ACHTZEHNTES KAPITEL
Goldhändchen saß im dunklen Reich seiner Bildschirme und kontrollierte, was seine Jünger an Gerüchten und übler Nachrede über den Geheimdienst herausfanden, was sie selbst dazu beitrugen und wie sie sich freuten, wenn sie selbst ein Gerücht streuen konnten.
Aber er war nicht bei der Sache, er war niedergedrückt, dachte darüber nach, was aus ihm werden könnte, wenn die Gerüchte und üblen Nachrichten über ihm zusammenschlagen würden. Selbstverständlich würde es heißen, er sei über die Jahre ein Hacker gewesen, ein ehemaliger Krimineller, ein Einbrecher in die geheimnisvollen Welten der Banken, der staatlichen und militärischen Organisationen. Sie würden über ihn schreiben und berichten, und sie würden Fotos von ihm finden, auf denen er wie ein Pennäler aussah. Sie würden herausfinden, dass er vorbestraft war. Vorbestrafte, so dachte er, konnten nicht im Geheimdienst arbeiten. Er hatte panische Angst vor der Szene, die sich immer wieder vor seinem inneren Auge abspulte: Krause an seinem Schreibtisch mit ernstem Gesicht. Er schaute ihn nicht einmal an, sondern sagte nur auf eine endgültige, steinerne Weise: »Es tut mir leid, mein Lieber, wir müssen uns von Ihnen trennen!«
Aus dem großen Raum der Überwacher kam eine Meldung, die ihn aus seinen Gedanken riss: »Rechner sechzehn, ich habe eine Nachricht für Sie, Sir.«
»Was ist passiert?«
»In Wittenberg wurde ein Mann mit einer Gitarrensaite stranguliert.«
»Wann?«
»Vor einer Stunde ist er in seinem Haus aufgefunden worden.«
»Wer ist es?«
»Das wissen wir noch nicht. Das ist Sache der Mordkommission, jedenfalls kann ich das hier lesen.«
»Wittenberg, die Lutherstadt?«
»Genau die!«
»Welche Polizei?«
»Lokale Einheit.«
»Her damit!« Er drückte die stehende Verbindung zu Sowinski und Esser. »Wir haben hier eine üble Neuigkeit«, sagte er. »In Wittenberg ist ein Mann zu Tode gekommen. Mit einer Gitarrensaite. Wie reagieren wir?«
»Ganz sicher? Keinerlei Zweifel?«, fragte Esser scharf.
»Sieht so aus, ja.«
»Dann gehen wir rein!«, befahl Esser. »Erst brauche ich die lokale Polizeieinheit, also die Kripo, dann das BKA. Ich bin der Meinung, wir sollten ohne Anfrage reingehen, als Besucher. Das bedeutet, dass die lokale Gruppe nur sichert. Ich brauche das BKA, den Präsidenten oder seinen Vertreter. Ist der Name des Toten schon festgestellt?«
»Nein, noch nicht.«
»Wen schicken wir?«
»Wir haben nur Dehner«, sagte Sowinski seufzend. »Alle anderen sind draußen. Und Dehner ist völlig erschöpft.«
»Okay. Wir bieten dem BKA Mitflug an und nehmen einen Helikopter. Hat die Flugbereitschaft einen?«
»Hat sie«, sagte Sowinski. »Wir könnten zusätzlich Müller hinschicken. Der ist in der Gegend von Braunschweig.«
»Dauert mir zu lange«, entschied Esser.
Matthias Probst aufzutreiben war einfach gewesen. Sie hatten nur in der Fleischerei Mundt anrufen müssen, um sich mit ihm zu verabreden. Jetzt saßen sie ihm auf zwei kleinen Sesseln gegenüber in seiner winzigen Wohnung unter dem Dach eines Neubaus.
»Es geht um Madeleine Wagner. Wir haben schon mit ihrer Mutter in Grassel gesprochen. Stehen Sie noch in Verbindung mit Madeleine?«, fragte Müller mit einem freundlichen Lächeln.
»Nein«, antwortete Probst knapp. Er war ein schmaler, mittelgroßer Mann mit einem grauen Teint und hellen Augen. Seine Hände waren die eines Arbeiters, und sein Gesicht zeigte einen Tick: Das linke Augenlid flatterte zuweilen unkontrolliert.
