ZWÖLFTES KAPITEL
Das Haus war ganz still.
Karl Müller saß auf einem harten, unbequemen Stuhl, und er hatte Angst vor dem Augenblick, in dem seine Mutter aufwachte und nichts und niemanden erkennen, einfach nicht mehr von dieser Welt sein würde. Er erinnerte sich an Tonis Satz: »Deine Mutter verlässt uns, sie ist immer öfter in ihrer eigenen Welt.«
Da lag sie, so klein und schmal, verlor sich in diesem Riesenbett, in diesen Riesenkissen, und eine lange Strähne ihres feinen weißen Haares hob und senkte sich mit jedem ihrer Atemzüge. Für Sekunden überraschte ihn die Vorstellung, dass dieser alte, winzige, ausgemergelte Körper ihn geboren hatte.
Er erinnerte sich an seinen toten Vater. An die Minuten, in denen er vor dem Schreibtisch gesessen und in der Hinterlassenschaft dieses Vaters gekramt hatte. An die Sekunde, in der er die billigen Magazine fand, in denen Frauen ihre Scham zeigten, öde und trostlos.
So viel unbekanntes Leben.
Toni hatte ihm versichert: »Sie schläft nie lange, sie wacht nach ein paar Minuten auf. Und wenn sie dich sieht, freut sie sich.« Dann setzte er hinzu: »Wenn sie dich erkennt.«
Plötzlich sagte sie: »Ach, Junge!«
»Mama!«, sagte Müller mit trockenem Mund. Er rückte den Stuhl näher an ihr Bett.
»Das ist aber schön«, sagte sie ein wenig nuschelnd. »Wo warst du denn?« Ihre Augen waren wässrig trübe.
»Ich war verreist, Mama. Wie geht es dir denn?« Er fasste nach ihrer schmalen linken Hand und hielt sie fest.
»Ich habe es gut hier«, flüsterte sie. »Toni ist immer da. Warst du an Vaters Grab?« Sie entzog ihm ihre Hand.
»Nein, noch nicht. Ich bin eben erst angekommen.«
»Ich sorge immer dafür, dass er ein paar Blumen kriegt. Deshalb.« Ihre Stimme wurde flach, verschwamm, sie schloss die Augen wieder, drehte den Kopf ein wenig zur Seite, und die Haarsträhne über ihrem Mund bewegte sich wieder mit ihrem Atem.
»Mama?«
Dann saß er da und begriff quälend langsam, was Toni damit gemeint hatte, dass seine Mutter immer öfter in einer eigenen Welt war. So weit fort und unerreichbar.
Müller saß noch eine Stunde neben seiner Mutter, aber sie nahm ihn nicht wahr. Ein wenig Speichel floss aus ihrem linken Mundwinkel. Müller tupfte ihn behutsam weg.
Goldhändchen wollte einen perfekten Angriff führen, und dazu gehörte ein passendes Ambiente.
Er hatte den kleinsten Konferenzraum für die nächsten sieben Tage belegt, er brauchte täglich viele Kannen Kaffee, dazu eine Menge belegte Schnittchen, etwas Kuchen, viele Kekse, auf jedem Platz eine kleine Vase mit einer purpurfarbenen Rose. Schon allein bei diesem Arrangement war vollkommen klar, dass die rumänischen Putzfrauen bereits nach einem Tag meckern würden. Reichlich Aschenbecher sollte es geben, obwohl kein Mensch ernsthaft glaubte, dass Goldhändchen rauchte, und die Hausverwaltung bereits mehrere Male streng darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Rauchen in den Konferenzräumen strikt verboten sei. Die Hausverwaltung hatte das schriftlich mitgeteilt und ihn gebeten, das Papier abzuzeichnen und zurückzuschicken. Er hatte einen Satz als Kommentar hinzugefügt und es zurückgeschickt: »Liebe Hausverwaltung, Sie haben nicht die geringste Vorstellung, welch perfekte Arbeitswelt die der Raucher gewesen ist.« Die Hausverwaltung hatte den Kommentar erbost an die Leitung des Dienstes geschickt, allerdings ohne viel Hoffnung, und tatsächlich war ein Machtwort ausgeblieben. Also bekam der Raum Aschenbecher. Goldhändchen hatte sechs Leute einbestellt, drei junge Frauen, drei junge Männer. Sie fühlten sich geehrt, noch ehe ein Wort zu ihrer Aufgabe gesagt worden war. Sie saßen da wie Erstklässler und starrten den Chef an, den sie entweder hassten oder aber glühend verehrten, was zuweilen durchaus zusammenfiel und sie heftig verwirrte.
