9
Samstag. Es ist Viertel nach zehn. Wir sind spät dran - geht mir durch den Kopf. Um zwölf müssen wir in Beckenham sein. Wo zum Teufel ist das überhaupt? Ich meine in Kent. Aber ... äh ... wo ist Kent? Ich habe nicht einmal eine Ahnung, wie weit es bis Beckenham ist. Zum Glück kommt Richard mit. Er kennt sich aus. Aber wo bleibt er eigentlich? Allmählich werde ich nervös.
»Molly, zieh deine Schuhe an!«, schreie ich.
»Muss ich mit?«
»Oh, möchtest du lieber hier bleiben? Um das Haus mal ganz alleine für dich zu haben?«
»Darf ich?«, fragt Molly begeistert.
»Vergiss es. Zieh jetzt deine Schuhe an.«
Thomas - den man normalerweise nur mit Gewalt aus seinem Zimmer bekommt - ist seit Tagesanbruch auf den Beinen. Im Moment sitzt er im Garten und stimmt sich mental auf das Probetraining ein. Letzten Endes hat er sich doch für das Arsenal-Trikot entschieden, bis hin zu den Schienbeinschonern mit dem Autogramm von Thierry Henry. Es würde mich nicht wundern, wenn er in dem Outfit geschlafen hat – ich werde nachher mal checken, ob ich in seinem Bett Stollenabdrücke finde.
Ich sehe auf die Uhr. Es ist exakt eine Minute verstrichen, seit ich das letzte Mal einen Blick darauf geworfen habe. Verflucht, wo bleibt Richard? In diesem Moment höre ich, wie die Haustür aufgeschlossen wird, und ich lasse mich erleichtert gegen die Küchenanrichte sinken.
»Sorry, dass ich zu spät komme«, sagt Richard, als er die Küche betritt. »Aber die reißen gerade komplett eine Seite vom Broadway auf.«
»Können wir direkt los?«, entgegne ich - es ist weniger eine Frage als ein sanfter Schubser zurück zur Haustür. Doch Richard geht stattdessen zum Kühlschrank.
»Das hat noch Zeit«, erwidert er und nimmt einen Saftkarton und die Schweinefleischpastete heraus.
»Und was ist mit der Baustelle?«
»Die ist nur auf dem Broadway. Und wir müssen ja in die andere Richtung.«
»Oh ... okay.«
Ich beobachte, wie Richard sich ein Glas Orangensaft einschenkt und die Pastete aus der Folie wickelt. Er erwidert meinen Blick. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«, fragt er mit vollem Mund. »Ich hatte nämlich noch nichts zum Frühstück.«
Ich schüttle den Kopf.
Aber eigentlich habe ich doch was dagegen. Was denkt er sich eigentlich? Dass er hier noch wohnt? Hat er nicht seine Kühlschrankrechte verwirkt, als er vor zwei Wochen ausgezogen ist? Schon komisch, nicht? Einerseits wünsche ich mir nichts sehnlicher, als dass Richard zurückkommt, aber wenn er sich verhält, als wäre er hier zu Hause, geht mir das gegen den Strich. Manchmal, so scheint mir, bin ich die unergründlichste Person im ganzen Haus.
»Ich musste auf dem Weg hierher noch was abholen. Das hat etwas länger gedauert als geplant«, bemerkt Richard in beiläufigem Ton, als hätten wir den ganzen Tag Zeit. »Aber was will man machen? Manche Dinge müssen eben erledigt werden ...« Er lässt den Satz in der Schwebe, weil er sich nun das letzte Stück Pastete in den Mund schiebt. Er regt mich auf. Er tut nämlich gerade so, als wäre er der wichtigste Mensch auf der Welt, und wehe, irgendwer versucht ihn aufzuhalten.
»Ja? Wieso? Was war denn so dringend?«, frage ich.
»Ach, du weißt schon, nur ein paar Unterlagen. Kannst du einschätzen, wann wir wieder zurück sein werden?«
»Richard.« Am liebsten würde ich brüllen, aber ich beherrsche mich, sodass es nur ein ganz klein wenig verärgert klingt. »Falls wir dich von irgendwelchen wichtigen Dingen abhalten, dann steht es dir natürlich frei, wieder abzuhauen und dich um deinen Scheiß zu kümmern.«
»Oh, nein, tut mir leid, du hast mich falsch verstanden«, sagt Richard, der schneller einen Rückzieher macht als eine Ameise vor einer herantrampelnden Elefantenhorde. »Es ist nur so, dass ich hinterher mit Bel verabredet bin. Ich muss bei ihr etwas abgeben.«
Als Richard sieht, dass mein Gesichtsausdruck von sauer zu stinkwütend wechselt, macht er sogar einen noch schnelleren Rückzieher. »Ach, weißt du, eigentlich ist das nicht wichtig. Überhaupt nicht. Im Grunde kann das auch warten bis ... bis morgen. Oder bis übermorgen. Ich weiß gar nicht, warum ich davon angefangen habe, denn es ist wirklich völlig unwichtig.«
Ich hasse es, auch nur den Namen dieser Frau zu hören. Es erinnert mich nämlich automatisch daran, dass sie nun die Liebe seines Lebens ist. Ich sage nichts. Stattdessen räume ich das Geschirr in die Schränke – sehr geräuschvoll, wie ich zugeben muss – und vermeide es, Richard anzusehen.
»Äh, wo ist Thomas?«, fragt Richard, der offenbar meine Verärgerung spürt – fragen Sie mich nicht, wodurch – und vernünftigerweise nach einem Ausweg sucht.
»Im Garten – er bereitet sich gerade mental auf das Training vor.«
»Ich gehe mal raus zu ihm.«
Richard verschwindet nach draußen, und ich beobachte die beiden durch das Küchenfenster. Vater und Sohn. Was Richard wohl zu Thomas sagt? »Am besten, du machst dir nicht allzu große Hoffnungen« oder »Chrystal Palace ist schließlich nicht der einzige Fußballverein auf der Welt«? Als hätte Richard Ahnung von Fußball.
Wieder kriecht Ärger in mir hoch. Wie kommt Richard dazu, einfach aufzutauchen und den Daddy herauszukehren? Bis jetzt hat er nie Interesse an den Fußballerträumen seines Sohnes gezeigt, und nun macht er plötzlich einen auf Kevin Keegan. Oder wer momentan auch immer der erfolgreichste Fußballtrainer ist. Gut, ich behaupte ja gar nicht, alles über Fußball zu wissen, aber wenigstens war ich immer hier.
