Stadt in Schutt und Asche legen, sie flippt aus, wenn ihrem Müller was passiert.«
»Das ist eine sehr theoretische Beurteilung. Ich empfehle den uralten Satz unserer keltischen Vorfahren: If you can’t beat them, join them. Ihr seid zwei ganz traurige Figuren. Wie können wir sie jetzt erreichen?«
»Gar nicht«, sagte Esser. »Sie benutzt wahrscheinlich ein Handy, das wir nicht kennen.«
Krauses Frau Wally stand plötzlich in der Tür zur Küche und fragte giftig: »Mögen die Herren zur Auflockerung der Arbeit und Stärkung vielleicht einen Kaffee oder sonst irgendetwas? Gebäck zum Knabbern, vielleicht ein Puddingteilchen?«
»Meine liebe Wally«, schnurrte Esser, »sei mir gegrüßt. Ich hätte gern einen Kaffee.«
»Ich ein Wasser«, sagte Sowinski kleinlaut.
Es war seit Jahren so etwas wie eine permanente Panne, es war etwas, dessen sie sich schämten. Sie hatten in frühen Jahren zuweilen Silvester gemeinsam gefeiert, oder Ostern oder den ersten Weihnachtsfeiertag. Sie hatten selbstverständlich ihre Frauen dazugeholt. Die hatten verschiedene Salate gemacht, Snacks, erlesene Desserts. Aber richtige Partys in Ausgelassenheit waren es nie geworden. Wenn die Männer irgendwelche Erinnerungen ausgekramt hatten, konnten die Frauen nicht mitreden. Und wenn die Frauen böse Bemerkungen der Alice Schwarzer zitiert hatten, waren die Blicke der Männer irritiert gewesen. Ein einsamer Höhepunkt war eine Zusammenkunft in Krauses Haus gewesen, bei der er und Esser betrunken in Wallys kleinem Goldfischteich gesessen hatten, um über irgendwelche Dinge zu diskutieren, von denen die Frauen nichts wussten. Sie hatten es aufgegeben zu feiern, und sie hatten alle das Gefühl, gescheitert zu sein. Dieser Beruf vertrug nicht einmal einen Hauch von privatem Leben.
»Und was willst du?«, fragte Wally ihren Mann schroff.
Krause hatte sich geduckt, als stehe er in einem Schützengraben. »Vielleicht ein Puddingteilchen.« Und dann, als habe er etwas nicht verstanden: »Wieso eigentlich gerade Puddingteilchen?«
»Weil mir deine Sekretärin schon vor fünf Jahren mitgeteilt hat, dass du das ab und zu gerne zu dir nimmst«, entgegnete sie hoheitsvoll. »Diese Dinger sind höchst ungesund, wie ich bemerken möchte. Aber es könnten auch halbe Brötchen mit Wurst und Schinken und Käse sein, sogar mit Erdbeermarmelade.«
»Erdbeermarmelade!«, seufzte Esser hingerissen.
»Liebe Wally«, sagte Krause, »die Situation ist uns mehr als peinlich, aber wir stecken in einer Krise.«
»Ja, ja, ich weiß«, antwortete sie trocken, ohne eine Miene zu verziehen. »Mein Wohnzimmer wurde systematisch zerstört, und ihr habt ein U-Boot im Amt.«
»Eben das!«, sagte Sowinski. »Was würdest du denn tun?«
»Ich würde eisern den Mund halten und abwarten, was dem U-Boot alles einfällt. Die Jungens müssen doch mal an Land. Irgendwann muss das Ding doch auftauchen, oder?« Dann drehte sie sich um und verschwand in der Küche.
»Sie hat recht«, bestätigte Esser.
»Und wo wird unsere Svenja auftauchen?«, fragte Krause.
»Erst einmal im Hotel, in dem Müller wohnt. Dann in der Villa von Quelle Sechs.«
»Unter welcher Legende reist sie?«
»Shannon Ota, irisch. Ihre Fluchtpapiere«, antwortete Sowinski.
»Dann sagt Dehner Bescheid. Wo ist er jetzt?«
»Er muss bald landen, in etwa einer halben Stunde«, sagte Sowinski.