Allein die Frage nach Goldhändchens Sexualleben füllte Stunden heftigster Diskussionen. Was, zum Teufel, war dieser Mann eigentlich? Schwul, Transe, bisexuell? Und wie alt mochte der wohl sein? Die meisten schätzten ihn auf Mitte vierzig. Andere behaupteten, er sei mindestens fünfundsechzig und könne das nur stundenweise mit einem exzellenten Make-up verdecken. Deshalb liege sein Kommandopult auch ständig im Dämmerlicht.
Wie ausgerechnet ein solcher Mann eine leitende Position in einem Geheimdienst ergattert hatte, war allen ein Rätsel, und natürlich vermutete man auch dahinter große Geheimnisse. Niemand wusste, wo er wohnte, und niemand hatte ihn je auf den Straßen Berlins gesehen. Dass er seinen Job der Tatsache verdankte, dass eines Tages selbst der BND den Anbruch des Computerzeitalters akzeptieren musste, war einfach zu nüchtern für die erhitzten Gemüter.
Goldhändchen saß am Kopf des großen ovalen Tisches. Er trug weiße Hosen zu schwarzen Budapestern, ein weißes, elegant fallendes Seidenhemd, dazu ein locker gebundenes schwarzes Tuch.
Er sagte: »Meine Lieben. Ich danke euch, dass ihr in dieser Sache mit mir zusammenarbeiten wollt. Ihr werdet ohne Rücksicht auf Arbeitszeiten in diesem Raum angekettet sein, ihr werdet das Beste geben müssen. Es ist die Aufgabe von Spionen, herauszufinden, was andere tun, planen und denken. Und zuweilen fällt das schwer, denn einige von euch finden es empörend, dass dieser Dienst bei der Unterstützung fremder und rigider Regierungen in anderen Kulturkreisen vollkommen blind und taub arbeiten muss, weil er dabei ständig zu übersehen hat, dass die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Warum? Weil die Regierung es so will und weil es letztlich immer nur um einige miese Millionen Barrel Erdöl pro Jahr geht. Und diesen Leuten schicken wir sogar noch Kriegsgerät. Das ist schwer zu verstehen, das ist zuweilen nur mit Demut zu ertragen, und selbst dann flippt der eine oder andere manchmal aus und besäuft sich in der nächsten Eckkneipe. So weit, so leider.«
Er sah sie an. Er hatte eine Schachtel mit Mentholzigaretten vor sich liegen, öffnete die Schachtel und ließ sie weiterwandern.
»Ich denke, wir rauchen mal eine, ehe wir uns unserem Auftrag zuwenden. Dieser Auftrag ist sehr speziell. Lydia, mein Schatz, würdest du bitte mal die Platten mit dem Essbaren kreisen lassen? Du, Sandor, könntest die Tassen füllen. Und du, Guido, kannst mal mit dem Feuerzeug herumgehen, damit wir die gute Luft verscheuchen und es nicht mehr so aufdringlich nach Klimaanlage riecht.«
Jeder der Beteiligten hatte einen Laptop vor sich, der jetzt aufgeklappt und eingeschaltet wurde. Alle diese flachen Wunderdinger waren fabrikneu und enthielten absolut nichts. »Nur dann können wir bekanntlich nichts falsch machen«, hatte Goldhändchen gesagt und im Übrigen angemerkt, dass diese Wundergeräte zu nichts anderem verwendet werden würden als einzig zu diesem speziellen Auftrag. Danach hatten sie die Laptops wieder abzuliefern.
»Normalerweise versuchen wir, auf Menschen zu treffen, die uns mit irgendetwas dienlich sein können, mit Fakten, mit Zusammenhängen, mit neuen Lagen, wie wir das nennen, mit Hintergründen. Wir brauchen ein klares Bild der Welt hinter der Welt. Diesmal, meine Lieben, wird es vollkommen anders sein. Diesmal werden wir versuchen, den BND scheinbar durchsichtig zu machen. Wir werden eine derart dicke Suppe an Gerüchten verbreiten, dass die Internetwelt sich verblüfft fragen muss, ob sie das träumt oder ob das tatsächlich die Wahrheit ist.