»Frau Wagner hat uns berichtet, dass Sie der wichtigste Freund in den Jugendjahren ihrer Tochter waren«, sagte Svenja. »Wie war das damals?«
»Waren wilde Zeiten. Aber wieso fragen Sie das? Ist irgendwas los mit Madeleine?«
»Nein, nein«, antwortete Müller. »Sie hat auf einer Bank ziemlich viel Geld liegen, hat sich aber nicht mehr darum gekümmert. Wir wissen zwar, dass sie im Ausland lebt, aber nicht, wo. Also müssen wir Erkundigungen einziehen.«
»Ich habe kein Geld von ihr gekriegt«, sagte Probst und lachte. »Wie viel ist es denn?«
»Ziemlich viel.« Svenja lächelte ihn an. »Wir dürfen keine Auskunft darüber geben, das verstehen Sie doch sicherlich. Wenn Sie an die alten Zeiten denken, woran denken Sie dabei besonders?«
»Daran, wie Madeleine sie alle verladen hat. Sie hat getrickst, dass es wehtat, und meistens ist sie damit durchgekommen.«
»Wie sahen die Tricksereien denn aus?«, fragte Svenja weiter.
»Das fing schon in der Schule an. Sie hat den Lehrern ständig was vom Pferd erzählt, und die haben es geglaubt. Und später wurde es immer schlimmer. Manchmal hat sie auch für Geld die Beine breit gemacht. Da war sie streng genommen noch ein Kind.« Er sah zum Fenster und schüttelte den Kopf, als könne er es immer noch nicht begreifen. »Also, ich weiß sicher, dass sie mit zwei Lehrern geschlafen hat. Und das nur wegen einer Wette. In unserer Clique.«
»Wie lief das ab?«, fragte Müller.
»Na ja, sie hat mit uns gewettet, dass sie das schafft. Und sie hat gesagt: Wenn ihr wollt, könnt ihr es ja beobachten! Und das haben wir auch getan, fünf Mark mussten wir dafür zahlen. Das war viel damals. Sie machte es mit den Lehrern in einer Scheune, und wir haben zugesehen.«
»Schlief sie gern mit Männern?«, fragte Svenja.
»Nein, eigentlich nicht«, antwortete er. »Das ist ja das Komische. Sie war irgendwie eiskalt dabei. Sie sagte immer: Das ist einfach, weil die Kerle immer geil sind. Ich habe sie mal gefragt, ob sie dabei einen Orgasmus hat. Da hat sie gelacht und gesagt: Nie! Wozu denn das?«
»Aber Sie selbst haben doch sicher auch mit ihr geschlafen, oder?«, fragte Svenja.
»Ja, das habe ich. Wir waren ja fast noch Kinder, und Sex war irgendwie geheimnisvoll. Also, für mich zumindest. Aber mit ihr, das war nichts, weil ich ja wusste, was sie so treibt. Und das war dann irgendwie – so ohne Gefühl. Also, sie war schon eine sehr harte Nummer.«
»Sie hat also Sex eher wie eine Ware gesehen?«, fragte Svenja.
»Aber ja!« Er nickte. »Kann ich rauchen?«
»Selbstverständlich«, sagte Müller. »Es ist schließlich Ihre Wohnung. Ich frage mich, wo sie so abhing, wenn sie morgens aus dem Haus ging, als wolle sie zu ihrer Lehrstelle. Wo war sie da?«
»In Meiers Scheune«, antwortete Probst mit einem Grinsen. »Damals hatte Meier noch Milchwirtschaft, und sein Heu schaffte er in die Scheune. Und da haben wir uns eine Art Butze gemacht, so eine Höhle im Heu. Wir haben das mit ein paar Brettern seitlich und von oben abgestützt. Da drin waren wir dann. Einmal haben wir eine Kerze brennen lassen und die ganze Scheune abgefackelt. Das war Kiri.«
»Kiri?«, fragte Svenja.
