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Samstag. Es ist kalt draußen. Ich sitze zusammengekauert auf einer Bank im Park und sehe Thomas bei seiner Lieblingsbeschäftigung zu. Molly tobt sich auf der Rutsche und der Schaukel hinter mir aus, wobei ihr die Kälte offenbar nichts anhaben kann. Genauso wenig wie Thomas. Aber er hat auch gerade sein erstes Tor erzielt. Und bei Toren wird ihm immer warm ums Herz.
Normalerweise würde ich bei so einer Kälte nach Hause gehen. Meine Hingabe für die Leidenschaft meines Sohnes reicht nämlich nicht so weit, dass ich dafür Frostbeulen in Kauf nehme. Aber heute ist das anders. Gestern Abend habe ich Thomas von meinem Anruf bei Chrystal Palace erzählt. Er hat weder getobt noch mich beschimpft oder Sachen nach mir geworfen, weil ... nun, weil ich ihm nicht die Wahrheit gesagt habe. Ich habe ihm nämlich erzählt, dass Chrystal Palace in diesem Jahr keine Nachwuchsspieler mehr aufnimmt. Sparmaßnahmen, erklärte ich - die alte Leier. Es hat insofern funktioniert, als ich die Schuld von mir ablenken konnte. Thomas zog sich grübelnd in sein Zimmer zurück und erschien heute Morgen in seinem Fußballtrikot.
»Palace ist eh ein Scheißverein«, bemerkte er vorhin leise, auf dem Weg zum Park, »aber es ist mir egal, für wen ich spiele. Ich gehe auch zu einem noch schlechteren Verein.«
Es tat mir im Herzen weh zu hören, wie verzweifelt mein Sohn sich wünscht, bei einem großen Verein zu spielen. Und ich kam mir so erbärmlich vor, weil ich ihn angelogen hatte, dass ich mir geschworen habe, ihm ab jetzt bei jedem Training zuzuschauen, auch auf die Gefahr hin, dass man hinterher meinen festgefrorenen Körper mit einem Eispickel von der Parkbank hauen muss.
Thomas ist gerade am Ball. Er dribbelt ihn an ein paar Spielern vorbei, wobei er selbst über seine Leichtfüßigkeit zu staunen scheint, als würde er eben erst sein Talent entdecken. Er hebt den Kopf und flankt den Ball zu einem Mannschaftskameraden, aber ausnahmsweise wird der Pass von einem Gegenspieler abgefangen. Im Nu ändert sich Thomas’ Körpersprache, von locker-geschmeidig zu aggressiv-angespannt. Seine ungezwungene Spielfreude von eben ist verflogen. Typisch Thomas ... Ich beobachte, wie er über das Spielfeld läuft, mit hochgezogenen Schultern, wütend und ernst. Bis auf ein paar Haare mehr auf dem Kopf hat er sich seit seiner Geburt kaum verändert.
Aber die Welt kann sich von einem Augenblick auf den anderen verändern, nicht wahr? Ein terroristischer Bombenanschlag, sechs Richtige im Lotto, oder Thomas rollt plötzlich der Ball vor die Füße, und er lupft ihn instinktiv über den Torwart.
Mit verlegenem Lächeln nimmt er die Glückwünsche seiner Mannschaftskameraden entgegen, ohne seine Mutter zu beachten, die wie eine Wahnsinnige jubelt und klatscht.
Ich überlege, ins Café zu flüchten, um mich dort mit einem Kaffee aufzuwärmen. Obwohl heute viele Mütter da sind, kenne ich keine davon näher. Schade, dass Natasha nicht hier ist. Ich könnte eine kleine Aufmunterung von ihr gut gebrauchen. Oder von Sureya. Bei der erst einmal eine dicke Entschuldigung fällig ist. Ich fasse einen Entschluss. Gleich nach dem Fußballspiel werde ich Sureya spontan besuchen. Ich werde ihr sagen, wie leid mir mein Verhalten tut und dass ich sie sehr lieb habe. Vielleicht lässt sie es ja als Entschuldigung gelten, dass ich so eine beschissene Woche hinter mir habe. Das soll sie selbst entscheiden. Denn ich möchte endlich ehrlich sein und ihr die Wahrheit sagen. Und wenn ich das hoffentlich rasch hinter mich gebracht habe, können wir uns wieder voll und ganz auf Sureyas Schwangerschaft konzentrieren. Das hätte ich schon viel früher tun sollen.
