13
(Für manche eine Unglückszahl, aber nicht für alle)
Freitag: Auf dem Weg zur Schule stoße ich mit Natasha zusammen. Beziehungsweise sie mit mir. Ihr Kopf ist gesenkt, und ihre schlanke Gestalt ist über den riesigen Zwillingsbuggy gebeugt. Eine Art Wohnzimmer auf Rädern. Auf der einen Seite sitzt der zweijährige Trist, auf der anderen der fünfjährige Fabian, der darin allerdings älter aussieht.
»Oh, Entschuldigung!«, ruft Natasha bestürzt, als eines der Räder meinen Fuß streift.
»Kein Problem, ist nichts passiert.« Ich unterdrücke den Schmerz mit einem gezwungenen Lachen. Wäre jemand anders in mich hineingefahren, wäre ich demonstrativ den ganzen restlichen Weg bis zur Schule gehumpelt.
»Ihr habt es offenbar eilig, wie?«, sage ich.
»Die olle Gottfried hat uns mit der roten Karte gedroht, wenn wir noch einmal zu spät kommen«, erklärt Natasha. »Oder warum, denken Sie, sitzt Fabian im Buggy? Eigentlich ist er schon viel zu groß dafür, aber wenn es mal schnell gehen muss, kann dieses Ding Leben retten.«
Molly blickt zu mir hoch. »So ein Baby«, flüstert sie. Das Problem ist, dass Molly nicht richtig flüstern kann. Ein Megafon ist nichts dagegen.
Aber Natasha hat den Anstand, über Mollys Bemerkung zu lachen. »Ja, da sagst du was. Trotzdem, in diesem Schuljahr möchte ich vermeiden, dass Cassie sich über mich das Maul zerreißt.«
»Was meinen Sie damit?«, frage ich. Ich bin ein wenig verwirrt. Ich dachte, Natasha wäre ganz dick befreundet mit der Oberhexe. Warum sollte dann Cassie über Natasha herziehen?
»Wenn Cassie erfährt, dass wir von offizieller Seite eine Rüge erhalten haben, dann, tja dann wird für uns die Hölle anbrechen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich nehme es zwar mit jedem beliebigen fiesen Kinderanimateur auf, aber mit Cassie ...?«
Wieder einmal ertappe ich mich dabei, dass ich Natasha bewundere. Nicht nur für ihre Fähigkeit, über alles zu lachen, sondern dafür, wie sie ist. Es ist kurz vor neun, und sie trägt volles Make-up, einen engen, figurbetonten Rock und - sind das etwa Jimmy Choos? Ich versuche, den Blick auf meine ausgefranste Jeans zu vermeiden, und ziehe mir die Mütze tiefer ins Gesicht. Warum sehe ich so aus, als wäre ich gerade aus dem Bett gefallen? Molly hat mich immerhin um halb sieben geweckt. Mangelnde Zeit ist also kein Argument.
Wir erreichen das Schultor. Thomas, der zehn Meter vor uns geht, sprintet plötzlich los in Richtung Sportplatz, um wenigstens noch zwei Minuten den Ball zu kicken, bevor die Schulglocke läutet. Er winkt mir flüchtig zu, bevor er losrennt. Kein Kuss, kein Blick zurück. Na, immerhin ein kurzes Winken.
»Wenn Cassie sich weniger Gedanken um andere Leute machen und sich stattdessen mehr um sich selbst kümmern würde, wäre sie bestimmt glücklicher«, bemerkt Natasha. »Für sein Glück muss man sich auch ein wenig anstrengen, nicht wahr?«, fügt sie trocken hinzu.
Ich weiß genau, was sie meint. Ich muss mich jeden Morgen anstrengen, um aus dem Bett zu kommen.
»Das Geheimnis ist, dass man Prioritäten setzen muss«, redet sie weiter und dreht sich nach ihrem Ältesten um. »Quinn, mach schon, leg mal einen Zahn zu.«
Quinn trödelt bereits die ganze Zeit hinter uns her, und erst als er langsam näher trottet, sehe ich auch, warum. Er hält eine Müslischale gegen den Bauch gedrückt und löffelt gerade die letzten Cheerios heraus. Anschließend gibt er die Schale und den Löffel seiner Mutter, die beides im Buggynetz verstaut, wo bereits zwei Schalen und zwei Löffel stecken.
»Frühstück on the road«, erklärt Natasha, als sie meinen Blick bemerkt. »Natürlich würden meine Jungs gerne am Tisch frühstücken, wie jedes andere normale Kind auch, aber das ist für mich die einzige Möglichkeit, mir morgens eine halbe Stunde im Bad zu gönnen. Wie bereits gesagt, man muss Prioritäten setzen.« Und sie lacht, den ganzen Weg über den Schulhof.