»Ja, damals wollte sie, dass wir sie Kiri nennen. Also nannten wir sie so.«
»Die Scheune brannte also ab. Kam dann nicht die Polizei mit Fragen?«
»Nein, in der Richtung ist nichts passiert. Sie haben dann die Scheune wieder aufgebaut, die Versicherung zahlte das. Und wir waren wieder drin.«
»Was, um Gottes willen, treibt ein junges Mädchen den ganzen Tag in einer Scheune?«, fragte Svenja.
»Sie hatte Haschisch, sie hatte immer Stoff. Sie lag da und qualmte. Ich habe gesagt, das kannst du nicht machen, du bläst dir das ganze Gehirn raus. Aber sie hat nur gelacht. Es war aber so, dass sie für Stunden total stoned war und man kein Wort mit ihr reden konnte. Sie kicherte nur noch albern rum. Und danach wollte sie immer Speed. Und irgendwie kriegte sie das auch.«
Svenja sagte: »Es war wohl ziemlich schwer, ihr Freund zu sein?«
»Ja, klar. Meine Eltern haben mir die Hölle heißgemacht. Mein Vater redet nicht viel, aber damals hat er gesagt: Du musst diese Nutte abschaffen, sonst gehst du unter!«
»Aber Sie haben nicht auf ihn gehört«, stellte Müller fest.
»Doch, doch«, widersprach Probst. »Als sie die Sache mit Grooms anfing, da habe ich mich abgesetzt. Was sie da gebracht hat, war einfach zu viel. Ich wurde ja auch älter, ich kam in die Lehre, nur Kiri rannte immer noch rum, als würde sie nie erwachsen. Und sie redete nur noch dummes Zeug. Und dann hat sie Grooms erpresst, und ich habe gesagt: Jetzt ist Schluss mit uns, das mache ich nicht mehr mit.«
»Madeleines Mutter hat uns diese Geschichte berichtet. Sie haben dann früh geheiratet«, warf Svenja ein.
»Ja, leider«, sagte er. »Meine damalige Freundin kriegte ein Kind von mir. In so einer Situation zu heiraten ist hier immer noch Brauch.«
»Stimmt es, dass Kiri Sie erpressen wollte, um das zu verhindern?«, fragte Müller.
»Ja, das stimmt. Sie kam in mein Elternhaus, und wir sprachen darüber, und sie sagte, wir sollten einfach abhauen und irgendwo heiraten. Ich sagte, sie wäre total bescheuert, und sie sagte: Dann nehme ich mir das Leben! Ich war vollkommen fertig, ich habe das wirklich geglaubt. Also, meine ganze Hochzeitsfeier habe ich nur wie im Tran erlebt, ich dachte dauernd: Jetzt hat sie sich irgendwo aufgehängt.«
»Stattdessen ist sie am Tag ihres achtzehnten Geburtstags bei ihrer Mutter ausgezogen. Aber sie kam zurück, oder?«
»Ja, klar. Sie musste der Clique doch beweisen, dass sie auf der Siegerstraße war, dass sie Erfolg hatte.«
»Wie oft ist sie denn zurückgekommen?«, fragte Müller.
»Das weiß ich nicht genau. Aber das ging sicher vier Jahre lang. Meine Frau bekam ein Kind, und Kiri kreuzte auf. Meine Frau glaubte natürlich, ich hätte was mit der. Das hat auch irgendwie dazu beigetragen, dass wir uns dann scheiden ließen. Es war jedenfalls Scheiße!« Und plötzlich lag Wut in seiner Stimme. »Das muss man sich mal vorstellen. Sie fuhr bei uns vor. In einem Jaguar, englisch grün. Aber sie wollte nicht zu uns reinkommen, sie sagte, meine Frau sei eine Hure. Ich weiß noch, einmal regnete es, und sie saß in der Nacht in diesem blöden Auto auf der Straße rum. Ich habe sie angeschrien, sie sollte doch endlich verschwinden. Und was passierte? Sie saß da, griff in irgendeine Tasche und hielt große Geldscheine vor mich hin. Zwanzig, dreißig, ich weiß nicht mehr, wie viele. Sieh mal, sagte sie, Kohle ohne Ende! Sie hat überhaupt nicht verstanden, dass unsere Zeit vorbei war, dass wir keine Kinder mehr waren.« Dann hatte er Tränen in den Augen und weinte ganz still. Sein Gesicht wirkte gequält.