Ihr lebt in dieser Stadt, die ein ständiger dicker Brei von Gerüchten ist. Und diese ekelhaften, an jedem Tag auftauchenden neuen Fragen: Ist dieser oder jener tatsächlich schwul und schläft mit seinem Fahrer? Stimmt es, dass dieser Bundestagsabgeordnete monatlich viele Tausende dafür kassiert, dass er einen Industriellen und dessen Produkte vertritt und gleichzeitig behauptet, er kenne diesen Mann gar nicht? Ist diese Frau, die so edel und hilfreich im Dienst der Menschheit lebt, tatsächlich eine Lesbe, die mindestens einmal im Monat eine wilde Orgie steigen lässt? Und ist dieser Bundespräsident tatsächlich so dumm, wie er sich verhält? Ja, ja, ich weiß, ich langweile euch schon. Alles, was ich erwähnte, ist für euch Pipifax, kein Nachdenken wert. Aber Vorsicht! Denn wir werden alle diese Spießer besuchen und ihre Spielchen mitspielen.
Wir werden eine Menge von erstklassigen Gerüchten kreieren. Um ein einzelnes Schwein oder eine ganze Interessentengruppe zu entlarven, die es riskiert hat, unseren Dienst zu unterwandern. Ihr werdet ständig in fremden Rechnern unterwegs sein, dabei werdet ihr euch niemals zu erkennen geben, ihr werdet also niemals zu identifizieren sein.«
Zu diesem Zeitpunkt drückten die meisten von ihnen schon ihre Mentholzigarette aus. Sie hatten nicht einmal daran gezogen.
»Jetzt guckt nicht so verdattert, meine Lieben, das ist mein voller Ernst. Ihr seid doch alle super Programmierer, also werdet ihr hier mal zeigen können, was ihr wirklich draufhabt. Dies ist die erste Arbeitsstunde einer wirklich großen Aufgabe.
Ich nenne euch ein paar Begriffe, die in den kommenden Tagen für eure Arbeit wichtig sind: das private Umfeld der Kanzlerin im Bereich ihrer Eltern und im Bereich der evangelischen Kirchengemeinde ihres Vaters. Das gesamte Bundeskanzleramt natürlich auch. Dann ein Mann namens Arthur Schlauf, Kaufmann. Herbert Nieswandt, BND. Madeleine Wagner, wahrscheinlich Braunschweig, wahrscheinlich dreißig Jahre alt. Die Staatsanwaltschaften zur Aufklärung von Steuerdelikten im Regierungsbereich Potsdam, hier die Steuerfahndung, besonders Buchstabe S, eine Steuernummer reiche ich nach.«
Ihre Finger glitten lautlos über die Tasten, sie schrieben die Namen mit, sie schrieben alles mit, was ihr Herr und Meister sagte.
»Und das sind die Gerüchte, die möglicherweise über diesen Dienst im Umlauf sind: selbstherrliches Gebaren der Operationsleitung seit Jahrzehnten. Duldung von gefährlichen Liebschaften innerhalb der Gruppe der Außenagenten. Schwule Agenten, die gefördert werden. Das völlige Verschleiern von schweren Niederlagen der Agenten bei Auslandseinsätzen. Und hier noch ein besonders apartes Gerücht: Der BND arbeitet im Ausland mit Managern und Kaufleuten zusammen, die Deutschland wegen hoher Steuerschulden verlassen haben oder aber von deutschen Staatsanwaltschaften wegen Steuerhinterziehung gesucht werden. Das könnte man dann als Zusammenarbeit mit Gaunern und Gangstern bezeichnen. Und noch etwas: die ständige Arbeit des BND in der Bundesrepublik Deutschland, obwohl gesetzlich untersagt. Jetzt kommt euer absoluter Zielpunkt: Er lautet AX (d). Unter diesem Kürzel lief in unserem Rechnungswesen ein sehr guter Informant. Eigentlich darf dieses Kürzel niemand haben, aber irgendjemand hat es herausgefunden. Setzt also bei unserem Rechnungswesen an, nehmt die Leute auseinander. Ich will alles über sie haben, auch die Farbe ihrer Lokusbrille.«
Jetzt starrten ihn alle an, sie waren wirklich verblüfft, und ihre irritierten Gesichter brachten ihn zum Lachen.