»Ruf das Hotel an. Sie sollen eine Nachricht in Dehners Fach und in Müllers Fach legen. Sofort hier melden. Frag nach, ob Svenja schon dort ist, ob sie ein Zimmer belegt hat. Lass sie notfalls ausrufen, das müssen wir riskieren. Haben wir gute Kollegen dort?«
»Moshe Jugo vom Mossad ist dort«, sagte Sowinski.
»Kann er notfalls helfen?«
»Ich werde ihn darum bitten. Und was machen wir jetzt? Ich meine, schicken wir Quelle Sechs eine Maschine oder nicht?« Sowinski knetete verzweifelt seine Hände, was darauf hinwies, dass er zugleich wütend und hilflos war.
Krause nickte. »Wir schicken ihm eine, das müssen wir selbstverständlich tun. Aber erst, wenn Svenja wieder aufgetaucht ist und nicht in einem Krieg steckt. Der Flieger steht nicht eher bereit, bis wir wissen, welcher Pilot fliegen wird, und bis wir genau wissen, wer in Beirut bereit ist, Quelle Sechs aufzunehmen. Und dann, meine Freunde, habe ich eine sehr exquisite Meldung: Der SPIEGEL fragt an, ob es stimmt, dass der BND in Richtung Bundeskanzleramt wegen einer alten Geschichte ermittelt. Bisher habe ich nur geantwortet, dass wir im Inland niemals ermitteln, überhaupt nirgendwo ermitteln, gegen das Kanzleramt erst recht nicht. Aber wir sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie handfeste Gründe haben, uns zu fragen. Mit anderen Worten: Sie müssen etwas von Schlauf und seiner Geschichte erfahren haben.«
»Scheiße«, knurrte Esser, wobei die Benutzung dieses Ausdrucks für ihn ganz außergewöhnlich war. »Wenn ich das richtig sehe, haben wir den besten Agenten verloren, der mit Abstand beste weibliche Agent ist ohne Auftrag in Tripolis verschwunden, die Tarnung des sehr wichtigen Informanten Arthur Schlauf ist aufgeflogen. Wir werden erpresst, eine Maschine nach Tripolis zu schicken, um Müller zu retten, und ganz nebenbei weiß ein Unbekannter so viel über unser Innenleben, dass wir unruhig werden sollten. Jetzt fragt der SPIEGEL in gleicher Sache an, und wir haben keine Ahnung, was der weiß. Könnte man das so zusammenfassen?«
»Deine Analyse ist wie immer brillant«, murmelte Sowinski.
»Wie hat denn der Präsident reagiert, um einmal nach etwas zu fragen, was wir vielleicht wissen könnten?«, fragte Esser.
»Er hat den Erbsenzähler zu sich zitiert, moderat zur Schnecke gemacht und ihn darauf hingewiesen, dass er sich in Operationsdinge nicht einzumischen habe. Dann hat er ihn vorläufig, bei vollen Bezügen, nach Hause geschickt. Er hat ihm eine Frist gesetzt: Zwei Tage hat er Zeit, den Hintergrund darzustellen und seine Quellen preiszugeben. Schriftlich«, erklärte Krause. »Drei Psychologen aus dem Haus werden ihn befragen. Noch läuft das Ganze ohne Wissen der Politik. Und wenn die Wind davon kriegen, haben wir ganz schlechte Karten, weil dann auch Leute den Mund aufmachen, die gar nichts wissen. Aber das alles hilft uns jetzt nicht weiter.«
»Was, zum Teufel, hilft uns denn weiter?«, fragte Sowinski genervt.
Aus irgendeinem der Lautsprecher drang quäkend Goldhändchens Stimme. »Ich habe das Letzte zufällig mitgehört. Ich habe die Nummer des neuen Handys von Svenja. Es ist ein Uralthandy von Nokia, eines aus den Zeiten, als man das Schicken von SMS noch für den absoluten Hype hielt.«
»Wie machst du so etwas?«, fragte Esser erstaunt.