»Sie hat also viel kaputtgemacht«, sagte Müller. »Darf ich mal etwas anderes fragen? Madeleines Mutter, die interessiert uns wirklich.«
Er brauchte einige Zeit, bis er wieder sprechen konnte. »Diese Frau ist einfach furchtbar«, sagte er schließlich mit fester Stimme. »Sie hat im Dorf wirklich einen schlechten Ruf. Und wie sie mit den Männern rumgemacht hat, hatte sie den ja zu Recht. Und dann das Gerede. Wie die Mutter, so die Tochter! Ich hatte dauernd Krach zu Hause. Meine Eltern sagten, wir schmeißen dich raus, wenn das so weitergeht. Heute weiß ich, dass sie recht hatten. Aber damals habe ich sie nicht verstanden. Ich habe nur immer gesagt: Kiri ist nicht so, Kiri ist ganz anders! Aber sie war in Wirklichkeit nicht anders.«
»Aber sie muss doch bei dieser Mutter viel Schlimmes erlebt haben«, sagte Svenja. »Sie war doch nicht von sich aus so?«
»Kiri hatte nie eine richtige Chance«, sagte Probst. »Sie musste so werden, wie sie ist. Da gab es diesen Rocky. Ich gehe jede Wette ein, dass der Kiri vergewaltigt hat. Und zwar mehr als einmal. Ich kann das nicht beweisen, aber das muss einfach so gewesen sein. Denn sie hat ihm ein Fleischermesser in den Oberschenkel gerammt. Der wäre beinahe verblutet, der Notarzt konnte ihn gerade noch retten. Dieser Rocky war eine richtige Sau, oder vielmehr ist eine richtige Sau. Im Dorf sagen sie, dass er immer noch bei der Mutter auftaucht, sich vollfrisst und vollsäuft. Der war damals rechts außen, also mit so Typen zusammen, die schwere Motorräder fahren und Adolf verehren und so was und auch kriminell sind.«
»Und? Was hat Kiri dazu gesagt?«, fragte Svenja.
»Der war das scheißegal, sie hat sich weggedröhnt mit Hasch und so was.«
»Wissen Sie eigentlich, wo ihr Vater abgeblieben ist? Er soll Franzose gewesen sein«, fragte Müller.
»Es wird erzählt, er wäre einfach abgehauen. Er hätte es mit der Frau nicht ausgehalten. Kiri jedenfalls hat ihn nie im Leben zu sehen gekriegt.«
»Wissen Sie, wie der mit Vornamen hieß?«
»Ja, weiß ich. Jean.«
»Jean Wagner. Uns interessiert die Zeit, in der sie hier schon nicht mehr gewohnt hat, aber immer noch mal zurückkam. Angeblich war sie nie mehr bei ihrer Mutter.«
»Das stimmt doch gar nicht«, sagte er. »Einmal war sie hier und hat der Mutter zehntausend Dollar gebracht. Einfach nur so. Ich war dabei, und ich lüge nicht. Sie hat gesagt: Das ist das Geld für die liebevolle Behandlung deiner Tochter! Dann hat sie es der Mutter an den Kopf geworfen, und wir sind wieder abgehauen.«
»Aber wo war Kiri denn zu der Zeit?«, fragte Müller. »Ich meine, wo hat sie gelebt?«
»In Hannover«, antwortete er.
»Können Sie sich denn erklären, warum sie immer zurückkam? Das war doch eigentlich sinnlos, oder?«, fragte Svenja.
»Darüber habe ich oft nachgedacht. Ich glaube, die Clique hier war ihre wirkliche Familie. Man hat sich gestritten und wieder vertragen, das war wie in einer Familie, normal. Da wollte sie hin und wieder einfach vorbeikommen, um zu gucken, was hier so läuft. Sie hatte doch nie eine Familie.«
»Hat Kiri sich verändert, als sie in Hannover lebte und nur noch ab und zu vorbeikam?«
»Hat sie, ja. Sie hat nicht mehr gekifft, also gar keine Drogen mehr genommen, und sie hat auch nicht mehr getrunken. Sie war irgendwie ganz anders. Sie hat gesagt, sie braucht das alles nicht mehr.«
»Verstehe«, sagte Svenja. »Aber wir wissen nicht, wie sie in Hannover so gelebt hat.«
»Bei wem hat sie dort gewohnt? Hat sie gearbeitet?«, hakte Müller nach.