»Ja, ich weiß, das klingt ordentlich nach Klatsch und Tratsch, aber auf genau dieser Ebene findet das alles statt, und auf genau dieser Ebene werden wir den oder die finden, die es riskieren, diesen Dienst anzugreifen. Ihr werdet euch untereinander vernetzen, sodass jeder ständig sehen kann, an welchem Punkt der andere ist, mit wem er kommuniziert, was er auf dem Schirm hat. Vorher werdet ihr die jeweiligen Arbeitsbereiche unter euch ausmachen. Dazu braucht ihr mich nicht. Wenn irgendetwas auftaucht, was nach Aufregung aussieht, nach Erkenntnis, dann werdet ihr mir das kurz und knapp mitteilen.
Stellt euch also vor: Ihr seid ekelerregende, schleimige Wesen im grauen Sumpf der Gerüchte. Macht mit! Nehmt teil! Streut selbst Gerüchte. Fahrt eure langen Arme aus und saugt euch fest, wo immer ihr könnt. Und wenn ihr dann feststellen solltet, dass ihr eines dieser widerlichen Geschöpfe erwischt habt, dann wickelt es ein.«
Er sah sie an, und es war deutlich, dass er auf sie setzte.
»Da gibt es noch etwas. Dir, Ödil, möchte ich eine Aufgabe zuweisen, die nur auf den ersten Blick nichts mit den Aufgaben der anderen zu tun hat. Da hat jemand, nämlich die bereits genannte Madeleine Wagner, tausend Kilogramm des Sprengstoffs C4 in Albanien gekauft. Jetzt will sie diesen Stoff nach Deutschland bringen. Das ist bisher nicht bestätigt. Es könnte aber sein, dass die Fracht bereits auf dem Weg ist und dass es einen Plan gibt, den Stoff unterwegs wechselnden Lkws aufzuladen und die Besatzung des jeweils vorigen Lasters zu töten. Das passiert auf öden öffentlichen Parkplätzen. Ich habe das Material auf Rechner sechsundzwanzig. Hol es dir auf den Schirm, schau es dir genau an und fahnde nach solchen und ähnlichen Ereignissen. Mach uns schlau über die Millionen Trucks, die auf europäischen Straßen unterwegs sind. Diese Menge an C4, das zu deiner Kenntnis, reicht aus, um mehrere sechsstöckige Häuser buchstäblich zu pulverisieren.«
Die Sonne schien, sie lagen angezogen nebeneinander auf dem breiten Bett in Svenjas Wohnung und starrten auf das Foto, das Krause ihr »leihweise« überlassen hatte.
»Okay«, sagte sie, »lass uns also herausfinden, von wo aus dieser Fotograf gearbeitet hat. Er muss auf einem Dach gewesen sein. Und zwar auf dem Dach des Gebäudes, das schräg links von hier aus zu sehen ist. Ich frage mich ernsthaft, was für ein Wunderding an Kamera der verwendet hat.«
»Kein Wunderding«, widersprach Müller. »Es gibt moderne, sauteure Kameras, die von da oben aus ein tolles Porträt von dir machen, selbst wenn das einzige Licht eine Kerzenflamme neben deinem Gesicht ist.«
»Auch aus der Distanz?«
»Ja, auch aus der Distanz. Dieses Foto ist bei schwindendem Licht, also gegen Abend gemacht worden, die Distanz liegt bei etwa fünfzig Metern, schätze ich. Den Zeitpunkt, wann das war, werden wir bestenfalls einengen, aber nicht genau bestimmen können. Oben auf dem Gebäude sieht man ein Geländer, ich gehe also davon aus, dass wir es mit einem Penthouse zu tun haben. Da stehen auch kleine Bäume in Kübeln, wie man sieht. Egal wie, wir müssen da rauf!« Er sah sie an. »Und Krause hat ausdrücklich gesagt, er leiht dir das Foto? Okay, wenn das so ist, dann will er, dass wir uns darum kümmern.«
»Wir teilen das auf«, legte Svenja fest. »Ich nehme das Penthouse, du gehst in Bens Kneipe und suchst nach dem Mann, der mir angeblich einen Job anbieten wollte. Und ich denke, du solltest Goldhändchen anrufen und ihm die Lage des Penthouse erklären. Vielleicht kann er in einem seiner Zauberbücher nachsehen, mit wem wir es zu tun haben. Hast du Schmerzen?«
»Habe ich, ist aber nicht so schlimm. Ich darf die Memos über Tripolis nicht vergessen. Sowinski steht mir schon auf den Hacken. Ich schreibe erst, dann gehe ich zu Ben. Du könntest also jetzt das Penthouse besuchen. Wir regeln das mit einer ständigen Verbindung. Wenn du einen Ohrknopf nimmst, ist das sicher, und ich weiß immer, wie es dir geht.«
»Glaubst du, dass deine Mutter bald stirbt?«, fragte sie unvermittelt.