Molly kommt in diesem Augenblick in die Küche, mit Schuhen an den Füßen. Während ich mich hinknie, um ihr die Schuhe zuzubinden, kehrt Richard aus dem Garten zurück, und Molly rennt zu ihm, mit offenen Schnürsenkeln. Richard beugt sich herunter, um sie aufzufangen, und mein Unmut wächst weiter. Er ist gerade einmal seit zehn Minuten hier, und in dieser kurzen Zeit hat er sich aufgeführt, als wäre er nie weg gewesen – als wäre das sein Haus (was es natürlich auch ist). Eigentlich habe ich diesem Moment entgegengefiebert. Was passt mir also nicht?
»Sollen wir los?«, fragt Richard.
»Ich hole noch kurz Myra«, sagt Molly. »Ich möchte sie mitnehmen, okay, Mummy?«
Myra, die behinderte Flickenpuppe. Heute Morgen hatten Molly und ich ein Gespräch wegen ihr. Ich erklärte Molly, dass Myra wegen ihrer Behinderung nicht ausgeschlossen werden dürfe und dass man ihr häufiger unter die Arme greifen müsse. Gut, Myra kann man nur noch unter einen Arm greifen, aber Molly nahm sich meine Worte dennoch zu Herzen. Ich hoffe, sie erinnert sich auch noch in zwanzig Jahren an diese wichtige Lektion fürs Leben, wenn ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt ist, weil sie ihren Verstand versoffen hat und ihre Leber durch jahrelangen Alkoholmissbrauch irreparabel geschädigt ist ...
Erst jetzt fällt es mir auf.
Wann habe ich eigentlich das letzte Mal Alkohol getrunken?
Das haut mich jetzt aber von den Socken. Ich habe keinen Tropfen mehr angerührt seit ... Verflucht, wann war das? Montagmittag. Das Gläschen Wein bei Sureya in der Küche, und das ist fast volle fünf Tage her. Und in der ganzen Zeit habe ich nicht einmal an einen Drink gedacht.
Natürlich – genau wie im Krankenhaus, als ich merkte, dass ich lange keine mehr geraucht hatte und instinktiv zur Schachtel griff – bekomme ich bei dem Gedanken an einen Drink sofort Lust auf ein Glas Wein. Aber daraus wird nichts. Erstens ist es dafür viel zu früh. Und zweitens werde ich meinen Sohn zu dem bislang wichtigsten Ereignis in seinem Leben begleiten. Dafür muss ich einen klaren Kopf behalten. Trotzdem frage ich mich, wie ich das geschafft habe. Wie konnte ich fast eine ganze Woche überstehen – und was für eine Woche! – ohne einen einzigen Tropfen Alkohol?
Vielleicht lag das daran, dass ich zur Abwechslung einmal mit den Problemen anderer Leute beschäftigt war statt mit meinen eigenen. Wer weiß? Ich bin schließlich keine Psychotante ...
Aber der bloße Gedanke, dass ich so lange auf Alkohol verzichten konnte, entlockt mir innerlich ein Lächeln. Äußerlich offenbar auch, weil Richard fragt: »Was amüsiert dich denn so?«
»Nichts«, entgegne ich. »Fertig?«
»Ja, ich geh nur noch mal kurz pinkeln. Ihr könnt ja schon in den Wagen steigen. Der Autoschlüssel liegt auf dem Küchentisch.«
Während Richard zur Toilette geht, suche ich vergeblich seinen Schlüsselbund. Ich nehme seine Lederjacke von der Stuhllehne und durchsuche die Taschen. Ich entdecke tatsächlich die Schlüssel, aber auch etwas anderes. Etwas, das sich hart anfühlt. Ich ziehe es aus der Jackentasche hervor.
Ein kleines Schmuckkästchen aus schwarzem Samt. Da kann eigentlich nur ein Ring drin sein.
Das ist es also, was so dringend ist. Das ist es, was er bei Bel abgeben muss. Oh Gott, er wird ihr doch nicht ... einen Heiratsantrag machen? Mein Kopf dreht sich, mein Magen genauso. Weil ... Scheiße ... Die Erkenntnis überrollt mich wie ein Güterzug. Unsere Ehe. Das war’s. Vorbei. Ganz offiziell.
Ich höre das Rauschen der Toilettenspülung, aber ich kann mich nicht von der Stelle rühren. Ich stehe wie erstarrt da, das Schmuckkästchen in der ausgestreckten Hand, als wäre es an mir festgeklebt. Ich schüttle mich einmal energisch und versuche mich aus meiner Starre zu lösen. Dann stecke ich das Schmuckkästchen wieder zurück in Richards Jackentasche und klimpere geräuschvoll mit seinem Schlüsselbund. »Kommt, Kinder, wir müssen los!«, brülle ich.
Fick dich, Richard, fick dich ins Knie. Heute ist Thomas’ großer Tag. Ich werde nicht zulassen, dass du ihm diesen Tag versaust. Und was mich betrifft, nun, ich kann mir immer noch später über meine Gefühle Gedanken machen.
Richard gesellt sich zu uns in die Diele. Ich werfe ihm seine Jacke zu, und wir verlassen alle vier gemeinsam das Haus. Ich will gerade die Tür hinter mir zuziehen, als mit einem Mal das Telefon klingelt.
»Lass, darum kann sich der Anrufbeantworter kümmern«, sagt Richard und wirft einen nervösen Blick auf seine Uhr.
»Das könnte Sureya sein«, entgegne ich.
»Okay, wir warten im Wagen auf dich.«
Ich gehe zurück ins Haus und nehme den Hörer in der Diele ab.
»Ich bin’s«, sagt Summer.
»Hi, willkommen zurück. Seit wann bist du wieder da?«
»Seit gestern Nachmittag. Ich wollte dich bereits gestern Abend anrufen, aber du weißt ja, der Jetlag.«
»Hör mal, wir wollen gerade los.«
»Ach so ... gut ... sorry. Geh nur.«
Und in diesen sechs Worten schwingt irgendetwas mit, das ich nicht richtig einordnen kann. Es klingt wie Verzweiflung. Das verwirrt mich, weil ich Summer nicht verzweifelt kenne.
»Summer, alles okay?«
»Ich kann das nicht, Fran. Ich kann dieses Kind nicht bekommen.«
Draußen nimmt Richard gerade hinter dem Steuer Platz.
»Wo bist du?«, frage ich.
»In der Portman-Frauenklinik.«
»In der was? Was machst du da?«
»Lass es mich so ausdrücken, ich bin nicht wegen der Grippeimpfung hier.«
»Oh Gott, nein. Summer, bist du sicher, dass du dir das gründlich überlegt hast?«
»Was denkst du denn, was ich die ganze Woche gemacht habe? Was denkst du, wie lange so ein Flug über den Atlantik dauert? Ich bin es leid, mir den Kopf zu zerbrechen. Ich will es einfach nur hinter mich bringen.«
Ich höre, wie Richard draußen ungeduldig den Motor aufheulen lässt. Ich sehe zu Thomas, der klein und verletzlich im Fond der großen Limousine sitzt und ein Gesicht macht, als könne er es kaum erwarten, dass seine Qual endlich ein Ende hat.