»Sie hat mir erzählt, dass sie in einem großen Anwaltsbüro arbeitet. Am Empfang. Dass sie die Anrufe für die Rechtsanwälte durchstellt, aber manchmal auch selbst Leute anrufen muss. Sie hat auch gesagt, dass sie den Chef manchmal zu Terminen begleitet. Ich habe sie gefragt, ob sie denn anständig verdient in Hannover. Sie sagte was von fünftausend pro Monat. Aber das war wahrscheinlich schon wieder gelogen. Ich habe auch gefragt, wem denn der grüne Jaguar gehörte, mit dem sie hier aufkreuzte. Sie sagte: meinem Chef. Und sie hatte immer allererste Klamotten an, teuer meine ich. Sie war eine ganz andere Person geworden.«
»Den Namen von dem Anwalt haben Sie wahrscheinlich nicht«, sagte Svenja. »Vielleicht finden …«
»Doch, doch, den Namen habe ich behalten. Weil er so komisch ist. Er heißt Doktor Thor Lewen. Ich habe mir das deshalb gemerkt, weil Thor doch der Name eines nordischen Gottes ist. Ich weiß das von irgendeinem Computerspiel.«
»Doktor Thor Lewen«, murmelte Müller. »Wissen Sie, wie lange Kiri bei ihm war?«
»Genau weiß ich das nicht, aber drei Jahre schon, denke ich.«
»Sie waren uns wirklich eine große Hilfe«, sagte Svenja lächelnd. »Vielen Dank für Ihre Informationen. Und falls noch weitere Fragen aufkommen, dürfen wir Sie anrufen?«
»Aber gern!«, sagte Probst herzlich.
Svenja und Müller gingen zu Fuß zu ihrem Hotel zurück, als ihre beiden Handys gleichzeitig klingelten.
Es war Esser. »Seid ihr fertig?«
»Ja, sind wir«, antwortete Müller.
»Setzt euch in den Wagen und nehmt Kurs auf Wittenberg, die Lutherstadt. Da ist ein Mann ermordet worden. Mit einer Gitarrensaite. Es handelt sich um Doktor Thor Lewen, Goldhändchen hat die Adresse.«
»Über den haben wir gerade gesprochen«, sagte Svenja. »Er war wahrscheinlich der Schutzheilige der Frau, die wir so dringend suchen.«
»Wie schön!«, dröhnte Essers Stimme. »Dann schließt sich jetzt der Kreis.« Und weil er plötzlich verunsichert war, fragte er hastig: »Macht ihr euch etwa über mich lustig? So etwas gibt es doch nicht.«
»Doch, doch«, widersprach Müller. »Sie ist im Land.«
Die Szene wirkte gespenstisch.
Das Schlafzimmer lag unter dem Dach. Gewaltige Vierkantbalken zogen sich in drei Metern Höhe quer durch den Raum. Sie waren hell geschliffen und schufen ein lichtes Gewirr von straffen Linien. Der Raum selbst war mit einem dicken dunkelroten Teppich ausgelegt, der von Wand zu Wand reichte. Es gab einen Lichtspot über einer bequemen Liege, in der der Bewohner wahrscheinlich oft gelesen hatte, denn auf dem Teppich lagen mehrere Zeitungen, Bücher stapelten sich, und einige bunte Magazine waren achtlos daneben abgelegt worden.
Auf einem kleinen Tischchen neben der Liege stand ein großer Aschenbecher aus Kristallglas. Darin lag eine große, dicke, halb gerauchte Zigarre. Irgendjemand sagte: »Der Geruch erinnert mich an meinen Vater, wahrscheinlich kubanische Produktion, die Dinger sind unheimlich teuer. Aber kommunistisch.« Niemand lachte.