»Toni sagte mir, dass es Fälle gab, in denen die Leute noch ein halbes Jahr in diesem Zustand lebten. Aber er sagte auch, dass die Phasen, in denen sie ihre Umwelt wahrnehmen, immer seltener werden. Er ruft hier an, wenn irgendetwas ist. Ich hoffe nur, sie muss sich nicht so lange quälen. Und jetzt greife ich mal auf unseren bewährten Mitarbeiter an den Computern zurück.«
Wie üblich versuchte Goldhändchen sich rar zu machen und sagte sehr zurückhaltend: »Guten Tag, mein lieber Freund, eigentlich habe ich keine Minute Zeit.«
»Aber es ist dringend!«, betonte Müller. »Wir wollen einbrechen.«
»Ja, gut, aber nur sechzig Sekunden.«
Müller versuchte zwar, das Problem in sechzig Sekunden darzustellen, brauchte aber natürlich mehr als zwei Minuten.
»Ich schaue mal, was ich machen kann«, murmelte Goldhändchen mit der Attitüde des Künstlers. »Ich rufe dich zurück.«
Nach erstaunlich kurzer Zeit rief er zurück und sagte: »Da hast du aber ein ganz besonderes Schätzchen aufgetan, mein Lieber. Hausnummer sechs. Der Bewohner des Penthouse ist ein gewisser Ulrich Schmallenberg, Ulk genannt. Sein Hauptberuf ist Sohn und Erbe. Sein Vater ist Gründer eines Versandhauses, das im Wesentlichen Herrenbekleidung anbietet. Hemden, Schuhe und so weiter. Du weißt schon: Du bestellst drei Oberhemden und zahlst nur zwei. Klingt verblüffend günstig, ist es aber nicht. Ulrich Schmallenberg hatte ursprünglich die Absicht, in die Produktion deutscher Spielfilme einzusteigen. Das nahm er auch in Angriff, stolperte dann aber über zahlreiche Sternchen der dritten und vierten Kategorie, mit denen er ins Bett stieg und nicht wieder herausfand. Inzwischen ist er mit Ausnahme eines Taschengeldes vom Vater pleite, treibt sich von morgens bis abends in der Stadt herum, und das Penthouse bewohnt er nur deshalb, weil sein Vater es für ihn gekauft hat. Das Gleiche gilt für den Porsche, den er fährt. Der Junge gibt sich alles: Hasch, Speed, Tranquilizer, Koks, das ganze Gedöns. Vorbestraft ist das Söhnchen auch. Wegen Drogenbesitz und Trunkenheit am Steuer. Der Knabe ist sechsunddreißig Jahre alt, und nach meiner Einschätzung braucht ihr wirklich nicht bei ihm einzubrechen. Geht einfach hin und klingelt! Aber damit ihr nicht verloren umherirrt, habe ich zwei Telefonnummern, Festnetz und Handy. Wenn ihr euch bedienen wollt, bitte sehr …« Dann zögerte er, wollte noch etwas sagen, ließ es aber.
»Was ist jetzt?«, fragte Müller.
»Na ja, ich könnte dir ein Foto von diesem Schmallenberg rüberbeamen, geht aber nicht. Frau Takamoto ist ja abgeschaltet.«
»Verdammt noch mal«, schnauzte Müller. »Seit wann bist du denn ein solcher Kleingeist?«
»Eigentlich noch nie gewesen.« Goldhändchen schien bedrückt. »Ach, weißt du was? Wenn sie mich erwischen, war das ein Irrtum. Gut, ich schicke das Foto.« Kurz darauf piepste das Fax, Müller nahm das ausgedruckte Bild und reichte es an Svenja weiter.