Aber ich muss zuerst mit Summer reden, bevor sie noch etwas tut, was sie für den Rest ihres Lebens bedauern wird.
»Okay. Wo ist diese Klinik?«, frage ich.
Schweigen. Das ist genauso ungewohnt an Summer wie die Verzweiflung in ihrer Stimme vorhin.
»Summer, bist du noch dran?«
»Ich weiß nicht mal, warum ich überhaupt anrufe, Fran. Hör zu, du gehst jetzt besser. Wir reden später.«
»Nein, wir reden jetzt.«
»Ich werde meinen Entschluss nicht ändern. Hör zu, du legst jetzt auf, und ich rufe dich später wieder an, wenn –«
»Nein, nicht auflegen!«, schreie ich, während ich zu Richard schaue, der ungeduldig zurückstarrt. »Sag mir, wo ist diese Klinik?«
»Auf der Harley Street. Warum?«
Ganz langsam, Fran, ruhig bleiben. Ich versuche gerade das logistische Problem zu lösen, als Richard auf die Hupe drückt.
»Ich komme zu dir, Summer. Du unternimmst nichts, bis ich bei dir bin. Verstanden?«
»Ich habe dir gesagt, dass mein Entschluss feststeht. Du wirst mich nicht umstimmen können.«
»Trotzdem kannst du das nicht alleine durchstehen. Du brauchst eine Freundin an deiner Seite.«
»Du meinst jemand, der mir ein schlechtes Gewissen macht? Nein, danke.«
»Ich will dir kein schlechtes Gewissen machen. Bitte, ich will einfach für dich da sein ... Bitte, tu mir den Gefallen.«
Schweigen ... eine halbe verdammte Ewigkeit lang. Dann: »O...kay.«
»Gut, ich komme, so schnell ich kann.«
Gleich darauf renne ich nach draußen und reiße die Beifahrertür der Limousine auf. »Richard, wir müssen die Autos tauschen. Du fährst mit den Kindern im Mini.«
»Was, warum, wohin willst du?«
»Du musst meinen Wagen nehmen damit ich mit deinem zu Summer fahren kann«, sprudelt es aus mir heraus, als ein Wort, was Richard sogar versteht.
»Warum? Wo ist sie?«
Ich setze Richard kurz ins Bild. Der genaue Wortlaut ist »KlinikkeineZeitfürErklärungen«. Der Rest ist überflüssig.
»Gut«, sagt Richard, mit einem Mal hellwach. »Okay, Kinder, sofort aussteigen.«
Er braucht nicht zu fragen, warum er sich mit den Kindern in den Mini quetschen muss, während ich seine Luxuslimousine nehme. Er kennt mich. Er weiß, dass ich außerhalb unseres Stadtteils ohne fremde Hilfe verloren bin. Sein Lexus ist mit etwas ganz Wundervollem ausgestattet, das sich Navigationssystem nennt und meine einzige Hoffnung ist, von A nach B nach C zu kommen, ohne in S, H, I oder T zu landen.
Während die Kinder umsteigen, fragt Richard mich: »Und wohin fährst du?«
»Zuerst in die Harley Street, dann nach Beckenham.«
»Du willst nachkommen?«, fragt er weiter, während er die Knöpfe des magischen Navigationsgeräts drückt, um eine neue Route einzuspeichern. »Meinst du nicht, dass das Training dann schon vorüber sein wird?«
»Ich werde alles geben, um noch rechtzeitig zu kommen. Ich möchte noch mal kurz mit Thomas reden.«
Ich gehe zu meinem Mini und helfe Thomas, sich anzuschnallen.
»Warum kommst du nicht mit?«, fragt er mit enttäuschtem Gesicht.
»Es handelt sich um einen Notfall, Thomas. Summer steckt in Schwierigkeiten. Aber ich komme nach. Ich werde mich ganz doll beeilen, versprochen ... Du wirst heute super spielen, mein Engel, das weiß ich.«
Richard setzt sich hinter das Steuer. »Beeil dich, wir müssen los.«
Ich gebe Molly einen Kuss, danach Thomas. »Ich habe dich lieb«, sage ich. »Vergiss das nicht.«
Es ist kaum hörbar, aber trotzdem vernehme ich deutlich: »Hab dich auch lieb, Mum.«
Ich muss nicht lange nach Summer suchen. Ich muss nicht einmal die Klinik betreten. Summer sitzt draußen auf der Mauer und raucht eine Zigarette. Dem Kippenberg am Boden nach zu urteilen, hat sie entweder Kette geraucht oder dies hier ist der Ort für Unentschlossene, die bei einer letzten Zigarette überlegen können, ob sie das Richtige tun.
Summer lächelt. »Das ging aber schnell. Wie hast du das gemacht? Bist du geflogen?«
»Pah, Fliegen ist doch total out. Ich mache jetzt Power-Walking. Das ist bei uns in der Gegend der letzte Schrei. Solltest du auch ausprobieren.«
Summer mustert mich von oben bis unten. »Würde ich dich nicht besser kennen, würde ich dir das sogar glauben. Du wirkst nämlich ziemlich dünn.«
Ja? Ich habe mir in letzter Zeit ja einiges anhören müssen, doch als dünn hat mich noch keiner bezeichnet. Aber Summer hat recht. Meine Hose schlottert um die Hüfte. Wenn ich nicht bald Sahnetorte esse, rutscht sie mir noch bis zu den Knöcheln herunter.
Ich nehme mir eine Zigarette aus meiner eigenen Schachtel. »Was dagegen, wenn ich rauche?«
Summer zuckt die Achseln, und ich zünde sie mir an.
»Erwartet mich jetzt eine Pro-Leben-Predigt?«, fragt sie.
»Du weißt, dass ich nicht so bin. Schließlich habe ich immer gegen das Abtreibungsverbot auf Sureyas Listen unterschrieben. Du weißt, du hast meine volle Unterstützung, egal, wie du dich entscheidest ... aber ... du darfst das nicht tun.« Ich sage das im Brustton der Überzeugung, weil das meinem Gefühl entspricht. Meinem Gefühl im Bauch und im Herzen. Summer muss natürlich selbst entscheiden, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, dass sie im Begriff ist, das Falsche zu tun. Und meine Überzeugung ist so stark, dass ich sogar in Kauf nehme, den wichtigsten Tag im Leben meines Sohnes zu verpassen. Aber das braucht Summer nicht zu wissen.