Das Bett war eine etwa zwei mal zweieinhalb Meter große, niedrige Fläche, bedeckt mit Bettwäsche aus lichtblauer Seide. Der einzige Gegenstand, der die Eleganz des Raumes störte, war ein roter seidener Morgenrock, der unordentlich neben dem Bett lag, als habe jemand darauf herumgetrampelt. Das Licht fiel aus drei hohen, schmalen Fenstern an der linken Seitenwand ins Zimmer, zusätzlich waren sechs kleine Spots an den Deckenbalken eingeschaltet.
»Das sieht nach verdammt viel Geld aus«, sagte eine junge Frau. »Und es muffelt.«
Der Tote lag auf dem Bauch in der rechten Hälfte des Bettes. Er hatte volles silbriges Haar, sein Gesicht war in einem der blauen Kissen vergraben.
»Wenn Sie die Todesursache sehen wollen, dann bewegen Sie sich bitte rechts an der Außenwand entlang und gehen dann mit drei, vier Schritten zu ihm hin. Treten Sie dabei aber bitte nicht auf den Morgenrock, denn der birgt möglicherweise DNA-Material. Wir haben den Weg für Sie durch gelbe Linien markiert.«
Der Mann, der das sagte, war klein, rund und wirkte gemütlich, vielleicht fünfzig Jahre alt. Er setzte hinzu: »Mein Name ist Hagemann, ich gehöre zur lokalen Kripoeinheit. Wir wollen systematisch vorgehen und bekommen Hilfe vom BKA. Die Damen und Herren sind soeben eingetroffen. Wenn Sie den Toten näher betrachten wollen, um das Tötungsinstrument zu sehen, halten Sie sich an den gelben Weg, und gehen Sie bitte einzeln.«
»Wie heißt der Tote, wo kommt er her, wer hat ihn gefunden?«, fragte ein Mann in einem Trenchcoat, hager, mittelgroß. »Lindemann, BKA Berlin.«
Hagemann antwortete: »Doktor Thor Lewen, Anwalt und Notar, Inhaber einer großen Kanzlei in Hannover. Er ist siebzig Jahre alt. Er hat dieses Haus vor einigen Jahren gekauft und anschließend nach seinen Wünschen umbauen lassen. Soweit wir wissen, ist er nur noch selten in der Kanzlei tätig und lebte zumeist hier. Er ist privat wohl ein Spezialist für das Thema Martin Luther, deshalb auch diese Stadt. Gefunden wurde er von einer Frau, die in der Nähe wohnt und ihm den Haushalt macht. Ihr Name ist Hermine Glauber, sie wartet unten in einem der Wohnräume und steht uns als Zeugin zur Verfügung. Entdeckt hat sie die Leiche am späten Nachmittag, als sie zum Saubermachen kam. Sie war bereits am Morgen hier gewesen, um das Frühstück anzurichten, und ging dann wieder heim. Sie sah ihn bei der Gelegenheit nicht, sagt aber, das sei normal gewesen. Die Frau meint auch, dass keine Freunde oder andere Besucher angekündigt waren. Die übrigen Mahlzeiten, wenn Freunde und Bekannte hier waren, nahm Thor Lewen in den Kneipen und Restaurants der Innenstadt ein. Er war als ein hochgebildeter, freundlicher Mann bekannt, sehr offen. Wir haben keine Informationen darüber, ob irgendein Mensch ihn im Laufe des Tages besuchte. Das muss aber geschehen sein, denn nach Ansicht des Arztes ist er etwa gegen vierzehn Uhr gestorben. Es wäre gut, wenn wir in etwa zwanzig Minuten mit genauen Tatortuntersuchungen beginnen könnten, die Obduktion der Leiche ist schon in zwei Stunden vorgesehen. Ich stehe jederzeit zur Verfügung, wenn Fragen anstehen sollten.«
Dehner bemühte sich, die gelben Streifen auf dem Boden nicht zu übertreten,.
Er hatte die Kamera vor dem Bauch, hob sie ans Auge und fotografierte die Leiche. Bestimmte Punkte löste er mit einem Teleobjektiv aus ihrer Umgebung heraus. Die Gitarrensaite in diesem Altmännerhals, den leicht klaffenden Mund, das rechte, starre Auge. Dann fotografierte er das ganze Bett mit dem Toten darin, im Hintergrund links die Liege mit dem Lichtspot.