»Der sieht so brav und bieder aus, da gehe ich hin und klingele«, entschied Svenja.
»Okay«, sagte Müller. »Ich werde bei dir sein.«
Svenja ging hinunter, trat auf die Straße, prüfte kurz, ob die Verbindung zu Müller sauber war, und bog dann in die Nebenstraße ein.
»Es ist ein normaler sechsstöckiger Bau«, sagte sie. »Ich zähle acht Klingeln. Das Haus ist gehobener Standard. Die oberste Klingel ist ohne Namen. Ich versuche es dort.«
»Als was willst du auftreten?«
»Gute Frage. Ich bin einfach eine neugierige Frau«, sagte sie. »Da fällt mir schon etwas ein, und außerdem habe ich das Recht zu fragen, wenn ich so fotografiert werde.« Sie lachte. »Du wirst mich hören. Hier ist ein Lift, ich steige ein.«
»Pass auf dich auf. Hoffentlich geht das gut.«
Als Nächstes hörte Müller Svenja in hellem Erstaunen sagen: »Ja, grüß dich, Ulk. Ich sehe, du hast Besuch. Da will ich nicht lange stören. Ich komme für die Stantons-Leute. Die schmeißen heute Abend eine Party und brauchen was.«
Eine männliche Stimme sagte: »Häh?«
»Ich kann auch wieder verschwinden. Ich wusste ja nicht, dass du hier eine Konferenz hast.«
Derselbe Mann sagte etwas gequält: »Nein, nein, schon gut. Das sind Freunde. Du kannst was haben. Was soll es denn sein?«
Ein anderer Mann fragte: »Wer bist du denn, Mädchen?«
»Sally«, antwortete Svenja. »Wie gesagt, ich kann auch wieder gehen und später wiederkommen. Also, ich will hier nicht stören. Ich dachte, Ulk ist allein. Jetzt sehe ich drei Macker und frage mich, ob mir das peinlich sein muss.«
»Was brauchst du denn?«, fragte die erste männliche Stimme, von der Müller annahm, dass sie Ulrich Schmallenberg gehörte.
»Die übliche Cocktailmischung«, antwortete Svenja schnell. »Also sechzig- bis siebzigmal Koks, aber nur erstklassige Ware. Verschnitt will ich nicht, damit kann ich nichts werden. Dann was Gutes zum Runterkommen für die Nacht, also am besten Zwanziger Valium, wenn es geht, das Original. Auf keinen Fall irgendwas von den Polen, und auch nichts von den Rumänen. Schon gar nichts aus Holländerküchen. Nur sauberes Zeug.«
»Lieber Gott!«, hauchte Müller. »Mach jetzt keinen Scheiß.«
»Okay«, sagte die tonlose Stimme. »Darüber kann man reden. Aber du zahlst bar, Mädchen, sonst überlasse ich dich meinen Kumpels.«
»Keine Drohung! Ich zahle bar. Wenn es recht ist, in US-Dollar. Und noch was, Ulk: Kann ich mal für kleine Mädchen?«
»Geh ruhig pinkeln«, sagte Ulk und lachte. »Du weißt ja wohl noch, wo. Dann reden wir weiter.«
»He«, sagte die tonlose Stimme, »was hier abgeht, bestimme ich, oder? Na gut, ich will nicht, dass du dir in die Hose machst, aber dann will ich die Dollar sehen, damit das klar ist.«
»Ja, ja, schon gut«, sagte Svenja.
Es waren keine Schritte zu hören, also bewegte sie sich auf Teppichboden.
Eine Tür ging auf, wurde wieder geschlossen, ein helles Knacken für den Riegel. Dann kam ein lautes Rauschen. Wahrscheinlich ließ Svenja Wasser laufen.
