Kriegsschauplatz Lytaxin
Höhe: 12 Kilometer

 

 

Gewohnheit brachte ihn beinahe um.

Shan schaltete den Autopiloten ein und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Raumhafen von Lytaxin, mehr als nur halb damit beschäftigt, das schwerfällige Raumboot im Flug zu stabilisieren und gleichzeitig den kaum noch vorhandenen Treibstoffvorrat zu schonen.

Bisher hatte er es vermeiden können, auf jemanden mit einem allgemeinen Groll gegen Liaden zu treffen, und sein Ziel war es, zu landen, bevor es dazu kam. Die jämmerlichen Waffen des Rettungsbootes waren so gut wie leergeschossen und allein der Gedanke daran, so etwas Ähnliches wie ein Ausweichmanöver gegen ein Kampfflugzeug zu versuchen, führte dazu, dass sich sein Magen verknotete.

Ängstlich glitt sein Blick über die Kontrollen. Der Himmel war leer auf allen vier Bildschirmen, die er zuerst betrachtete. Gut.

Bildschirme fünf und sechs zeigten ein anderes Bild.

Er war vor nicht mehr als vier Standardjahren auf dem Raumhafen von Lytaxin gewesen. Damals war er ein betriebsamer Hafen mittleren Ausmaßes gewesen, mit einem halben Dutzend öffentlicher Werftanlagen und einer Reihe privater. Es hatte Verkehr gegeben, Lichter, Leute – Raumschiffe. Raumschiffe auf Hotpads. Andere auf längerfristigen Landeplätzen. Schiffe, die repariert oder von einem Teil des Landefeldes zu einem anderen gebracht wurden.

Alles, was jetzt noch übrig war, bestand aus Wracks. Glasierte Flächen zeigten Orte, wo Schiffe ohne Vorwarnung getroffen worden waren, während ihres Schlafs ermordet. Der Tower des Raumhafens war in der Mitte geknickt, ein halb geschmolzenes Netzwerk von Stahlstreben. Die Betonstraßen waren zu Schotter gebombt worden, nun durch Zäune voneinander getrennt. Verbogenes Metall lag verstreut auf den zerstörten Landebahnen, die dort leuchteten, wo Glas in die Flüsse gelaufen und dann wieder gefroren war.

Zerstörung brannte in seinen Augen und seine Hände bewegten sich über das Schaltpult, rissen das Rettungsboot in einen ganz anderen Kurs, bevor sein nachdenklicher Verstand sich seines Fehlers völlig bewusst wurde.

Das Rettungsboot bockte, steuerte sich wie ein Felsen. Shan fluchte, wenn auch nur kurz, aber mit Hingabe. Er schaute auf die Treibstoffanzeige, dann auf die Schirme, die überall ruhigen, leeren Himmel zeigten.

Er hatte sein Glück herausgefordert und sollte die Schirme nun jene Yxtrang-Jäger zeigen, die er so sehr zu vermeiden suchte, wäre das seine eigene Schuld.

Aber, wenn nicht auf dem Raumhafen, wo mochte er auf einem vom Krieg heimgesuchten Planeten dann landen?

»Erob, natürlich«, murmelte er und kämpfte mit der Tendenz des Rettungsbootes, der Planetenoberfläche das Heck mit den Landedüsen zuzuwenden. »Stell dich nicht wie ein Blödmann an, Shan!«

Und wenn Erob von den Yxtrang überrannt, vertrieben, ermordet und ausgelöscht worden war? Shan seufzte und schaute wieder auf die Treibstoffanzeige.

»Auf zu Val Con, das ist logisch. Ich hoffe, er ist in der Nähe.«

Was er als Nächstes tat, war nicht sehr weise, und er war sich sicher, dass seine Dozenten in der Halle der Heiler sich dagegen ausgesprochen hätten. Aber er hatte keine andere Wahl angesichts seiner Treibstoffreserven, die die rote Zone erreicht hatten, der Tatsache, dass er keine Karten des Planeten besaß, und schlicht deswegen, weil er nicht sterben wollte.

Das kleine Schiff flog im Moment stabil. Shan klammerte sich an die Kante der Konsole, schloss seine Augen und ließ seinen inneren Schutzwall sinken.