Sie gibt keine Antwort. Ich mustere ihr Gesicht. Rote, geschwollene Augen, strähnige Haare, blasse Haut – offensichtlich hat sie die Zeit in Kalifornien nicht damit verbracht, Sonne zu tanken. Das sieht Summer überhaupt nicht ähnlich. Das hier ist ein anderer Mensch, und dem äußeren Anschein nach macht dieser Mensch gerade die Hölle durch.
Ich nehme Summers Hand. »Es ist nicht richtig«, sage ich weiter. »Jedenfalls nicht jetzt sofort, wenn der Flug dir noch in den Knochen steckt und du in so einer Verfassung bist. Warte doch erst einmal ab, bis du wieder einigermaßen auf der Höhe bist.«
»Ja, ja, mir war klar, dass du das sagst. Hör zu, nach dieser Zigarette gehe ich wieder hinein, bringe es hinter mich und lebe anschließend mein Leben weiter.«
Ich blicke auf Summers Zigarette. Mir bleiben schätzungsweise noch drei bis vier Züge, um Summer umzustimmen. Besser, ich beeile mich.
»Warum hast du mich vorhin angerufen, Summer?«
»Um dir Bescheid zu geben, dass ich das jetzt durchziehe«, antwortet sie und sieht mich dabei an, als wäre ich geistig minderbemittelt – was vielleicht zutrifft, aber damit muss ich mich abfinden.
»Blödsinn«, erwidere ich. »Du hast mich angerufen, weil du dir nicht sicher bist.«
»Wovon redest du? Ich habe einen Termin. Ich habe eine Anzahlung geleistet. Ich habe mit dem Arzt und dem Therapeuten gesprochen und den Portier gegrüßt. Natürlich bin ich mir sicher.«
»Nein, bist du nicht. Du hast gewusst, dass ich versuchen werde, dir die Sache wieder auszureden beziehungsweise dich zu einem Aufschub zu bewegen. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb du mich angerufen hast. Du wolltest von mir hören, dass du im Begriff bist, einen Fehler zu machen.«
Ich sehe Summer an, um eine Bestätigung zu erhalten, aber die bleibt aus.
»Erinnerst du dich an unser Mittagessen vor zwei Wochen?«, fahre ich fort. »Da hast du noch ganz anders gedacht. Ich weiß, es ist ein abgegriffenes Klischee, aber du hast an diesem Tag wahrhaftig von innen heraus gestrahlt. Du wolltest das Baby bekommen. Was hat sich seitdem geändert?«
»Alles!«, schreit Summer laut. »Alles hat sich geändert. Das Mittagessen ist schon eine Million Jahre her.«
»Nein, nichts hat sich geändert. Außer das mit Laurence.«
Bei seinem Namen zuckt Summer zusammen. »Mann, ich hasse diesen Idioten. Du ahnst gar nicht, wie sehr.«
»Verständlich, ich hasse ihn auch. Und? Du hast nie behauptet, dass du ihn liebst. Du hast ihn bewundert, aber zu mehr hat es nicht gereicht. Also, was soll’s, wenn er die Biege macht?«
»Ich kann einfach nicht fassen, dass ich so blöd war. Ich bin auf seine dämlichen Liebesschwüre hereingefallen. Ich habe mich total zum Affen gemacht. Ich war ein erbärmliches Häufchen Elend, zu nichts nütze ...«
»Nein, das warst du nicht, Summer. Du hast dich einfach von deinen Gefühlen leiten lassen«, widerspreche ich.
»Gefühle. Man sieht ja, wo die hingeführt haben. Ganz ehrlich, Fran, wie soll ich mit einem Kind klarkommen? Und dann auch noch ganz alleine. Ich kann mich doch nicht mal richtig um mich selbst kümmern.«
»Du solltest dich mal hören. Weißt du, wie du klingst?«
»Keine Ahnung. Wie denn?«
»Wie ich! Du klingst genau wie ich! Und ich kann dir sagen, das ist in der Tat erbärmlich. Mir ist schleierhaft, wie du es all die Jahre mit mir ausgehalten hast.«
Summer schenkt mir ein zaghaftes Lächeln und lässt dann ihre Kippe auf den Boden fallen ... Aber sie bleibt auf der Mauer sitzen.
»Summer, was hast du immer zu mir gesagt? Dass ich nicht auf Richard angewiesen bin.«
»Das ist etwas anderes«, murmelt sie beleidigt.
»Ist es nicht! Das ist genau dasselbe. Seit du erwachsen bist, erzählst du jedem, dass Männer entbehrlich sind. Das kannst du jetzt nicht einfach für nichtig erklären.«
Summer lässt sich für ihre Antwort einen Moment Zeit. »Tja, vermutlich nicht«, sagt sie dann, während sie ihre Zigarette mit der Schuhspitze ausdrückt.
»Also: Scheiß auf Laurence«, sage ich nachdrücklich, und ein kleines bisschen meine ich damit auch Richard. »Lass ihn gehen. Du bekommst dieses Kind, weil du es haben willst. So einfach ist das.«
»Und was ist mit meiner Karriere?«, erwidert Summer. »Die kann ich mir dann wohl abschminken.«
»Ach was. Glaubst du, andere Schauspielerinnen bekommen keine Babys?«
»Du hast in den letzten zehn Jahren auch nicht gerade viele Aufträge bekommen.«
»Nicht die Kinder haben meine Karriere beendet, sondern ich selbst, Summer. Ich habe Thomas und Molly nur als Vorwand benutzt. Mach nicht denselben Fehler wie ich. Nimm nicht deine Karriere als Vorwand, um dieses Kind nicht zu bekommen.«
Summer gibt keine Antwort, aber ich weiß, dass meine Worte Wirkung zeigen. Ich darf es jetzt nicht vermasseln. »Du bist eine großartige, tolle Schauspielerin«, rede ich weiter. »Jeder Casting Director in der Stadt kennt deinen Namen, und in Zukunft wirst du sogar noch gefragter sein, weil du dann als Mutter über ein größeres Spektrum verfügst. Denk nur an all die neuen Erfahrungen, die auf dich zukommen und von denen du beruflich profitieren kannst.«
Summer zieht eine Braue hoch, da sie offenbar Verdacht schöpft, dass ich Blödsinn rede, und ich spüre, wie meine gute Vorarbeit zu verpuffen droht. »Glaub mir, bis jetzt habe ich auch so immer in meinen Rollen als Mutter überzeugt«, entgegnet sie.