Der Tote war ausgesprochen schlank, das nach rechts geneigte Gesicht wirkte aristokratisch. Ein anderer Ausdruck fiel Dehner dafür nicht ein.
Dann der Draht, eigentlich geschaffen, um zu klingen, um Musik zu machen. Hatte der Mann gespürt, dass dieser Draht ihn töten würde? Hatte er in der einen oder anderen Sekunde überhaupt etwas gedacht?
Die Gitarrensaite schnitt sehr tief in den Hals ein, ein blutroter Striemen, der an der rechten Halsseite zu einem echten Schnitt geworden war. Er hatte sehr viel Blut verloren. Vielleicht war die Halsschlagader angerissen worden.
Der Tod ist sehr plötzlich gekommen, dachte Dehner. Er hat nichts geahnt, wie denn auch? Warum hat sie ihn getötet? Es schien alles so sinnlos, er war doch nur ein alter Mann.
Dann drehte Dehner sich herum und ging wieder zurück. Er blieb noch einen Augenblick an der Tür zum Treppenhaus stehen und prägte sich die Szene ein.
Jemand fragte: »War der Tote verheiratet?«
»Ja, war er«, antwortete eine Frau. »Die Ehefrau ist auf dem Weg hierher. Sie wird von einem Staatsanwalt gebracht, den wir eingeschaltet haben. Sie sagt, sie fühle sich nicht imstande, selbst zu fahren. Und sie könne sich vorstellen, wer der Täter ist. Aber es hat sie tief getroffen, sie ist Mitte sechzig. Als ich sie erreicht habe, konnte sie minutenlang nicht sprechen. Ich dachte schon, sie hätte einfach eingehängt. Ich schätze, sie wird in einer Stunde hier sein. Sie ist auch Anwältin.«
Esser hatte sich aufgemacht und das Gästehaus besucht.
Er saß Arthur Schlauf gegenüber und betonte: »Wir haben keine Zeit. Und Sie können selbstverständlich Ihren Vater besuchen. Aber erst morgen. Wir wollen Sie nicht einschränken, und die Sache mit der Steuerfahndung ist ja erledigt. Ich danke Ihnen für den Scheck. Aber jetzt müssen Sie noch einmal Rede und Antwort stehen. Es geht um diese junge Frau, diese Madeleine Wagner, die Kiri genannt werden möchte. Sie haben sie zuletzt in Tripolis gesehen.«
»Nicht schon wieder.« Atze stöhnte gelangweilt auf. »Darüber habe ich doch bereits endlos mit dem jungen Mann von euch gesprochen, und ich weiß nicht, warum ihr so auf der Kleinen rumhackt.«
»Das ist ziemlich einfach zu beantworten, mein Freund. Die Kleine ist unserer Kenntnis nach eine Massenmörderin.«
Atze sah Esser erstaunt an, sein Mund stand leicht offen. Dann bewegte er plötzlich seinen Kopf, drehte ihn nach links, dann nach rechts, als werde er gezwungen, aus einem schönen Traum zu erwachen.
»Sie wollen mich verarschen, oder?«
»Ich mache keine Scherze«, sagte Esser. »Für so etwas habe ich überhaupt keine Zeit.«
»Die Kiri«, sagte Arthur Schlauf mit einem Seufzer. »Das kann doch nicht sein. Nein, niemals.«
»Unser Problem dabei ist, dass wir nicht wissen, wer der Nächste ist«, sagte Esser.