»Das sind Dealer, und sie haben das Sagen. Auf dem Glastisch liegen locker zwanzig, dreißig Kilo. Ich weiß nicht mal, was genau. Speed und Koks und anderes Zeugs. Ulk gegenüber betone ich, dass wir uns kennen. Er ist völlig zu, hat ein paar Lines vor sich auf dem Tisch. Wahrscheinlich bezahlen sie ihn mit Stoff dafür, dass sie in seiner Wohnung dealen können. Was jetzt?«
»Ich lass mir was einfallen!«, sagte Müller. »Zieh es raus, solange es geht, und riskiere nichts.«
Er hörte, wie das Wasser abgedreht wurde und sie die Tür aufmachte.
Er rief Sowinski an.
»Ja, was willst du?«
»Ich brauche Drogenfahnder. Jetzt. Svenja sitzt knietief in einer Falle. Hier die Adresse. Hast du das?«
»Habe ich«, sagte Sowinski sehr ruhig. »Ich tue, was ich kann.«
Der Mann mit der merkwürdig tonlosen Stimme sagte: »Ich hoffe, du hast Pipi gemacht. Und jetzt wollen wir das Geld sehen. Hast du ausgerechnet, wie viel du vorlegen musst?«
»Ja«, sagte Svenja. »Ich lege für das Paket neuntausend Dollar auf den Tisch. Aber ich will den Stoff sehen und probieren, sonst läuft gar nichts. Und bei den Tranquilizern will ich die Originalverpackungen sehen. Nur das Original-Valium, sonst nichts. Und versucht nicht, mir den Mond zu verkaufen, ich weiß selbst ganz genau, was ich will.«
»Du bist aber ein Schätzchen«, sagte die flache Stimme, und darin lag unverkennbar ein Hauch Anerkennung. »Und wahrscheinlich hast du auch eine Waffe bei dir und schießt mich richtig tot, wenn ich nicht gehorsam bin.«
Einige Männer lachten.
»Ja«, sagte Svenja gelassen. »So was passiert schon mal.«
Die Männer lachten wieder.
»Also, setz dich doch. Hier ist das Valium, Originalverpackung.«
»Ich stehe lieber«, sagte Svenja. »Das Valium geht okay. Jetzt das Koks.«
Müller wusste, was sie jetzt tat. Sie nahm etwas Kokain auf den Zeigefinger und rieb sich damit über das Zahnfleisch. Wenn es kalt und gefühllos wurde, war der Stoff sauber.
»Okay. Das geht auch«, sagte Svenja. »Also siebzig Portionen, macht rund hundert Gramm. Nicht portionieren, einfach in eine Tüte. Und jetzt setze ich mich mal, bis ihr fertig seid. Mann, Ulk, lange nicht gesehen. Ich weiß noch, wie du im Adlon mal einen Haschkuchen vernascht hast und anschließend nicht mehr wusstest, wer du bist.« Sie lachte, und die anderen stimmten ein.
Dann schrillte die Türklingel.
»Der Nächste«, sagte Ulk gelangweilt.
»He, das ist aber Scheiße, Leute«, moserte Svenja. »Keiner soll mich hier sehen.«
»Sie hat recht«, sagte der mit der flachen Stimme. »Lass sie lieber woanders warten. Sie ist ein Profi.«
Müller schätzte ihn als sehr gefährlich ein. Er wirkte überaus kontrolliert. Wahrscheinlich trug er eine Waffe und würde sie auch ohne Hemmung einsetzen.
»Geh in mein Schlafzimmer, nein, in die Küche, dritte Tür rechts«, sagte Ulk.
»Hoffentlich finde ich da einen Champagner«, sagte Svenja.
Müller hörte, wie sie eine Tür öffnete und dann wieder schloss.
»Hast du eine Idee?«, fragte sie.
»Schau nach dem Champagner für dich«, sagte er mit einem leichten Glucksen in der Stimme. »Aber übertreib es nicht.«
Er hörte, wie sie den Eisschrank öffnete.
»Er hat tatsächlich Schampus da«, sagte sie.
»Na dann Prost!«, sagte Müller. »Sieh zu, dass du da bald rauskommst.«
»Okay.« Er hörte, wie sie den Korken mit einem Plopp hochkommen ließ. Dann das gluckernde Geräusch, als sie eingoss.
Nach einer Weile hörte er erneut die Tür. Ein Mann sagte: »Alles klar, du kannst jetzt abrechnen.«
Dann war es kurz still.
»Okay«, sagte Svenja. »Danke für den Champagner. Hier sind neuntausend Dollar für euch. Ich will meinen Stoff und bin dann mal weg.«
»Du könntest für mich arbeiten«, sagte der mit der flachen Stimme.