»Du hast recht, das stimmt. Aber überleg doch mal, wie überzeugend du erst in neun Monaten spielen wirst ... Wenn du nach Wundsalbe und Erbrochenem riechst und mehrere schlaflose Nächte hinter dir hast.«
Summer lacht – zum Glück, denn sie hätte auf meinen Kommentar auch ganz anders reagieren können. »Was redest du da?«, sagt sie. »Aber rein zufällig habe ich tatsächlich die letzten Nächte nicht richtig geschlafen. Ich bin völlig im Arsch.«
»Siehst du, du identifizierst dich bereits mit der Mutterrolle. Hör zu, Summer, jetzt mal im Ernst. Ich weiß, ich bin bestimmt kein Paradebeispiel für eine gute Mutter, aber meine Kinder sind das Beste und Kostbarste in meinem Leben. Ich bereue vieles, was ich getan habe – beziehungsweise was ich nicht getan habe –, aber ich werde niemals bereuen, dass ich meine Kinder bekommen habe. Das Leben hört nicht auf, wenn man Kinder hat. Mit Kindern fängt das Leben erst an.«
Summer zieht erneut die Augenbraue hoch, aber dieses Mal habe ich keinen Blödsinn geredet.
»Weißt du was? Ich habe einen ganz tollen Auftrag in Aussicht«, wechsle ich das Thema. »Chris Sergeant hat mich angerufen. Anscheinend ist mir das Skript wie auf den Leib geschrieben. Es handelt sich um eine Antirassismuskampagne – ich muss in zwei Minuten zwanzig verschiedene Akzente nachahmen oder so ähnlich. Es gibt bereits eine fertige amerikanische Version von dem Spot, in der Robin Williams den Kommentar spricht. Ich und Robin Williams, kaum zu glauben, was?«
»Auch wenn man es mir vielleicht nicht ansieht, aber ich freue mich sehr für dich, Fran.«
»Ich habe zwar voll Schiss, um ehrlich zu sein, aber dieses Mal werde ich hingehen. Und wenn es mich umbringt.«
Summer lächelt mich schwach an. »Du machst das schon. Das weiß ich.«
»Aber der Punkt ist doch, wenn einem Versager wie mir der Auftrag seines Lebens einfach so in den Schoß fällt, dann stell dir bloß mal vor, welche Rollen auf eine erfahrene Schauspielerin wie dich noch warten. Opfere das Baby nicht, Summer, du kannst nämlich beides haben.«
»Oh Mann, Fran, was ist mit dir passiert? Du klingst ja wie ... ich.«
»Dann solltest du besonders gut zuhören. Schließlich sind deine Ratschläge immer super. Vergiss die Arbeit, und vergiss Laurence. Wenn du dich für das Kind entscheidest, tust du genau das Richtige, weil, nun ... weil es das Richtige ist. Vielleicht siehst du das jetzt noch anders, aber in ein paar Tagen wirst du mir recht geben. Wenn du das hier jetzt durchziehst, wirst du es hinterher furchtbar bereuen.«
Meine Worte schweben durch die Luft, auf Summer zu.
Ich widerstehe dem Bedürfnis, auf meine Uhr zu schauen. Thomas. Ob sie schon da sind?
Ich widerstehe auch dem Bedürfnis, Summer an den Schultern zu packen und kräftig durchzuschütteln. Ich habe einfach recht. Warum erkennt Summer das nicht?
Aber ich täusche mich, und die Tränen in Summers Augen verraten mir, dass sie es hatte kommen sehen. Sie brauchte lediglich eine Bestätigung. Jetzt rutscht sie von der Mauer und klammert sich an mich.
»Ich will das Kind ja ... Aber ich habe so furchtbare Angst, Fran«, sagt sie flüsternd.
»Das ist doch völlig normal«, tröste ich sie. »Das gehört zum Programm.«
»Ich glaube trotzdem nicht, dass ich das alleine packe«, schluchzt Summer los, und mein Gesicht wird feucht von ihren Tränen.
»Aber du bist nicht alleine«, sage ich. »Und du wirst auch nie alleine sein.«
Und wenn Sie dachten, dass das eben Weinen war, vergessen Sie’s. Das hier nenne ich Weinen. Ich lasse Summer sich an meiner Schulter ausheulen. Gleichzeitig hebe ich unauffällig den linken Arm und spähe verstohlen auf meine Uhr. Viertel vor zwölf. Thomas’ Probetraining beginnt in fünfzehn Minuten. Wenn ich mich innerhalb der nächsten fünf Minuten aus Summers Umklammerung befreie, zum Wagen renne und wie eine Geistesgestörte nach Beckenham rase, kann ich vielleicht noch das Ende sehen.
»Ich gehe mal wieder rein und hole meine Sachen«, sagt Summer. »Hast du Lust, was essen zu gehen?«
»Eigentlich schon, aber ich muss nach Beckenham.«
»Nach Beckenham? Warum?«
»Thomas hat dort heute sein Probetraining.«
»Um Himmels willen, Fran, warum hast du das nicht gesagt? Um wie viel Uhr fängt es an?«
»Äh, in fünfzehn Minuten.«
»In fünfzehn Minuten? Scheiße. Was machst du dann noch hier, verflucht? Geh schon! GEH!«
»Bist du sicher, dass du klarkommst?«
»Natürlich, dumme Frage«, fährt Summer mich an.
Das ist die alte Summer.
»Möchtest du, dass ich mitkomme, Fran? Dann kann ich dich lotsen.«
Summer und mich lotsen? Summer ist eine Diva. Sie fährt nie selbst. Vielmehr nennt sie dem Taxifahrer ihr Ziel, schließt die Augen und macht sie erst wieder auf, wenn sie angekommen ist. Aber natürlich sage ich zu ihr: »Ja, das wäre klasse.«
Scheißtechnik. Was macht ein Navigationsgerät für einen Sinn, wenn es einen nicht einmal richtig durch London lotsen kann? So ein Ding bringt doch nur was, wenn es sagen kann: »Bei der nächsten Möglichkeit links abbiegen ... Nicht hier. Das ist eine Tankstelle ... Die nächste links ... An der Ampel ... Hier ... Hier! REISSEN SIE DAS VERDAMMTE LENKRAD NACH LINKS!« Dann würde es sich lohnen, sich so ein Ding anzuschaffen. Und wenn es dann noch die feuchte Stirn des Fahrers mit einem weichen Tuch abtupfen könnte, wäre das ein zusätzlicher Vorteil.
Aber natürlich kann Richards Navigationsgerät nichts davon. Es steckt einfach nur im Armaturenbrett. Stumm. Wahrscheinlich schmollt es mit mir. Wahrscheinlich sagt es sich leise: »Es ist ja wohl kaum meine Schuld, wenn die blöde Kuh am Steuer nicht mal die einfachsten Anweisungen kapiert, oder?«
Wo sind wir hier, verflucht? Sind wir nicht vor fünf Minuten schon einmal an dieser Kneipe vorbeigefahren?