Mrs Gottfried erwischt mich, als ich gerade das Schulgebäude verlasse.
»Mrs Clark, wir müssen uns dringend unterhalten.«
»Ja«, entgegne ich, und denke, dass ein Gespräch über die Unkonzentriertheit, Verdrießlichkeit und sonstige -keiten meines Herrn Sohn das Letzte ist, was ich jetzt brauche.
»Haben Sie jetzt Zeit?«
»Nein, tut mir leid. Ich habe gleich einen Termin. Ich muss zum Zahnarzt«, erwidere ich. Das Schultor ist jetzt in Sicht, und ich beschleunige meine Schritte.
»Rufen Sie mich an?«
»Ja, mache ich«, gebe ich zurück, während ich in einen flotten Dauerlauf verfalle.
Genau deshalb trage ich Turnschuhe statt Jimmy Choos, wenn ich in die Schule gehe. Denn wie sollte ich auf hohen Absätzen vor Mrs Gottfried flüchten?
Natasha ist eine wahre Inspiration. Sie schafft es, ihre eigenen Interessen und ein ausgewogenes Frühstück für ihre Kinder unter einen Hut zu bekommen. Sie sieht aus wie ein Model, und trotzdem machen ihre Kinder einen glücklichen, wohlgenährten Eindruck. Und ich habe noch nie jemanden getroffen, der am frühen Morgen so viel lachen kann. Das ist es. Wenn Natasha das kann, kann ich das auch.
Ich beschließe, zum Broadway zu fahren. Ich bin in einer Mission unterwegs. Sie lautet, mir – endlich – etwas zum Anziehen für meine Geburtstagsparty zu kaufen, die nämlich – keine Panik, tief durchatmen – schon MORGEN ist!!!
Dabei besteht überhaupt kein Grund zur Panik. Schließlich ist alles bereits organisiert. Der Raum ist gemietet, der Cateringservice gebucht, der DJ über meine Lieblingslieder informiert, und irgendein Dekorateur verwandelt unseren beschaulichen Tennisklub in den Karneval von Rio oder so.
Ich muss mich nur noch um mich selbst kümmern: neues Outfit, neue Frisur.
Die großartige Idee mit der Party stammt von Richard. Er arbeitet schließlich im Marketing. Großartige Ideen sind sein Geschäft. Es würde mich nicht wundern, wenn er die Party mit seinen engsten Mitarbeitern geplant hat. Ziel: Ehefrau aus ihrem Trott reißen. Ich muss zugeben, dass ich anfangs von der Idee begeistert war. Ich sagte mir, dass die Party zwar nicht mein Leben verändern wird, aber dass mich zur Abwechslung einmal ein Abend erwartet, der mehrere Stunden Spaß am Stück verspricht. Ich malte mir aus, wie ich mich in einem neuen Kleid und mit einer neuen Frisur von einer Scheintoten in eine stolze Schönheit verwandle und all unsere Gäste von meinem Aussehen geblendet sind und mir Komplimente machen, ohne dabei die Worte für dein Alter in den Mund zu nehmen.
Ich habe doch selbst davon gesprochen, dass ich wieder öfter ausgehen sollte, und eine Geburtstagsparty ist doch ein perfekter Anfang, oder nicht? Das wird bestimmt ein toller Abend. Gut, es macht mich etwas nervös, dass ich im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen werde – das bin ich gar nicht mehr gewohnt –, aber es wird bestimmt toll. Es wird bestimmt ein toller Abend. Es wird bestimmt ...
Ist Wiederholung nicht das Grundprinzip von Gehirnwäsche? Na und? Wenn es funktioniert.
Ich kümmere mich also jetzt endlich um ein Outfit für die Feier. Ich stehe in einem Outlet-Center, wo man günstig Designerware kaufen kann. »Designer« darf man dabei nicht so wörtlich nehmen, das ist wahrscheinlich irgendein armer Teufel, der in einer Nähfabrik in China schuftet.
»Ah, die steht Ihnen wunderbar«, sagt die Verkäuferin zu mir, als ich aus der Umkleidekabine herauskomme. In der Hose, die sie mir aufgedrängt hat. Die Verkäuferin hat fettige Haare und Akne, und mein Jogginganzug sieht, verglichen mit ihrem, wie Haute Couture aus. Super, von so jemandem modische Ratschläge zu erhalten.