Es ist gut, dass heute ein eisiger Wind weht. Vielleicht bläst er ja den Nebel aus meinem Kopf – der natürlich auf zu viel Alkohol zurückzuführen ist. Mag ja sein, dass ich den Kindern etwas vormachen kann – Mummy hat Kopfschmerzen –, aber ich kann mich nicht länger selbst verarschen. Obwohl ich mir dieses Gespräch mit Natasha nie gewünscht habe, muss ich seitdem immer wieder daran denken.
Habe ich ein Alkoholproblem?
Bevor die Kinder geboren waren, gingen Richard und ich regelmäßig nach Feierabend einen trinken. Menschen, die den ganzen Tag hart arbeiten, haben sich abends einen Drink verdient. Und es war sozusagen Pflicht, am Freitagabend mit unseren Freunden auszugehen und uns die Kante zu geben. Und dann das ganze Wochenende durchzufeiern. Ein geselliges Leben führen hieß, jung und unbeschwert zu sein.
Doch an welchem Punkt trinkt man nicht mehr aus Geselligkeit, sondern um sein Leben auszublenden?
Ob mein Vater sich jemals diese Frage gestellt hat? Er hat nur dann keinen Alkohol zum Frühstück getrunken, wenn er noch vom Abend zuvor betrunken war. Er hatte keine Arbeit, mit der er sich hätte identifizieren können. Er war, mit einem Wort, Alkoholiker.
Mum hielt es mit ihm bis zu dem Tag vor meinem dreizehnten Geburtstag aus. Sie beauftragte ihn, eine Geburtstagstorte zu kaufen. Normalerweise vertraute sie ihm kein Geld an, aber sie hatte an dem Tag eine Doppelschicht – sie arbeitete damals in der Kantine des Homerton Hospital.
Ich habe nie gehört, dass meine Mutter gegenüber meinem Vater jemals laut geworden ist. Wenn sie von der Arbeit kam und ihn fast immer betrunken vorfand, bat sie ihn nur, sich endlich zusammenzureißen. Doch als er stockbetrunken und ohne Torte nach Hause kam, packte sie für ihn ein paar Sachen zusammen und wies ihm mit ruhiger Stimme die Tür. Nicht einmal da ist sie laut geworden. Vielleicht hätte sie es mal werden sollen, vielleicht hätte mein Vater dann endlich mal eins von seinen vielen Versprechen wahrgemacht. Vielleicht hätte er sogar dem Alkohol adieu gesagt und eine Arbeit gefunden ...
Aber wahrscheinlich eher nicht.
An dem Tag, bevor ich dreizehn wurde, schwor mein Vater, mit dem Trinken aufzuhören. Das ist kinderleicht, sagte er. Er würde einfach keinen Alkohol mehr anrühren. Einfach aufhören, »von jetzt auf gleich«, sagte er mit lallender Tommy-Cooper-Stimme. Er konnte gut Stimmen imitieren, mein Vater. Schon komisch ... Aber Mum hatte dieses Versprechen schon zu oft gehört, um noch daran zu glauben.
Ich dagegen glaubte daran. Ich kauerte auf dem oberen Treppenabsatz und spitzte die Ohren, um alles genau mitzubekommen. Und ich weinte, weil ich wusste, dass es aus war. Dummerweise hatte ich an meinem Vater einen Narren gefressen. Meine Mutter war ja nie da. Sie war ständig arbeiten. Aber dafür war Dad immer zu Hause, wenn ich von der Schule kam – da hatten die Kneipen noch zu. Und er trug mich auf Händen. Von meiner Mutter bekam ich nur wenig Zuneigung – wahrscheinlich war sie immer zu kaputt, um mit mir zu schmusen. Aber mein Vater machte das wieder mehr als wett, nicht zuletzt dank seines permanenten Alkoholpegels im Blut. Als meine Mutter ihn hinauswarf, war ich am Boden zerstört.
»Bitte, hol ihn zurück«, flehte ich sie an. »Ich will gar keinen Kuchen. Mach bitte, dass er einfach nur zurückkommt.«
Daraufhin legte meine Mutter den Arm um mich, eine seltene Gefühlsregung bei ihr. Sie sagte kein Wort. Sie ließ mich einfach weinen. Im Nachhinein frage ich mich, wie sie mit ihrer Trauer und ihrem Schmerz fertig wurde. Aber damals kümmerte mich das nicht. Ich war noch ein Kind und dachte nur an mich selbst. Denn wie so viele meiner Freundinnen würde auch ich nun ohne Vater sein.