Summer? Absolut keine Hilfe. Sie klammert sich gerade am Armaturenbrett fest, sodass ihre Knöchel weiß hervortreten, während ich den Wagen zur Straßenmitte lenke, um zu sehen, ob ich den großen Lieferwagen überholen kann, der unverschämt langsam vor uns herzockelt. Ich werfe einen Blick auf Summers Gesicht. Sie ist kreideweiß. Und sie hat seit zwanzig Minuten keinen Ton von sich gegeben. Vielleicht sollte ich etwas vom Gas gehen, weil Summer nämlich den Eindruck macht, als würde sie kurz vor einem Herzinfarkt stehen, was ja meine ganze Überzeugungsarbeit wieder zunichte machen würde.
»Sag mal, die Kneipe da«, bemerkt sie leise. »Sind wir an der nicht schon vor fünf Minuten vorbeigefahren?«
Es ist zwanzig nach eins. Ich weiß ehrlich nicht, wie wir das geschafft haben. Nachdem wir eine gefühlte Ewigkeit in immer kleineren Kreisen durch den Südosten von London gekurvt sind, sind wir nun auf einmal da. Das Schild am Eingang mit der Aufschrift CHRYSTAL PALACE FC ist der schönste Anblick der Welt. Ich fahre auf das Vereinsgelände und parke vor einem einstöckigen Gebäude. Mein roter Mini steht zwei Parkplätze weiter. Wenigstens sind sie noch hier. Ich steige aus dem Wagen, und anstatt durch die Glastür zur Anmeldung zu gehen, mache ich mich direkt auf zu den Trainingsplätzen, die ich auf der Rückseite des Gebäudes erspäht habe. Ich gehe zügig, ohne auf Summer zu warten. Ich glaube, sie steht immer noch unter Schock. Ich habe ihr während der Fahrt von Sureyas Fehlgeburt erzählt. Summers Gesichtsfarbe wechselte währenddessen von weiß vor Entsetzen zu rot vor Wut über die Ungerechtigkeit der Welt. Es kann sein, dass wir durch diese schreckliche Geschichte etwas abgelenkt waren und uns vielleicht deshalb auf dem Weg hierher verfranst haben.
Aber jetzt sind wir da. Ich entdecke Richard und Molly, die vom Rand aus das Geschehen auf dem Platz verfolgen. Ich lasse den Blick suchend über die Spieler auf dem Platz schweifen und entdecke gleich darauf auch Thomas. Er trägt einen übergroßen gelben Latz über seinem Arsenal-Trikot. Er sieht richtig winzig aus. Thomas ist zwar schon immer etwas schmächtig gewesen, aber hier neben den anderen Spielern wirkt er geradezu wie eine Elfe. Wie alt mögen die anderen sein? Sicherlich älter als Thomas, weil sie ihn alle deutlich überragen. In diesem Moment gesellt sich Summer an meine Seite, und wir verfolgen gemeinsam eine Weile das Spiel. Thomas sprintet zielstrebig über den Platz, aber keiner spielt ihn an – als wäre er so klein, dass er einfach übersehen wird.
Summer und ich spazieren an der Seitenlinie entlang zu Richard.
»Hast du gut hergefunden?«, fragt er überflüssigerweise.
Ich bin nicht völlig unbrauchbar, Kamerad, denke ich, immer noch stinksauer darüber, dass Richard den perfekten Daddy mimt, während in seiner Jackentasche ein Liebesbeweis für seine Mätresse steckt.
»Ja, war absolut kein Problem«, erwidere ich freundlich.
»Geht es ihr gut?« Richard nickt in Richtung Summer, die diskrete drei Meter Abstand zu uns hält.
»Ja, mittlerweile schon«, entgegne ich, wobei ich Stolz verspüre, weil das mein Verdienst ist. »Ich erzähle es dir später.«
Ungefähr zwanzig Meter von uns entfernt stehen drei Männer in Trainingsanzügen und verfolgen aufmerksam das Spiel. Bei ihnen steht ein vierter Mann in einem Mantel. Ron, der Talentscout. Ich habe ihn zwar bis jetzt nur einmal gesehen – an dem Tag, als er Thomas bei einem Spiel im Park beobachtete und ihn anschließend zum Auswahltraining einlud –, aber diese schlohweiße Haarpracht vergisst man nicht so schnell.
»Wie schlägt sich Thomas?«, frage ich Richard.
Er hebt unsicher die Schulter. »Schwer zu sagen. Vorhin durfte er ein paar Tricks zeigen. Er hat es wirklich drauf. Ich habe gestaunt, wie viel Ballgefühl er hat.«
»Ist das für dich was Neues?«, sage ich und bereue es sofort.
Richard schenkt mir trotzdem ein kurzes Lachen. »Tut mir leid, du hast ja recht. Aber Thomas ist wirklich ein großes Talent. Fragt sich wirklich, von wem er das hat.«
Das frage ich mich auch.
Meine Gedanken schweifen ab zu den Samstagabenden früher, wenn die Sportschau lief. Dad kam immer pünktlich zum Programmbeginn aus der Kneipe. Die darauf folgende Stunde verbrachte er dann damit, den Fernseher anzubrüllen, als könnten die Spieler ihn hören, als wären die Spiele live und nicht schon vor mehreren Stunden abgepfiffen worden und als hätte er mehr Ahnung als alle erstklassigen Fußballtrainer zusammen. Wie Thomas war auch mein Vater fußballverrückt. Schon komisch, das mit den Genen. Man weiß nie, welche man abbekommt.
»Jedenfalls haben sie Thomas dann für das Spiel hier eingeteilt«, fährt Richard fort. »Allerdings hat er kaum Ballkontakte, um ehrlich zu sein.«
»Warum lassen die ihn denn mit den älteren Jungs spielen?«
»Die sind nicht älter. Die sind alle zwischen zehn und zwölf.«
»Aber die sind alle so groß. Geben die denen Anabolika?«
In diesem Augenblick bekommt Thomas den Ball zugespielt. Mein Puls geht sofort schneller, als er mit dem Ball lossaust und elegant einen Gegenspieler umkurvt, der doppelt so breit ist wie er ...
Ja, Thomas, vorwärts!
