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Es ist irgendwann zwischen Donnerstag und Freitag. Sagen wir, es ist sehr früh am Freitagmorgen.

Gestern war Rosas Beerdigung. Nur Sureya, Michael und dessen Eltern, die aus Bath gekommen waren, nahmen daran teil. Und Rosa in einem herzzerreißenden, winzigen Sarg. Ich schickte Blumen. Rosa Rosen. Nicht gerade die klassischen Trauerblumen, aber irgendwie erschien es mir richtig.

Wie versprochen, passte ich solange auf die Zwillinge auf – wenigstens eine Abmachung, die ich einhielt. Mein Plan war, am frühen Abend mit den Kindern zu Pizza Express zu gehen.

Sagen wir so, es war nicht unbedingt ein Vergnügen.

Schon komisch, wie schnell man vergisst, wie es ist, wenn man mit Kleinkindern unterwegs ist, insbesondere wenn die eigenen Kinder bereits größer sind, nicht wahr?

Das Servicepersonal bei Pizza Express war nicht gerade begeistert von den verschütteten Getränken und zerbrochenen Gläsern und heruntergeworfenen Salatblättern, aber ich wusste, dass ich es mit einem großzügigen Trinkgeld wieder besänftigen konnte. Thomas hingegen war nicht so leicht zu besänftigen. Kann er schon mit seinen Altersgenossen wenig anfangen, zeigt er gegenüber Kleinkindern eine besonders ausgeprägte Abneigung.

Doch alles in allem war unser Ausflug zu Pizza Express ganz nett – mit einigen Abstrichen. Erst als wir wieder zu Hause waren, nahm das Unheil seinen Lauf.

Ich ließ Mina und Jasmin vor dem Zubettgehen das Kinderprogramm schauen. Was sie auch zwischendurch taten. Nebenbei gingen sie allerdings auf Entdeckungstour. Besser gesagt, auf Abrisstour. Den ganzen Abend musste ich den beiden auf den Fersen bleiben, um die Spuren ihrer Verwüstung wieder zu beseitigen und beide vor schweren Verletzungen zu bewahren.

Gegen zweiundzwanzig Uhr wurden sie dann endlich müde. Als ich sie nach oben brachte, gab es kein Protestgeschrei. Hauptsächlich deshalb nicht, weil ihnen zuvor schon vor dem Fernseher die Augen zugefallen waren. Trotzdem glaube ich, dass die Zwillinge normalerweise eine etwas frühere Schlafenszeit gewohnt sind. Wieder etwas, was ich in punkto Kleinkinder vergessen hatte.

Ich bettete die beiden auf Luftmatratzen in Mollys Zimmer. Molly war begeistert. So hatte sie die Gelegenheit, Mama zu spielen - ihr Lieblingsspiel. Viel Glück, Herzchen, dachte ich, als ich die Tür zuzog.

Danach ging ich zu Thomas, um ihm Gute Nacht zu sagen. Er hatte sich den ganzen Abend mit seinem Freund, der Playstation, in seinem Zimmer verkrochen. Da übermorgen das Probetraining ist, steigt bei Thomas allmählich die Vorfreude – und die Aufregung. Wir unterhielten uns eine Weile über den Samstag.

»Denkst du, ich kann da in meinem Arsenal-Trikot spielen?«, fragte Thomas.

»Oh, ich denke, dass keiner darauf achten wird, was du anhast.«

»Ja, aber das ist Palace. Der Erzfeind von Arsenal.«

»Dann zieh deinen blauen Trainingsanzug an. Der steht dir auch sehr gut.«

»Schon, aber das Arsenal-Trikot ist mein Glücksbringer

Thomas schien allmählich zu verzweifeln. Wahrscheinlich hauptsächlich an mir.

»Ich hab’s! Du ziehst einfach deine blaue Trainingsjacke über dein Arsenal-Trikot. Dann sieht es keiner.«

»Schon, aber dann wird mir so schnell warm.«

Ich holte tief Luft. »Gut, wir finden schon noch eine Lösung. Wir haben ja bis Samstagmorgen Zeit. Schlaf jetzt.«

Thomas ließ sich von mir einen Gutenachtkuss geben, und ich verließ rückwärts sein Zimmer, zufrieden lächelnd – das war eine unserer besseren Gutenachtszenen.

»Mum«, sagte Thomas, bevor ich die Tür zuzog, »weißt du, ich kann es kaum erwarten.«

»Geht mir genauso.«

Unten reichte es gerade noch zu zwei Zügen an der ersten Zigarette, seit ich am Nachmittag die Kinder von der Schule abgeholt hatte, bevor die Katastrophe ihren Lauf nahm. Mina und Jasmin wachten nämlich auf und waren nicht gerade begeistert darüber, sich in einem fremden Zimmer in einem fremden Haus wiederzufinden. Sie waren nicht zu beruhigen.