Seitdem habe ich Dad nicht mehr gesehen. Ich habe keine Ahnung, wo er ist und ob er überhaupt noch lebt. Mum und ich sprechen nie über ihn, aber wir sprechen ja ohnehin nie über wichtige Dinge. Und heute denke ich nur noch selten an meinen Vater. Ab und zu. So wie jetzt.
Und meine Augen tränen wahrscheinlich nur vom Wind.
Ich drehe mich um und halte nach Molly Ausschau. Sie steht zusammen mit Maisy ganz oben auf dem Klettergerüst. Was bedeutet, dass Annabel und ihre Warze nicht weit sein können – wahrscheinlich sitzt sie im Café. Reflexartig schlage ich den Kragen meiner Jacke hoch und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf den Trainingsplatz. Der Trainer hat mittlerweile das Spiel unterbrochen und demonstriert den Jungs, wie man einen Ball köpft. Beziehungsweise er lässt es Thomas demonstrieren und beschränkt sich darauf, Tipps zu brüllen und Thomas den Ball zuzuwerfen, der jedes Mal perfekt hochspringt und den Ball in die Hände des Trainers zurückköpft.
»Ein zierliches Kerlchen, aber ein toller Fußballspieler, nicht wahr?«
Während ich vor Stolz innerlich zu glühen beginne, drehe ich den Kopf zu der Frau, die sich zu mir auf die Parkbank gesetzt hat. Sie ist jung, hübsch, eine Lati- ... afro-karibischer Abstammung. Große braune Augen, große Kreolenohrringe und ein teurer Mantel aus Schaffell.
»Ist das da ein richtiger Fußballverein?«, fragt sie mich.
»Ja, und sogar ein richtig guter«, antworte ich. »Samstags ist immer Training, und sonntags finden die Spiele statt.«
»Nun, gut zu wissen. Das könnte meine Entscheidung beeinflussen, ob wir hierher ziehen. Mein Sohn ist nämlich ganz verrückt nach Fußball.«
»Sie wollen sich hier niederlassen?«
»Ja, aber leider sind die Mieten so teuer. Harrison, mein Kleiner, wird im nächsten Jahr drei, und wenn ich ihn hier für einen Kitaplatz anmelden will, sollten wir schnell umziehen. Die Arlington-Schule soll die Beste sein, die es weit und breit gibt.«
»Ja, das habe ich gehört«, entgegne ich.
Ich bewundere diese Frau, weil sie so weit im Voraus denkt. Richard und ich sind nur hierher gezogen, weil uns das Haus so gut gefiel. Es war absoluter Zufall, dass wir im Einzugsgebiet der Arlington-Schule gelandet sind. Heutzutage muss man seine zukünftige Adresse direkt nach dem Sex planen. Am besten schon bevor die fruchtbaren Tage beginnen.
»Ich weiß ehrlich nicht, ob wir uns das leisten können«, sagt die Frau, während der Trainer das nächste Spiel anpfeift, wobei er dieses Mal Thomas aus Gründen der Fairness der anderen Mannschaft zugeteilt hat. »Allerdings wäre alles besser als das, wo wir jetzt wohnen.«
»Und wo ist das?«, frage ich.
»In Bethnal Green. Ein richtiges Loch!«
»Oh, ich bin dort aufgewachsen«, erwidere ich automatisch.
»Dann wissen Sie ja, was ich meine. Aber manche Dinge sind überall gleich, egal, wo man wohnt, nicht wahr?«
»Was meinen Sie?«, frage ich, während ich überlege, was Bethnal Green mit dieser Gegend hier gemeinsam haben könnte, abgesehen vielleicht von Zebrastreifen.
»Ich war vorhin im Café, um mich aufzuwärmen – machen die nicht einen ganz fantastischen Cappuccino? Aber diese Weiber ... Ich weiß nicht.« Sie schüttelt lachend den Kopf. »Sie hätten sie mal hören sollen. Die waren gerade dabei, sich über irgendeine arme Frau das Maul zu zerreißen. Gott, ich bin schlimm, nicht? Ich meine, ich bin keinen Deut besser, wenn ich diesen Klatsch belausche, oder?«
»Nein, das würde ich nicht sagen«, entgegne ich. »Manchmal kann man nichts dafür, dass man mithört, oder?«
»Kann schon sein ... Aber, Mannometer, die haben ganz schön vom Leder gezogen.«
»Was wurde denn geredet?«, frage ich, neugierig geworden.