... um allerdings gleich darauf vom nächsten gestoppt zu werden, der dreimal so breit ist wie er. Das war Foul! Thomas liegt rücklings auf dem Boden und sieht verwundert dem Ball nach, der in die entgegengesetzte Richtung fliegt. Ich spüre Wut in mir hochsteigen. Warum tut denn keiner was? Wer pfeift eigentlich das Spiel? Am liebsten würde ich zu Thomas laufen und ihn tröstend in den Arm nehmen, aber noch lieber würde ich mir den großen Mistkerl schnappen, der meinen Sohn umgerannt hat, und ihm eine ordentliche Ohrfeige verpassen. Natürlich unternehme ich nichts dergleichen. Aber nur, weil Molly in diesem Moment meine Hand ergreift.
»Der arme Thomas«, sage ich. »Das ist nicht fair.«
»So geht das schon die ganze Zeit«, bemerkt Richard. »Wenn er mal an den Ball kommt, dann wird er gleich gefoult. Die spielen hier eher Rugby als Fußball.«
Nun, er muss es ja wissen.
Wir verfolgen das quälende Schauspiel ein paar weitere Minuten, während derer ich im Stillen Thierry Henry für seine Schienbeinschoner danke. Summer schleicht sich an mich heran und sagt: »Er ist ein zäher kleiner Bursche, nicht wahr? Er will auf keinen Fall aufgeben.« Sie hat recht. Ich erheische einen seltenen Blick auf Thomas’ Zähne, aber er lächelt nicht – vielmehr beißt er die Zähne grimmig zusammen.
Ein Pfiff. Das Spiel ist vorbei. Ich bin erleichtert, weil es eine Qual war zuzusehen. Thomas beugt den Oberkörper nach vorne und stützt sich mit den Händen auf den Knien ab, das Gesicht vor Anstrengung verzerrt. Wieder verspüre ich den Drang, zu ihm zu laufen, und will mich instinktiv in Bewegung setzen, als ich Richards Hand auf meiner Schulter spüre, die mich zurückhält.
Was soll das?
Aber Richard tut das Richtige, denn in diesem Moment macht sich einer der drei Trainer auf den Weg zu Thomas. Wir beobachten, wie die beiden miteinander reden – beziehungsweise wie der Trainer redet, während Thomas nach Luft schnappt und hin und wieder nickt. Gleich darauf kommt Ron an der Seitenlinie auf uns zu.
»Mrs Clark«, begrüßt er mich mit breitem Lächeln. »Schön, Sie wiederzusehen.« Er nickt Richard kurz zu und richtet den Blick dann wieder auf mich. »Terry wird gleich zu Ihnen rüberkommen, um ein paar Takte zu sagen.«
»Was denken Sie, Ron?«, frage ich. »Wie war er?«
Ron grinst mich an. »Das kann ich nicht beurteilen, Mrs Clark. Ich bringe die Jungs nur hierher. Für den Rest sind die Trainer zuständig.«
Ich blicke ihn flehentlich an.
Ron lacht. »Ich glaube, Ihr Sohn hat großes Talent«, sagt er dann. »Und er hat ein Kämpferherz. Das war ein ganz schön hartes Spiel. Die Jungs trainieren nämlich alle schon seit einer Weile auf der Akademie. Sie können stolz auf Ihren Sohn sein.«
Während Ron sich wieder entfernt, klammere ich mich an seine Worte: »großes Talent«, »Kämpferherz«, »können stolz auf Ihren Sohn sein«. Ich kann wirklich stolz auf ihn sein.
Auf dem Platz wendet Terry, der Trainer, sich nun wieder von Thomas ab und geht zurück zu seinen Kollegen. Thomas trottet endlich langsam zu uns, und ich gehe in die Knie, um seinen erschöpften, schweißnassen, kleinen Körper zu umarmen. »Du warst große Klasse«, sage ich. »Ich bin sehr stolz auf dich.«
»Guter Einsatz, Thomas«, fügt Richard hinzu. »Das war ein ganz schön hartes Match.«
»Hart? Das waren lauter Irre auf dem Platz«, schaltet Summer sich ein. »Du hast super gespielt, Thomas.«
Thomas setzt seinen Ihr-seid-alle-Idioten-Blick auf. »Ich habe scheiße gespielt«, sagt er und lässt den Kopf hängen.
»Nein, das stimmt nicht. Ron hat gesagt, dass du großes Talent hast. Und dass du ein Kämpferherz hast«, tröste ich ihn. »Was hat denn dieser Terry zu dir gesagt?«
»Dass ich gut gespielt habe und so.«
»Siehst du? Wenn selbst der Trainer das sagt ...«
Thomas zuckt die Achseln, als habe das nichts zu bedeuten.
Wir beobachten schweigend, wie die Trainer sich unterhalten. Ron steht bei ihnen, allerdings nimmt er nicht an dem Gespräch teil, sondern hört nur zu – schließlich ist er dafür nicht zuständig. Mir ist schlecht. Das hier ist schlimmer als jedes Casting, das ich gemacht habe. Ich nehme Thomas’ Hand, aber er zieht sie wieder weg – das ist nicht der richtige Ort, um mit Mummy öffentlich Händchen zu halten. Ich nehme stattdessen mit Mollys Hand vorlieb, mehr mir als ihr zuliebe.
Nach einer halben Ewigkeit kommt der Mann namens Terry zu uns herüber. Ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen, aber das verrät nichts.
»Sind Sie der Vater von Thomas?«, fragt er Richard, als er uns erreicht.
»Ja«, entgegnet Richard und wendet sich mir zu. »Und das ist –«
»Terry Kember«, sagt Terry Kember, streckt die Hand aus und schüttelt Richards Rechte. »Ich bin der sportliche Leiter der Akademie.«
Ich spüre, wie mein Herz schneller klopft. Ich will es einfach hinter mich bringen, ich will nur wissen, ob ja oder nein. Ich bin so aufgeregt, dass ich kaum Luft bekomme.
»Sie können stolz sein auf Ihren Sohn«, sagt Terry – zu Richard. »Er hat eine hervorragende Ballbeherrschung und flinke Beine. Und er besitzt sowohl Spielintelligenz als auch ein Auge für die Raumaufteilung.«
Richard nickt, als wüsste er, wovon der Mann redet. Ich sehe auf Thomas, der beinahe platzt vor Stolz, da das Lob dieses Mal von einem richtigen Fußballfachmann kommt.
»Ihr Sohn hat mich sehr beeindruckt, Mr Clark.«
Das ist toll, aber warum immer nur Mr Clark? Was ist mit mir, der Frau, die Thomas jedes Wochenende zum Training und zu den Spielen kutschiert? Der Frau, die über seine Tore jubelt und seine Trikots wäscht und seine Schürfwunden verarztet? Kurz, der Frau, die echtes Interesse zeigt?
Mr Kember ignoriert meine stumme Empörung und kniet sich zu Thomas herunter. »Wie alt bist du?«, fragt er.