»Wir können ja zusammen eine Geschichte lesen«, schlug Molly fröhlich vor.

Gute Idee, dachte ich. Jedenfalls konnte das die Sache bestimmt nicht schlimmer machen.

Und es hätte auch beinahe funktioniert. Nach der Hälfte von Die drei kleinen Schweinchen wurden die Zwillinge ganz still und ihre Augenlider immer schwerer. Aber dann habe ich Mist gebaut. Ich ließ Molly den Wolf sprechen. Ihre Interpretation war außerordentlich – außerordentlich Furcht einflößend. Prompt begannen die Zwillinge wieder zu schreien, und diesmal fiel Molly mit ein. Es war ein richtiges Wutgeheul, das gegen die beiden hysterischen Monsterbabys gerichtet war, die ihr nicht nur den Schlaf raubten, sondern zudem nicht zu würdigen wussten, wie viel Geschick und Anstrengung es erforderte, eine richtig gute, Furcht einflößende Wolfsstimme hinzukriegen.

»Kannst du denen mal sagen, dass sie endlich mit dem Geschrei aufhören sollen?«, brüllte Thomas über den Flur.

Vielen Dank, Thomas, darauf wäre ich selbst gar nicht gekommen.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als würde ich übertreiben, aber eine Stunde später stand ich kurz davor, Selbstmord zu begehen.

Doch dann hatte ich einen Geistesblitz. Eis! Die Zwillinge waren praktisch süchtig nach dem Zeug. Und wissen Sie was? Es funktionierte. Die Mädchen saßen auf ihren Luftmatratzen und schleckten Schokoeis, nach Mitternacht – Molly übrigens auch –, und als sie fertig waren, betteten sie die Köpfe auf die Kissen und schliefen ein.

Einfach so.

Elternratgeber, was? Vielleicht sollte ich selbst einen schreiben.

Während ich die glücklichen, schlafenden Gesichter der Kinder betrachtete, überkam mich eine große Traurigkeit. Wegen Jasmin und Mina, aber auch wegen Thomas und Molly. Wie wenig sie doch vom bitteren Ernst des Lebens ahnten, und wie wenig wir Erwachsenen tun können, um sie davor zu bewahren. Ich schwor mir, egal, wie es mit mir und Richard weitergehen würde, dass meine Kinder nicht darunter leiden sollen. Ich werde nie vergessen, in welchen Verhältnissen ich groß geworden bin. Kein Vater, kein Geld, eine Mutter, die immer arbeiten war. Meinen Kindern steht hingegen die ganze Welt offen, und von nun an werde ich dafür sorgen, dass sie das Leben am Schopf packen und ihre Chancen ergreifen.

Und das richtige Leben kann uns mal.

 

Aber das ist leicht gesagt, nicht wahr?

Das richtige Leben hat nämlich die Angewohnheit, ständig dazwischenzufunken, selbst zu den merkwürdigsten Uhrzeiten. Wie jetzt zum Beispiel: um halb vier Uhr morgens.

Das Telefon klingelt.

Ich liege im Bett, nach einem unruhigen Schlaf. Ich muss sofort an Sureya denken, sie geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Und jetzt – oh Gott – klingelt das Telefon. Mitten in der Nacht mag ich dieses Geräusch nicht besonders. Ich greife nach dem Hörer, und natürlich rechne ich nicht mit guten Neuigkeiten.

»Fran, ich bin’s«, sagt eine hallende Stimme.

»Summer? Bist du das?«

»Habe ich doch gerade gesagt«, entgegnet Summer in überdrüssigem Ton. »Ja, ich bin es tatsächlich.«

»Es ist mitten in der Nacht.«

»Nein. Es ist halb acht. Ich sehe gerade einen herrlichen Sonnenuntergang.«

»Summer, aber hier ist es halb vier –«

»Hör zu, wenn ich mich über die Uhrzeit unterhalten möchte, kann ich auch die Zeitansage anrufen.« Sie klingt patzig.

»Okay, worüber möchtest du dich dann unterhalten?«, frage ich, und die vertraute Panik steigt wieder in mir hoch. »Es ist doch nichts mit dem Baby, oder?«

»Nein, wie kommst du denn darauf?«

»Oh, nur weil ...« Was soll ich machen? Soll ich Summer wirklich von Sureyas Fehlgeburt erzählen, am Telefon, um diese Uhrzeit? Ich glaube nicht. Sosehr ich auch darauf gebrannt hatte, Summer Sureyas Schwangerschaft zu offenbaren, sosehr ist mir mittlerweile die Lust darauf vergangen. »Ach, nichts«, sage ich. »Ich habe nur geraten, was sein könnte.«

Schweigen. Weint Summer etwa? »Summer? Was ist los?«

»Scheiße, Fran, das war alles total für’n Arsch«, sagt Summer schließlich. »Zuerst haben sie mich tagelang hingehalten, und dann durfte ich nicht einmal vorsprechen. Die meinten bloß ganz lapidar, das hätte sich erledigt.«