»Wieso denn das?«, fragte Atze verwirrt. »Wieso der Nächste?« Dann fiel ihm etwas ein. »Ole Bauer? In Mogadischu? Als ich dabei war?«
Esser nickte. »Der auch.«
»Und ich? Ich weiß doch nichts. Ich will damit nichts zu tun haben, aus so was halte ich mich raus. Das ist nichts für mich. So was nicht, niemals!«
»Wir beide müssen überlegen. Sie haben gesagt, dass sie bei Ihnen im Hotel in Tripolis einfach reinschaute, weil sie wusste, dass Sie dort waren. Wir haben aber bisher die Erfahrung gemacht, dass sie nie ohne Grund irgendwo auftauchte. Sie hatte immer einen Mordauftrag, nehmen wir an.«
»Wer macht denn so etwas?«
»Ein Mann, der zurzeit in Albanien lebt. Jongen Truud, aus Amsterdam. Regelt die großen Schmuggellinien für Rauschgift. Hat sie ihn jemals erwähnt?«
»Hat sie nicht. Wieso denn auch? Ich habe von so etwas keine Ahnung. Ich mache meine Geschäfte, und sie macht ihre. Wieso sollen wir uns darüber unterhalten? Ich meine …«
»Sie machen mich langsam sauer, guter Mann. Es geht hier um Morde! Sie kommen doch rum. Sie sehen Elend, Krieg, Krisen. Sie sehen, wie ganze Länder im Chaos versinken. Und jetzt sagen Sie einfach, ich mache meine Geschäfte und Kiri ihre. Woher wollen wir denn wissen, ob Sie nicht das nächste Opfer sind, weil irgendeiner Ihr gottverdammtes Geschäft übernehmen möchte? Sie persönlich verdienen mindestens einmal im Jahr ein Vermögen, weil Sie den Übriggebliebenen das tägliche Brot verkaufen. Und das Zeug, mit dem sie ihre Wunden verbinden können. Sie machen Kasse bei denen, die zufällig überlebt haben. Wie kann denn einer so naiv sein?« Bei den letzten Worten brüllte er fast, nahm sich dann wieder zusammen und flüsterte beschämt: »Tut mir leid.« Er war erschrocken über sich selbst, er hatte nicht geahnt, wie dünnhäutig er sein konnte. Seine Hände zitterten.
Atze sagte plötzlich nüchtern: »Das ist ein Totschlagargument. Du verkaufst an die Ärmsten der Welt. Natürlich. Das stimmt.« Dann nahm er einen Atemzug Anlauf und setzte hinzu: »Ich bin aus diesem Land weggejagt worden. Haben Sie das etwa vergessen? Ich habe doch gar nicht mehr gewusst, wohin ich gehöre. Hier war ich doch ein Aussätziger. Mein Vater leidet bis heute darunter. Meine Mutter ist daran gestorben.«
»Das ist richtig«, lenkte Esser ein. »Ich entschuldige mich. Als Sie im Hotel in Tripolis plötzlich Kiri sahen, haben Sie gedacht, sie ist vorbeigekommen, weil Sie da waren. Ist das richtig?«
»Ja, stimmt, das habe ich gedacht.«
»Nehmen wir an, sie hat diesen Volksaufstand genutzt, um ihr eigenes Süppchen zu kochen. Nehmen wir an, sie hat auch in Tripolis gemordet. Hat sie über irgendetwas gesprochen, das auf Drogen hindeutete?«
»Das weiß ich nicht. Am ersten Abend haben wir zusammen gegessen, und sie sagte, sie hätte was zu erledigen. Moment mal, sie hat auch gefragt, ob ich wüsste, dass das Haschisch aus dem Rifgebirge das beste der Welt sei. Also, ich weiß nicht … Sie sagte, der Braune und der Schwarze aus dem Rif, also Nordmarokko, seien einsame Spitze. Ich weiß noch, ich habe sie gefragt, ob sie das Zeug denn auch raucht. Sie hat geantwortet, das könnte ihr nicht passieren. Aber sie könnte es vielleicht kaufen und verkaufen. Meinen Sie, sie hat irgendwas gedreht, als sie in Tripolis war?«
»Das meine ich«, sagte Esser. »Entschuldigung, bitte.« Er rief Sowinski an und fragte: »Wir haben im wissenschaftlichen Dienst doch eine junge Frau, Expertin in Drogen. Wie heißt die noch mal?«
»Ellen Bertram«, antwortete Sowinski. »Doktor Ellen Bertram. Kluges Mädchen. Wieso?«
»Weil ich denke, dass unsere liebe Kiri in Tripolis in Sachen Haschisch etwas geregelt hat. Da gibt es an der Mittelmeerküste Nordafrikas einen lebhaften Handel und Schmuggel mit braunem und schwarzem Marokkaner. Vielleicht hat Kiri für Jongen Truud diese Leitung übernommen, bietet sich jedenfalls an.«
»Das könnte sein«, antwortete Sowinski.