»Ich denke mit«, antwortete Goldhändchen heiter. »Soll ich sie anrufen?«
»Ja, bitte«, sagte Krause. »Sie soll sich augenblicklich auf die Socken machen und nach Berlin zurückkehren. Dann tun wir so, als sei nichts geschehen. Das ist zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber immerhin ein Stück von der Schale.«
»Kannst du das Handy denn orten?«, fragte Sowinski.
»Leider nicht«, sagte Goldhändchen. »Die Technik ist so alt, dass da nichts funktioniert. Wenn es aus ist, ist es aus.«
»Wie tröstlich«, seufzte Krause. »Nun ja, meine Lieben. Dann sollten wir vielleicht etwas in die Welt setzen, das uns helfen kann.« Er lächelte sie an, und sie begannen Hoffnung zu schöpfen.
»Irgendetwas Bombastisches!«, setzte er hinzu.
»Eine Nummer kleiner würde schon reichen«, kommentierte Esser ironisch.
»Wir orientieren uns an dem, was meine Frau gesagt hat«, sagte Krause leise. »Wir erfinden irgendetwas, das sie zum Auftauchen zwingt.« Dann starrte er auf seine Schuhe hinunter und knurrte leise: »Ich mache mir ernstlich Sorgen um Müller.«
»Es ist nicht gut, dass du als Frau allein da reingehst«, sagte der junge Mann hinter dem Steuer. Es klang quengelig.
»Ich kann so was aber, ich habe das gelernt«, sagte Svenja auf der Rückbank. Sich in diesem engen Uraltauto umzuziehen war ziemlich schwierig. »Es ist nicht das erste Mal, dass ich so etwas mache.«
»Aber du weißt nicht, was für Schweine das sind. Miriam hat auch gesagt, sie liebt die Rebellen, hat sich ein großes Küchenmesser genommen und ist weg. Und dann haben sie sie gebracht. Sie war tot.«
»Wer war Miriam?«
»Meine Schwester.«
»Ich habe jetzt einfach keine Zeit für solche Überlegungen«, erklärte sie heftig. »Ich muss den Mann finden.« Sie streifte die dunkelblaue Weste über das blaue Kapuzenshirt, den breiten Gurt mit der Waffe trug sie jetzt auf der Haut.
»Was ist, wenn er schon tot ist?«
»Ich habe auch keine Zeit, das mit dir zu diskutieren«, sagte sie. »Wo hast du die zwei Stunden gestanden und gewartet? Wo genau?«
»Da hinten, ungefähr hundert Meter weiter, in der Gegenrichtung.«
»Und er ging rein, kam dann wieder raus, ging das Grundstück auf dem Gehweg ab, dann rief er dir zu, er käme bald zurück, und verschwand auf dem Grundstück. Ist das richtig so?«
»Ja«, sagte der Junge. »So war es.« Dann drehte er seinen Kopf zu Svenja und fragte: »Was soll ich tun, wenn du auch nicht mehr herauskommst? Ich meine, irgendwer muss doch wissen, was da passiert ist, dass da Leute verschwinden.«
»Das Einfachste ist, du parkst genau hier vor dem Tor und bleibst in Rufnähe. Oder hast du Leute, die uns jetzt helfen können?«
»Habe ich nicht«, sagte er.
»Okay. Ich gebe dir das Geld, damit du nicht umsonst hier herumstehst.« Sie reichte ihm einen Fünfzigeuroschein. »Ich lasse meine Tasche bei dir und gehe rein und schaue nach. Du machst gar nichts, du wartest einfach, bis ich wieder auftauche. Wenn jemand kommt und dich fragt, warum du hier stehst, dann sag einfach, du machst Pause. Und du parkst hier, damit du in das Grundstück bis zum Haus reinsehen kannst. Es wird nicht lange dauern, nehme ich an.«
»Okay«, sagte er. »Dann warte ich. Und was mache ich mit deiner Tasche, wenn du nicht mehr rauskommst?«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie.