»Was, dann hat Sharon Stone die Rolle bekommen?«

»Dafür hätte ich ja noch Verständnis aufgebracht. Aber nein, die müssen diese verdammte Angelina Jolie nehmen. Sie hatte den Vertrag bereits unterschrieben, bevor ich in LA eingetroffen bin.«

»Aber warum haben die dich dann extra rüberfliegen lassen?«

»Gute Frage. Alles Wichser. Und Laurence hat natürlich das Unschuldslamm gemimt.«

»Aber es ist doch sein Film. Hat er da nicht ein Wörtchen mitzureden?«

»Oh, ja, und ob er ein Wörtchen mitzureden hat. Sein genauer Wortlaut war ›Aber, Baby, wir sprechen hier von Angeleeena!‹ Dieser Blödmann. Er hat gesagt, dass die weibliche Hauptrolle erweitert wurde und dass sie deshalb dafür einen großen Namen brauchen, bla, bla, bla. Und dass Sharon ebenfalls ziemlich angepisst ist – als würde mich das kratzen. Er hat um Verständnis für seine schwierige Position gebeten.«

»Und was hast du gesagt?«

»Ich habe ihm gesagt, dass das einzig Schwierige an seiner Position ist, dass er aufpassen muss, dass seine Zunge nicht im Arsch der Studiobosse stecken bleibt. Das fand er sehr lustig.«

Es ist zu spät – beziehungsweise zu früh –, um klar zu denken. Mich verfolgt das Bild eines Mannes, der hinter irgendwelchen Studiobossen kniet, als Summers Stimme mich davon erlöst.

»Ich hasse diesen oberflächlichen, rückgratlosen Idioten«, schimpft sie weiter. »Ich hasse ihn bis auf den Tod.«

»Das ist verständlich, Summer«, sage ich, und ich meine es so.

»Ach, was soll’s, Scheiß auf Laurence. Ich hau hier ab. Ich fliege wieder nach Hause.«

»Gut. Oh je, dann wird es wohl doch nichts mit George Clooney ...«

Augenblick mal. Seit wann heult Summer mir wegen einer Absage die Ohren voll? Normalerweise wird sie mit so etwas spielend fertig, das gehört zu ihrem Beruf als Schauspielerin. Zugegeben, es handelt sich hier um eine große Absage – in Hollywoodformat – aber trotzdem ... Ist da noch was im Busch?

»Hast du Laurence gesagt, dass du von ihm schwanger bist?«, frage ich.

Ein lautes, abgehacktes Schluchzen am anderen Ende der Leitung.

Ich interpretiere das als ein Ja.

»Was für ein blöder Wichser, Fran!« Summer brüllt jetzt in voller Lautstärke. »Was für ein obermieses Arschloch!«

»Wie hat er denn reagiert?«

»Er hat mir unterstellt, dass ich es darauf angelegt habe. Kannst du das glauben? Als wäre ich Teil einer Verschwörung, die sich zum Ziel gesetzt hat, sein Leben zu zerstören ... Ich habe es dir ja gesagt, Männer taugen nichts. Hätte ich mal auf meinen eigenen Ratschlag gehört. Wie konnte ich nur so dämlich sein?«

»Du warst nicht dämlich, Summer«, tröste ich sie. »Du hast dich einfach auf dein Gefühl verlassen, mehr nicht. Aber du hast recht. Scheiß auf Laurence. Du brauchst keinen Mann in deinem Leben, und schon gar nicht so einen. Und es gibt ja auch noch etwas Positives. Du bekommst ein Baby. Ist das nicht großartig?«

Als wir letzte Woche darüber sprachen, war es doch noch großartig, oder?

Aber das hat sich offenbar geändert. »Verflucht, was soll denn daran großartig sein? Ich kann das Kind nicht bekommen. Was habe ich mir bloß gedacht?«

»Summer, wann kommst du zurück?«

»Mein Flug geht in wenigen Stunden.«

»Gut, dann lass uns weiterreden, wenn du wieder da bist.«

Schweigen.

»Okay?«

Ich kann geradezu hören, wie Summer sich zusammenreißt.

»Von mir aus«, sagt sie. Und dann: »Bei dir alles klar? Wie ist es denn am Sonntag mit Mr Superschwanz gelaufen?«

»Gut. Erzähle ich dir, wenn du wieder hier bist.«

»Okay. Ich melde mich. Ich vermisse dich.«

»Ich dich auch«, erwidere ich. »Das ist mein Ernst, Summer. Alles wird gut. Und mach dir keine Gedanken wegen Angelina. Mag ja sein, dass sie abnormale Lippen hat und mit ihrem Bruder knutscht und kleine Blutampullen um den Hals trägt, aber verglichen mit dir ist sie stinknormal.«

Gleich darauf höre ich ein stinknormales Besetztzeichen.