»Sehen Sie? Jetzt fangen wir auch schon an zu tratschen.« Die Frau stößt ein Lachen aus.
»Ja, aber wir kennen uns schließlich nicht«, erwidere ich. »Und wir wissen auch nicht, über wen gelästert wurde, also kann man das nicht wirklich als Tratschen bezeichnen. Höchstens theoretisch.«
Die Frau schenkt mir ein nachgiebiges Lächeln. »Okay, Sie haben mich überzeugt. Die Frau, von der die Rede war, hat gestern offenbar vergessen, ihre Kinder von der Schule abzuholen, und es wurde vermutet, dass ...«
Oh, bitte nicht.
»... sie zu betrunken war. Scheinbar ist sie Alkoholikerin. Und die eine, die wie eine Hexe aussieht – sie hat sogar eine Warze auf der Nase –, hat besonders übel über die arme Frau hergezogen und angedeutet, dass sie zudem auch noch gegen Ausländer hetzt. Traurig, nicht? Rassismus würde man hier in der Gegend normalerweise nicht erwarten.«
Am liebsten würde ich kotzen. Ich will das nicht hören, kein Wort davon.
Aber sie ist noch nicht fertig.
»Dann wurde gemunkelt, dass die Frau schon seit einiger Zeit Alkoholprobleme hat und dass ihr die Dinge völlig entglitten sind, nachdem ihr Mann sie sitzen gelassen hat. Er ist anscheinend mit irgendeinem Model abgehauen, und das hat ihr wohl den Rest gegeben, die Arme. Meiner Schwester ist letztes Jahr genau dasselbe passiert. Mein feiner Schwager ist mit dem Babysitter durchgebrannt. Das Mädchen ist fünfzehn Jahre jünger als er. Fünfzehn Jahre! Können Sie das glauben?«
Ich möchte antworten, ja, das kann ich glauben, aber ich bringe keinen Ton heraus.
Woher kommt diese Frau so plötzlich? In diesem Park gibt es Dutzende von Bänken. Warum musste sie sich ausgerechnet meine Bank aussuchen? Sie hätte diese Unterhaltung auch mit einer anderen Fremden führen können. Ich wollte das alles gar nicht wissen.
Ein lautes Geräusch lässt mich hochfahren. Der Schlusspfiff. Gott sei Dank. Ich stehe auf, mit wackligen Beinen. Thomas trottet auf mich zu, und ich flehe ihn stumm an, einen Gang zuzulegen, damit wir rasch von hier verschwinden können.
»Viel Glück«, schaffe ich gerade noch zu der Frau zu sagen – zu der, die bereits ihr zukünftiges Leben plant, nachdem sie meins gerade vernichtet hat.
»Oh, danke«, erwidert sie, ohne zu ahnen, was sie angerichtet hat. »Ja dann, tschüss.«
Ich muss dringend nach Hause. Ich muss die Kinder vor den Fernseher setzen, damit ich mich im Bad einschließen und mich ausheulen kann. Oder etwas kaputthauen. Oder schlafen. Keine Ahnung, was. Ich muss einfach nur nach Hause.
Ich suche mit den Augen den Spielplatz nach Molly ab und entdecke dabei Fabian. Wo kommt der denn plötzlich her? Egal. Ich muss auf jeden Fall hier weg.
»Molly!«, brülle ich, als ich sie erspähe. »Komm, beeil dich!«
Molly trottet zu uns herüber, und wir drei machen uns auf, den langen Weg am Café vorbei.
Ich sehe einfach nicht hin, dann wird auch nichts passieren. Einfach weitergehen. Nicht den Kopf heben.
Doch das Café ist wie ein Magnet, dessen Anziehungskraft ich nicht widerstehen kann. Ich drehe den Kopf, und da sehe ich sie. Vor dem Café stehen ein paar Frauen, die ihren Kindern gerade die Jacken anziehen.
Und darunter ist auch meine Freundin Natasha, mit ihrem Jüngsten an der Hand. Sie unterhält sich gerade mit Annabel und einer weiteren Person, die ich nicht kenne. Plötzlich erspäht sie mich und winkt mir zu. Mit einem großen, glücklichen Prozac-Lächeln in ihrem doppelgesichtigen Gesicht. Ich tue so, als würde ich sie nicht sehen, und wende mich zu meinem Sohn um, der ein Stück hinterherhinkt.
»Thomas, mach schon! Wir sind spät dran.«
Ich muss es nur nach Hause schaffen, dann wird alles wieder gut.