»Achtzehn.«
»Niemals.«
»Siebzehn.«
»Sagen wir sechzehn«, stellte sie fest. »Ich muss jetzt los. Bleib hier stehen. Hier kannst du mich sehen, bis ich am Haus bin.« Sie stieg aus und ging um den Wagen herum. Dann beugte sie sich zu dem Jungen hinunter und sagte: »Okay, hier ist noch etwas: Wenn ich nicht wiederkomme, dann fährst du zum Hotel und wartest auf einen Mann namens Thomas Dehner. Dem sagst du, was passiert ist. Alles. Aber nur Thomas Dehner. Kannst du das?«
»Ja.« Der Junge nickte. Er war sehr blass.
»Wiederhole den Namen.«
»Thomasch Diehnä.«
Svenja ging los, und während der ersten Schritte lockerte sie sich, bewegte rollend die Schultern und bemühte sich um einen tiefen, gleichmäßigen Atem. Dann begann sie zu laufen, und sie war nicht gewillt, sich aufhalten zu lassen.
Es war sehr still in dem großen Haus.
Sie stand mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen im Erdgeschoss in dem großen, leeren Raum für Empfänge und bewegte sich nicht. Sie horchte in das Haus hinein, und sie hörte nichts. Irgendwo, weit entfernt, bellte ein Hund, die Sirene eines Polizeifahrzeugs war kurz zu hören, dann nur ein gleichmäßiges, in Wellen anrollendes Rauschen: die Stadt.
Sie bewegte sich auf der Treppe in das Obergeschoss, lugte schnell um Ecken, entschloss sich dann, die Waffe zu ziehen und sie vor sich zu halten, um sofort reagieren zu können. Sie sah nichts, was ihre Aufmerksamkeit erregte, hörte nichts, was sie beunruhigte.
Dann zurück ins Erdgeschoss und weiter hinunter auf die Kellerebene. Sie hielt inne, lauschte, hörte nichts.
Dann war in der riesigen Küche plötzlich eine fette Ratte vor ihr und bewegte sich laut raschelnd mit einem großen Fetzen Papier. Ratten waren gut, sie waren aufmerksamer als Hunde, Ratten waren das sichere Zeichen für die Abwesenheit von Menschen. Meistens.
Sie warf einen Blick in die Kühlräume, dann in die Zimmerchen der Küchenmannschaft.
Dann lauschte sie wieder.
Sie dachte daran, dass Müller hier herumgelaufen war, und sie fragte sich, ob sie ihn zufällig in ihre Gewalt gebracht hatten oder ob es eine gezielte Aktion war. Wahrscheinlich gezielt, denn sie wollten ausgeflogen werden. Also hatten sie fest damit gerechnet, dass er auftauchen würde. Er oder irgendein anderer.
Wir funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk, wir kommen immer, dachte sie leicht zynisch.
In einem winzigen, vollkommen leeren Raum lag ein altes rotes Kissen, aus dem die Kunststofffüllung quoll. Daneben stand eine Flasche Rotwein, halb voll. Wieso das? MAROC stand darauf. An der Decke eine Fünfzehnwattfunzel, die brannte.
Bettler? Penner? Leichenfledderer?
Sie wurde langsamer in ihren Bewegungen, und sie entsicherte die Waffe.
Der nächste Raum war größer. Auch eine trübe Funzel an der Decke. Ein Regal mit einer kleinen doppelten Kochplatte und ein einfacher Topf. Beides kalt.
In der Wand gegenüber eine halb geöffnete, große Metalltür. Dahinter ein gewaltiger Sicherungskasten, deutsches Fabrikat.
Einer der Stromzähler war in Betrieb, drehte sich unendlich langsam. Aber sie hatte nirgendwo Strom entdeckt, nirgendwo eine Lampe, nur abgerissene Kabel. Nur diese beiden Räume hatten Strom.
In der Ecke des Raumes stand auf dem Boden ein großer Pappkarton mit Weinflaschen, die meisten voll. MAROC, las sie wieder. Da stimmte irgendetwas nicht. Aber was?
Sie machte eine Pause, schloss die Augen und horchte.
Aus einem der großen Fenster im Obergeschoss hatte sie einen großen Pool auf der Rückseite des Hauses gesehen, voll Wasser. Wenn sie jetzt vor dem Sicherungskasten stand, dann war es nur logisch, dass irgendwelche verborgenen Räume nur in dem Bereich hinter dem Sicherungskasten liegen konnten. Nach der Lage des Gebäudes war das identisch mit dem großen Bereich des Parks vor dem Haus. Falls es solche Räume gab.