»Nee!«, sagte Svenja. »Der Markt ist mir zu unübersichtlich, und die Typen sind mir zu gierig. Es reicht, wenn ich mal was besorgen muss.«
»Und wovon lebst du?«, fragte die flache Stimme.
»Versicherungen«, antwortete Svenja. »Was könntest du mir denn anbieten?«
»Zunehmende Kontrolle des Marktes«, sagte der Mann. »Aufpassen, dass man nicht auf faule Kunden trifft.«
»Und die Bezahlung?«, fragte Svenja.
»Monatslohn«, sagte die Stimme, ohne eine Sekunde zu überlegen. »Fünftausend für den Anfang, kann sich aber steigern.«
»An wen wende ich mich denn, wenn ich dich sprechen will?«
»An Charlie. Der steht da am Fenster, der passt auf mich auf. Er ist abends in einer Kneipe am Prenzlauer Berg. Kastanienallee. Ist ein Pizzaladen, gutes Geschäft, saubere Kunden.«
»Ich werde mir das überlegen«, sagte Svenja.
Dann klingelte es wieder. Jemand bewegte sich zur Tür, fragte: »Ja, bitte?« Er klang wie Charlie.
Müller konnte nicht verstehen, was der Besucher wollte, aber Charlie sagte: »Okay, komm rauf!«
»Muss ich noch mal in die Küche?«, fragte Svenja schnell.
»Nein, das geht so«, sagte die flache Stimme beruhigend. »Ist wohl jemand, der was anbieten will. Ein Profi, aber keine große Nummer.«
»Wie schön!«, murmelte Svenja. »Hat jemand von euch bösen Jungs eine Zigarette für mich?«
»Ja, klar«, sagte Charlie vor dem Fenster. »Haben wir doch.«
Dann war es für Sekunden ganz ruhig, bis Charlie sagte: »Hier, Mädchen.«
»Danke!«
Etwas klickte, wahrscheinlich ein Feuerzeug.
Dann hörte man eine tiefe Männerstimme: »Polizei! Bewegen Sie sich nicht. Alle auf den Boden! Alle!«
Es war plötzlich sehr still, bis einige dumpfe Geräusche ertönten. Dann knallte ein Schuss, mörderisch dicht am Mikrofon.
»Scheiße!«, schrie Müller.
Dann war es wieder ganz still.
»Auf den Boden!«, befahl dieselbe Männerstimme. »Klaus, ruf mal den Notarzt. Schussverletzung.«
»Was soll das denn?«, fragte eine Stimme kichernd. Das konnte nur Ulk sein, den das Kokain zum lieben Gott machte.
»Warum schießt du denn auf mich?«, schrie Charlie.
»Junge Frau, Sie legen jetzt Ihre Waffe neben sich auf den Boden!«, bestimmte eine scharfe Männerstimme. »Wer ist der Besitzer dieser Wohnung?«
»Ich, der kleine Ulk. Was macht ihr denn hier für ein Theater, Leute? Ist doch nichts passiert. Das klären wir, dann geht jeder nach Hause, und später treffen wir uns wieder und lachen drüber!«
»Klaus! Schaff diese Frau hier raus. Am besten in einen anderen Raum. Identifikation und so. Hol mal ihre Waffe da vom Teppich, Kurt. Sieh mal einer an, da haben wir aber einen Tante-Emma-Laden mit einem ordentlichen, breiten Warenangebot. Und wer ist hier der Chef?«
»Na ich«, sagte Ulk. »Wer denn sonst?« Er kicherte schrill.
Dann war es wieder still.
Plötzlich eine leise Männerstimme: »Machen Sie, dass Sie Land gewinnen. Wir rufen Sie an.« Eine Tür wurde bewegt und geschlossen.
»So eine Scheiße!«, rief Müller.
»Ganz recht!«, kam Sowinskis Stimme eisig und voll Hohn. »Die Frau hat ein Disziplinarverfahren am Hals. Sie ist offiziell abgeschaltet und mischt hier fröhlich Drogendealer auf! Zieht sogar die Dienstwaffe und legt einen von denen auf den Teppich. Wenn das rauskommt, können wir alle unseren Hut nehmen.«