»Elf«, schwindelt Thomas. »Na ja, im Dezember werde ich elf.«
»Gut. Wie ich gerade zu deinem Vater gesagt habe, du bist ein toller Fußballer. Bei welchem Verein spielst du im Moment?«
»North London.«
»Den kenne ich. Gary Holt ist dort der sportliche Leiter, nicht wahr? Er ist ein guter Trainer. Wenn du weiter hart an dir arbeitest, wird er dein Spiel voranbringen.« Terry wuschelt Thomas durch die Haare, dann richtet er sich wieder auf und wendet sich Richard zu – ja, Richard.
»Gut. Schön ...« Terry tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen. Wir kommen jetzt zu der alles entscheidenden Frage, und ich habe die schreckliche Ahnung, dass die Antwort kein Ja sein wird. »Ihr Sohn hat Talent, aber ...«
Da ist es ja, das Aber.
»... er ist sehr schmächtig.«
»Aber das ändert ja nichts an seinem Talent«, wende ich ein, ohne die Verzweiflung in meiner Stimme zu unterdrücken.
Terry Kember sieht mich daraufhin zum ersten Mal an. »Fußball ist ein sehr körperbetontes Spiel. Sie haben ja selbst gesehen, in was für einer Form die Jungs hier sind. Ihr Sohn muss sich auf dem Platz durchsetzen können.«
»Aber er wächst noch«, halte ich dagegen, wobei ich den Arm ausstrecke und Thomas an mich heranziehe. Dieses Mal sträubt er sich nicht.
»Ja, schon, aber ich bezweifle, dass er jemals eine stattliche Größe erreicht.« Terry sieht die Verzweiflung in meinem Gesicht. »Aber das kann sich ja noch ändern. Vielleicht macht er irgendwann plötzlich einen Schuss in die Höhe. Das gibt es. Was halten Sie davon, wenn Sie nächstes oder übernächstes Jahr wiederkommen, und wir sehen ihn uns noch mal an ...?«
Nein, du Blödmann, warum lege ich dir nicht einfach meine Hände um den Hals und drücke so lange zu, bis du deine Meinung änderst?
Terry sieht auf seine Uhr. »Ich muss jetzt wieder. Danke, dass Sie gekommen sind. Das war heute eine wirklich gute Leistung, Thomas. Immer fleißig weitertrainieren, ja?«
Und nachdem Terry Richard kurz die Hand gedrückt hat, schreitet er auch schon über das Spielfeld von dannen – ein viel beschäftigter Mann, der noch mehr Jungenträume zum Platzen bringen muss. Ich hasse ihn. Natürlich für seinen unterschwelligen Sexismus, aber vor allem deshalb, weil ich fühlen kann, wie Thomas’ Herz bricht. Ich erschrecke, wie sehr mich das selbst mitnimmt. In den letzten Tagen habe ich versucht, Thomas schonend auf eine eventuelle Absage vorzubereiten, aber offenbar habe ich vergessen, mich selbst darauf vorzubereiten.
»Arschloch«, murmle ich.
»Der war doch ganz nett«, sagt Richard. »Und er hat Thomas sehr gelobt.«
»Nein, Richard, der Typ ist ein absolutes Arschloch.« Ich beuge mich zu Thomas herunter. Er beißt auf seine Unterlippe und kämpft gegen die Tränen an. »Dem wirst du noch zeigen, dass er einen Fehler gemacht hat, Thomas, du wirst sehen. Ich werde dir ab sofort nur noch Steaks vorsetzen, und dann wirst du wachsen wie verrückt, und wenn du dann in ein paar Jahren für England spielst, werde ich diesem Ignoranten einen Brief schreiben, um ihn an seine fatale Fehlentscheidung zu erinnern.«
Ich ziehe meinen Sohn an mich und umarme ihn fest, einerseits um seine Tränen aufzuhalten, andererseits um meine eigenen zu verbergen.
Die Kinder sind auf dem Weg zu meiner Mutter. Richard fährt sie. Ich wollte zunächst meinen Ohren nicht trauen, als er sich anbot. »Nun, du musst ja schließlich Summer nach Hause bringen«, sagte er. Womit er recht hatte. Ich wäre zwar am liebsten bei Thomas geblieben, aber Richard und Summer zusammen in einem Wagen ... Tja, die Innentemperatur im Lexus würde auch ohne die Klimaanlage absinken.
Bevor wir uns alle auf den Weg machten, verbrachte ich eine Viertelstunde mit Thomas alleine, in der ich versuchte seine Enttäuschung zu mindern.
»Chrystal Palace ist ohnehin ein Gurkenverein«, sagte ich. »Ich wollte sowieso nicht, dass du für die spielst. Du bist ein Arsenal-Spieler.«
»Aber die nehmen nur Franzosen.«
»Na und? Dann lernst du eben Französisch. Und isst Berge von Steaks.«
In diesem Augenblick beschloss ich, für das nächste Heimspiel von Arsenal Karten zu besorgen, und wenn es mich das Leben kosten würde. Im nächsten Augenblick beschloss ich, dass Richard eigentlich zwei Dauerkarten für Thomas und sich kaufen müsste, als Wiedergutmachung dafür, dass er unser Leben ruiniert hat. Bis jetzt habe ich noch keine Forderungen gestellt – wird das nicht von verbitterten, verlassenen Ehefrauen erwartet? Vielleicht ist der Augenblick ja günstig.
Die Fahrt zurück in die Stadt verläuft ruhig – und langsam, verglichen mit der Hinfahrt. Summer sitzt neben mir, fertig mit den Nerven. Sie macht den Mund erst auf, als wir die Waterloo Bridge überqueren und wieder das vertraute Gefilde nördlich der Themse erreichen.
»Was für ein Tag«, stöhnt sie. »Das war ein guter Vorgeschmack darauf, was mich als Mutter erwartet. Diese vielen ... Enttäuschungen, mit denen man fertig werden muss.«
»Bitte, du darfst dich nicht davon abschrecken lassen. Man muss Tiefen durchschreiten, um Höhen zu erleben. Und es gibt diese Höhen, glaub mir. Ich werde dafür sorgen, dass du so ein Hoch mal live bei uns miterlebst.«
Summer erwidert lachend: »Du warst vorhin großartig, weißt du das?«
»Von wegen. Der Kerl hat mich total verarscht.«
»Nein, du warst toll. Du hast dich für Thomas richtig eingesetzt. So wie du dich vorhin für mich eingesetzt hast. Und so wie du dich für Sureya eingesetzt hast. Du bist eine tolle Mutter und eine großartige Freundin.«
»Hör auf. Hör sofort damit auf«, sage ich im Befehlston. »Für heute habe ich schon genug Tränen vergossen.«