Sie stellte sich vor den Sicherungskasten und versuchte, ihn zu bewegen. Er glitt schon bei sanftem Druck leicht und geräuschlos zurück, und sie sah auf dem Betonboden im Halbdämmer dahinter einen großen Teppich liegen.
Sie war erleichtert, stieg durch die Öffnung und beschleunigte wieder ihr Tempo.
Sie brauchte eine Taschenlampe. Ein schmaler, dunkler Gang, überall Teppiche.
Das war klar, sie mussten leise leben in diesem Versteck.
Dann war vor ihr Licht in schmalen Streifen oben an der Decke und unten am Fußboden. Ein Teppich hing davor.
Vorsichtig schob sie den Teppich ein Stück beiseite. Ein heller, großer Raum, sicher fünfzig oder mehr Quadratmeter, eine Teppichwelt. Und es war nicht zu erkennen, ob es weitere Räume gab. Wenn es sie gab, dann lagen sie hinter den hängenden Teppichen verborgen.
Sie hatte jetzt mehr Unsicherheiten als Fakten, sie wusste nichts über die Ausmaße dieser Anlage. Wusste nicht, ob sich dort Menschen verbargen, und wenn ja, was diese Menschen wollten.
Anweisung der Trainer: »Queren Sie niemals einen unbekannten großen Raum, nehmen Sie niemals eine Diagonale durch solch einen Raum, halten Sie sich grundsätzlich eng an die Wände. Halten Sie sich so niedrig wie möglich. Bewegen Sie sich mit der höchstmöglichen Geschwindigkeit, und denken Sie daran, dass es keinerlei Deckung gibt.«
Sie bewegte sich schnell an der rechten Teppichwand entlang, dann entdeckte sie vor sich die Liege mit dem weißen Laken und breite rote Gurte.
Sie blieb stehen.
Da lagen weiße Wattetupfer auf dem Teppich am Boden, ein Teil der Tupfer zeigte tiefbraune Flecken, Blut. Auf dem Laken war auch Blut.
»Was haben sie dir angetan, Liebling?«, hauchte sie.
Dann sah sie die Uhr auf dem Laken, die Breitling, von der Müller mal gesagt hatte: »Irgendetwas an mir sollte doch von Wert sein.«
Sie nahm die Uhr und streifte sie sich über das linke Handgelenk. Dann ging sie weiter und schob jeden Teppich leicht beiseite. Auf der Seite mit der Liege gab es keine verborgene Tür.
Müllers Uhr störte sie, sie konnte das linke Handgelenk nicht leicht genug bewegen. Sie nahm sie wieder ab und steckte sie in die Hosentasche ihrer Jeans.
Sie schaute hoch zur Decke. Der Letzte macht das Licht aus!, dachte sie. Waren sie verschwunden, ohne das Licht zu löschen? War das nicht leichtfertig? Nein, warum leichtfertig, solange niemand von dieser Welt wusste?
Der nächste Teppich verbarg eine Tür, weiß lackiert, Dutzendware. Sie drückte geräuschlos die Klinke herunter. Es war eine Küche. Mindestens vier hohe moderne Eisschränke aus gebürstetem Stahl, jede Menge Getränkekisten, am Boden ein Plastikkorb mit frischem Gemüse. Rechter Hand eine Arbeitsplatte, darauf Fleisch in Plastiktüten. Es roch muffig. Eine zweite Arbeitsplatte, vollkommen zugestellt mit gebrauchtem Geschirr.
Das Licht brannte!
Die nächste Tür war nur eine Teppichbahn entfernt.
Svenja konnte auch diese Klinke geräuschlos niederdrücken, dann sagte eine männliche Stimme hinter ihr mit großem Erstaunen: »Eine Frau!«
»Ja«, erwiderte sie.
»Lass deine Waffe auf den Boden fallen«, sagte der Mann krächzend und drückte ihr irgendetwas in den Rücken.
Sie ließ ihre Waffe auf den Teppich fallen. »Aber du kannst mich nicht aufhalten.«
Der Druck im Rücken ließ nach.