Ich bin nämlich ganz anderer Meinung. Ich sehe in der Hose albern aus. Mein Hintern wirkt riesig, oder? Aber in der Hose sehen sogar meine Ohren riesig aus.
»Haben Sie die vielleicht auch in Schwarz?«, frage ich hoffnungsvoll.
»Aber Gelb ist zurzeit der letzte Schrei«, belehrt sie mich sofort, als wäre ich geistig minderbemittelt. »Und es bringt sehr schön Ihre Augen zur Geltung.«
Die einzigen Augen, die dieses Gelb zur Geltung bringt, sind die Augen, die die anderen machen. Stielaugen.
»Hey! Das hier würde gut dazu passen«, sagt die Verkäuferin aufgeregt zu mir. »Bei den letzten MTV Awards hatte Beyoncé auch so was an.«
Sie hält ein glitzerndes Paillettentop empor. Ebenfalls in Gelb.
Ich will doch nicht wie ein glitzerndes Eigelb aussehen. Nicht gerade der Look, für den Beyoncé bekannt ist.
»Haben Sie auch etwas mit ... weniger Pailletten?«, frage ich.
Die Verkäuferin rümpft die Nase. »Woran hatten Sie denn gedacht?«
»An etwas, worin ich nicht wie ein glitzerndes Eigelb aussehe?«, erwidere ich fragend.
»Hä?« Sie runzelt die Stirn.
»Sorry, aber sehen Sie mich doch an. Ich bin nicht gerade eine zweite Beyoncé, oder? Oder eine zweite – jetzt fällt mir der Name nicht ein.«
»Sie meinen Kelly?«
»Nein, ich meine die andere, deren Namen sich keiner merken kann.«
»Michelle?«
»Ja, die«, murmle ich.
Plötzlich beginnt jemand hinter mir laut zu kreischen.
»OhmeinGottdiemussichunbedingthaben!!!«
Ich drehe mich um und sehe ein weiteres pubertierendes Akneopfer, das genau die gleiche Hose anprobiert wie ich. Das Seltsame ist nur, dass sie an dem Mädchen einfach klasse aussieht. Genau wie Beyoncé, allerdings im chinesischen Billigdesign.
Das reicht. Ich nehme die Hose. Sie kostet nur 18,99 Pfund. Ein Schnäppchen! (Ich wette, Beyoncé hat für ihre eine ganze Stange mehr bezahlt. Wie blöd von ihr.) Mein kurzes schwarzes Top wird super zu der Hose passen. Noch ein schicker Gürtel dazu, und mein Outfit ist perfekt. Job erledigt.
Das dachte ich in dem Laden.
Aber während der Fahrt nach Hause beschleicht mich der Verdacht, dass ich mich zu einem Panikkauf habe verleiten lassen.
Eine gelbe Hose. So eine würde Natasha niemals anziehen.
Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Ich liege im Bett. Die Digitalanzeige des Weckers leuchtet mir entgegen – zwei Uhr neun in der Nacht. Ich höre, wie die Haustür ganz leise geschlossen wird. Richard ist da. Gut. Ich klettere aus dem Bett und ziehe meinen Bademantel über. Auf diese Gelegenheit habe ich den ganzen Abend gewartet – ich muss endlich mit ihm reden. Sureya hat recht. Ich muss ihm wenigstens die Chance geben, alles zu erklären.
Aber vor der Schlafzimmertür halte ich inne. Eine blöde Idee. Schließlich hat Richard den ganzen Tag hart gearbeitet – die ganze Woche. Wir können diese Unterhaltung nicht um zwei Uhr morgens führen.
Ich schlage mir die Idee wieder aus dem Kopf.
Denn wenn ich mich wieder ins Bett lege und so tue, als würde ich schlafen, kann nichts passieren. Vielleicht falle ich ja sogar irgendwann in einen traumlosen Schlaf, in dem keiner etwas im Schilde führt und in dem keine geheimnisvollen Hotelrechnungen existieren. Gut, sie existieren schon, aber sie sind nicht zu erklären. Wie Ufos. Wie oft sind Ufos schon gesichtet und fotografiert worden, aber weiß einer, wozu die gut sind? Richtig, das weiß keiner.
Es ist gar nicht nötig, dass ich mich schlafend stelle. Ich höre, wie Richard leise die Treppe hochkommt ... und ins Gästezimmer geht. Ich rede mir ein, dass er das nur tut, um mich nicht aufzuwecken. Was hätte er sonst für einen Grund haben sollen?
Ich warte eine halbe Stunde, um sicher zu sein, dass Richard schläft, bevor ich nach unten gehe, um ein Glas Wasser zu trinken. Oder was auch immer.