Langsam drehte sie sich zu dem Mann um.
Er war ein alter Mann, und er grinste sie fast verschwörerisch an. Er war in weiße Gewänder gekleidet, als sei es ein Festtag, sogar der Turban war weiß. Er hatte eine schwarz mattierte Glock in der rechten Hand, aber sie war gesichert.
»Gehörst du zu dem, den wir schon haben?«, fragte er.
»Ja.« Svenja nickte.
Jemand rief laut: »O nein!«
Der Taxijunge stand vor dem Teppich, der den Eingang verdeckte, und sein Gesicht war grau, leichenblass.
Der Alte duckte sich ab und fuhr erstaunlich schnell mit der Waffe herum, und sein Daumen lag auf dem Sicherungshebel.
Svenja sprang hoch und legte sich gleichzeitig in eine starke Pirouette nach rechts. Sie erwischte den alten Mann mit der Ferse ihres rechten Fußes am Kopf, und er war tot, noch ehe er auf den Teppich aufschlug.
»Bleib draußen!«, befahl sie dem Jungen. »Ich komme gleich.«
Aber er rührte sich nicht vom Fleck. Der Junge stand wie angenagelt da und sagte aufgeregt: »Das ist Onkel Tobruks Vater. Onkel Tobruk wird dich killen.«
»Onkel Tobruk kann mich mal!«, sagte Svenja.
Sie musste absolut sichergehen, sie konnte einfach nicht riskieren, sich zurückzuziehen und dabei womöglich irgendetwas Wichtiges übersehen zu haben. Sie schlug die Teppiche zurück, öffnete Türen und warf einen Blick in alle möglichen Räume. Sie sah Luxusbetten und riesige eingelassene Badewannen, Etagenbetten für die einfachen Leute, einen Aufenthaltsraum mit großen Tischen und einen Fernsehraum mit vielen Stühlen. Sie sah eine komplette Waffenkammer mit einem Arsenal, das reichen würde, um einen Bürgerkrieg zu versorgen.
Sie entdeckte keinen Menschen.
Lieber Müller, wo steckst du nur?
Sie nahm sich Zeit in einem Raum, in dem nur ein großer, wunderbar gemaserter Schreibtisch aus hellem Holz stand, davor ein schwarzer Lederstuhl. Da gab es eine Schreibgarnitur von Faber-Castell mit den luxuriösen, goldenen Schreibwerkzeugen. Styling in höchster Vollendung. Svenja überlegte kurz, einen edlen Füllfederhalter einzustecken, ließ es dann aber bleiben.
Solange dein Flugzeug nicht hier ist, Müller, so lange bist du zweifelsfrei in dieser Stadt. Und sie werden dich nicht quälen, weil sie dich brauchen.
Unter dem Schreibtisch stand ein kleiner Holzcontainer auf Rollen. Er war abgeschlossen. In der Waffenkammer hatte sie ein Brecheisen gesehen. Sie ging es holen und hebelte damit den Container auf. Es krachte ein wenig und splitterte hässlich. Sie sah nur einen einzigen prall gefüllten Aktenordner, das war alles.
Sie nahm ihn heraus und schlug ihn auf.
Obenauf lag eine handschriftliche Notiz: Dear Adi! These people are really bad. You can handle them as you want. Open softly their brain! We want to know … Der Schreiber hatte einen offiziellen CIA-Schreibblock benutzt, und mit seinem Englisch war es nicht weit her. Aber die Botschaft war klar.
Sieh mal einer an, dachte Svenja, das nehme ich doch besser gleich mit. Sie entdeckte einen Pilotenkoffer und stopfte den Aktenordner hinein.
Danach betrat sie einen Raum nur mit Computertechnik und zahllosen Telefonen. Auch hier nahm sie sich mehr Zeit. Sie zog alle erkennbaren Leitungen aus der Wand und aus den Geräten. Sie faserte eine Elektroleitung auf und fabrizierte einen Kurzschluss. Es gab ein scharfes, zischendes Geräusch. Viele Funken. Sie hinterließ, so hoffte sie zumindest, ein Chaos, das so schnell nicht mehr zu reparieren war. Sie nahm alle Disketten aus den Rechnern und steckte sie in einen Umschlag, den Umschlag dann ebenfalls in den Koffer.
Schließlich ein Blick in ein ödes Duschbad mit Toilette.
Bevor sie ging, untersuchte sie den toten alten Mann flüchtig. Er hatte außer der Glock nur ein Handy bei sich und eine dicke Rolle mit US-Dollar in einem Lederbeutel um den Hals. Sie legte das Handy auf den Boden und trat mit dem Absatz mehrmals kräftig darauf, bis es komplett zerstört war. Das Geld und die Waffe steckte sie ein.
Dann ging sie zu dem Jungen, der noch immer wie angenagelt vor dem großen Raum im Eingangsbereich stand.
Sie lächelte: »Herzlichen Glückwunsch zu deinem Mut, junger Mann. Aber das war verdammt leichtsinnig.«
Als sich das Nokia meldete, fluchte sie laut: »Scheiße!« Sie drückte den Anruf weg, aber immerhin wusste sie jetzt, dass Goldhändchen sie gefunden hatte.
»Für eine Frau bist du schwer in Ordnung«, sagte der Junge anerkennend. Dann setzte er seufzend hinzu: »Mein lieber Mann!«
»Lass uns gehen«, sagte Svenja und reichte ihm den Koffer.
»Wieso denn das?« Seine Stimme klang schrill. »Du kannst doch Onkel Tobruks Vater nicht einfach so liegen lassen. Das geht doch nicht. Er muss in ein Krankenhaus, oder?«
»Er ist tot«, sagte sie.
»Er ist tot?«, fragte der Junge entsetzt.
Der Flieger der UNO war elegant ohne jedes Aufsetzgeräusch gelandet. Er hatte seine Fracht vor einer großen Halle ins Freie entlassen, und sie waren brav wie die Schäfchen hintereinander durch eine schmale Tür in das dämmrige Halbdunkel marschiert. Kein Zöllner interessierte sich für sie, kein Polizist, einfach niemand.
Thomas Dehner hatte das schnell begriffen und war geradewegs durch eine Tür auf der anderen Seite der Halle marschiert. Er nahm das erste Taxi aus einer kurzen Reihe und nannte einfach den Namen des Hotels.
Er war todmüde und schlief bereits, kaum dass das Taxi den Flughafen verlassen hatte. In dem UNO-Flieger hatten vier ältere Damen hinter ihm von Rom bis Tripolis ununterbrochen miteinander geplaudert und gekichert. Seine Nerven hatten blank gelegen.
Vor dem Hotel weckte der Fahrer ihn. Dehner bezahlte, ging mit seiner Tasche zur Rezeption und bekam den Zimmerschlüssel 234. Er brachte sein Gepäck hinauf, nahm eine kalte Dusche, zog sich frische Kleidung an und ging hinunter in die Halle.
An der Rezeption fragte er nach Dr. Kai Dieckmann aus Deutschland und bekam die Antwort, der Herr sei leider nicht im Hause und man wisse nicht, wo er sich aufhalte. Nein, er habe keine Nachricht hinterlassen, für niemanden. Aber das Zimmer habe er noch.
Ob denn eine gewisse Shannon Ota aus Irland schon eingetroffen sei, fragte Dehner weiter.
Die junge Frau hinter der Theke nickte ein wenig gelangweilt. Sie könne sich erinnern, diese Dame gesehen und mit ihr gesprochen zu haben. Aber sie habe kein Zimmer genommen. Dann erinnerte sie sich plötzlich an etwas und lächelte: »Ach ja, sie sagte, sie gehöre zum Doctor’s Team.«
»Das ist richtig, das ist mein Team«, sagte Dehner. Er dachte: Sieh an, sie hat uns schon einen Namen gegeben. »Dann noch eine Frage: Ist Mister Arthur Schlauf noch im Haus?«
»Aber ja. Das weiß ich zufällig. Die sitzen im Restaurant. Da entlang, durch die goldene Tür.«
Also ging Dehner durch die goldene Tür.
Arthur Schlauf saß mit einer Frau an einem kleinen Tisch vor einem großen Fenster, und er machte einen überaus gut gelaunten Eindruck. Er lachte laut, während er wild gestikulierend irgendetwas erzählte. Sie aßen und tranken Wein dazu, Rotwein.
Dehner nahm an einem kleinen Tisch Platz, von dem aus er Schlauf gut sehen konnte. Von der Frau an Schlaufs Tisch sah er nur den Rücken.
Ein Kellner kam und fragte nach seinen Wünschen
»Ich hätte gern ein Steak, well done, wenn es geht mit Bratkartoffeln und etwas Speck, aber um Gottes willen keine Süßkartoffeln. Und einen trockenen Weißen. Und gibt es eine Tageszeitung?«
»Zurzeit leider nicht. Vielleicht ein Magazin, der Herr?«
»Also ein Magazin.«
Das Restaurant war fast leer. Für das Abendessen war es noch zu früh, und Dehner war dankbar, als der Kellner ein Magazin vor ihn auf den Tisch legte. »Urlaub in Libyen, Urlaub für die Seele« war der arabische Titel. Dehner musste grinsen.
Ein Mann kam von irgendwoher auf seinen Tisch zu und setzte sich auf den zweiten Stuhl. Er war ungefähr vierzig Jahre alt, ein schmaler, dunkler Typ, drahtig, mit auffallend hellblauen Augen. Er trug ein einfaches rot kariertes Hemd zu Jeans, darüber eine braune Cordweste. Der Mann wirkte auf Dehner seltsam vertraut.
»Ich soll dich von Beta grüßen, Bruder«, sagte er leise auf Englisch und hielt dabei seinen Kopf gesenkt. »Er rief mich vor ein paar Minuten an. Mein Name ist Moshe Jugo aus Tel Aviv. Ich weiß, dass du Max suchst, ich weiß auch, dass du Miri suchst. Ich soll helfen, wenn du Hilfe brauchst.«
Dehner bedachte das für einige Sekunden lächelnd. Beta hieß Esser, Max war Müller, Miri war Svenja. Er erwiderte: »Das könnte wirklich hilfreich sein. Sie sind beide von der Leine, und wir haben keine Ahnung, wo sie jetzt sind. Hast du eine Ahnung?«
»Ich habe null Ahnung. Man müsste wissen, wo Max zuletzt geortet wurde«, sagte der Mann.
»Das weiß ich. Er war zuletzt in Onkel Tobruks Haus, für uns eine Quelle, ein General unter Gaddafi.«
»Lebt dieser General noch?«, fragte Moshe.
»O ja, und wie. Wir sollen ihm sogar ein Flugzeug schicken. Er hat Max, verstehst du? Und Miri jagt beide.«
»Das ist ein Scheißspiel.« Der Israeli lächelte.
»Na ja, wir haben es uns nicht ausgesucht.«
»Dann wissen wir ja, wo wir suchen müssen«, sagte Moshe Jugo.
»Wie bitte?« Dehner war irritiert.
In diesem Moment stand die Frau an Arthur Schlaufs Tisch auf, legte die Serviette neben ihren Teller, wandte sich um und ging quer durch den Raum auf eine Tür zu, auf der WC stand.
»Lieber Himmel!«, flüsterte Dehner. Dann hatte er es plötzlich verdammt eilig. Er sagte nuschelnd zu dem Israeli: »Entschuldige, ich muss schnell telefonieren.«
»Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Habe ich auch.« Dehner drückte drei Nummern auf seinem Handy und wartete, bis der Ruf sich aufbaute.
»Sowinski.«
»Dehner hier. Ich sehe gerade eine Frau am Tisch von Atze. Das ist irgendwie irre. Haben Sie mein Memo aus Tirana schon gelesen?«
»Nein, noch nicht ganz. Wo ist das Problem?«
»Ich habe eine Frau beschrieben, die in Tirana tausend Kilogramm C4 geordert und bar bezahlt hat. Höchstwahrscheinlich mit Ziel Deutschland. Und diese Frau, angeblich aus Schweden, sitzt hier im Restaurant mit Atze zusammen, und sie speisen in aller Gemütsruhe. Kein Zweifel.«