Es gab keine Zeit für Finesse, auch keine Zeit, um sich richtig vorzubereiten. Er brachte Val Cons emotionales Muster vor seine Inneren Augen, öffnete sich und dehnte seine Suche eigentlich viel zu weit aus, zentrierte seine Konzentration auf das einzigartige Muster.

Stattdessen fand er eine gewaltige ihn willkommen heißende Grünheit, ihm aus der Kindheit vertraut, beruhigend wie die Berührung eines Verwandten.

Shan holte Luft und legte Val Cons Muster beiseite, hörte zu, was der Baum ihm zu sagen hatte.

Es war natürlich nicht sein eigener, älterer Baum, aber Erob besaß einen Setzling. Auch sprach Jelaza Kazone nicht notwendigerweise zu jenen, die ihm dienten, aber er hatte eine Art, sich bemerkbar und seine Wünsche bekannt zu machen.

Den Baum las man nicht, wie ein Heiler einen anderen Menschen lesen würde. Vielmehr borgte sich der Baum Hinweise aus dem Muster desjenigen, zeigte sie in einer Sequenz an, die gleichzeitig vertraut und pflanzlich wirkte.

Und so entwickelte sich die Nachricht in Shans Wahrnehmung: Freude/Willkommen. Freude/Willkommen. Freude/Willkommen. Gewürz/Duft und Stängel/ Bruch, aus einer Erinnerung an das Abbrechen eines Blattes. Der Geschmack einer Nuss des Baums auf seiner Zunge. Ein zweiter Eindruck von einem Blatt und ein Gefühl des Wegdrückens, sehr sanft.

Er spürte, wie sich seine Hände über das Schaltpult bewegten, und konnte sie nicht aufhalten. Nach kurzem Kampf öffnete er seine Augen und die Anzeigen verschwammen vor seinen Augen, die Treibstoffanzeige war halb im roten Bereich. In ihm berührte der Baum eine letzte Erinnerung – warme Lippen sanft auf seiner Wange – und zog sich zurück. Shan errichtete seinen inneren Schutzwall wieder, schüttelte sich und schaute auf die Schirme.

Schirm drei zeigte einen Yxtrang-Jäger, der schnell näher kam.

 

Der Einfluss des Baums auf seinen Körper hatte Koordinaten produziert, die nun auf der Konsole zu lesen waren. Shan warf einen Schalter um und speicherte die Daten, hoffte für einen Augenblick, dass der Baum ein angemessenes Verständnis von begrenztem Treibstoff und den Auswirkungen von Schwerkraft auf ein antriebsloses, fliegendes Objekt hatte.

Der Jäger kam näher. Shan konzentrierte sich auf die Bewaffnung.

Bessere Schrotflinten waren es, obgleich Seth die seinen gut eingesetzt hatte, und viel Munition verblieb auch nicht. Shans Hände glitten über die Kontrollen, schalteten nicht notwendige Systeme ab, leiteten die Energie auf die Waffenkontrolle. Der Energiestand kroch nach oben und stabilisierte sich deutlich unterhalb des grünen Bereiches.

Shan kaute auf seinen Lippen, überprüfte die Angaben, überprüfte den Jäger – verdammt, er war nahe – schaute auf die Schirme – und hörte zu atmen auf.

Die Koordinaten des Baums brachten ihn zu einem Lager. Er konnte Zelte ausmachen, Maschinen, Soldaten! Es gab eine Standarte, die laut im Wind flatterte: ein riesiger, weißer Falke, der sich auf einem sternenlosen, schwarzen Feld seiner Beute näherte.

Terraner. Und sicher nahe genug an dem Ort, zu dem der Baum ihn zu führen beabsichtigt hatte. Aber nicht mit einem Yxtrang im Nacken.

Seine Hände bewegten sich erneut und tanzten über das Pult, schalteten alles ab außer der Luftversorgung und den Computern, sandten jedes Erg Energie zu den Waffen und trotzdem reichte es immer noch nicht.

Shan warf einen Blick auf seinen Verfolger, wieder einen auf das Lager und das umgebende Terrain. Er griff hoch und zog den Helm seines Anzugs über den Kopf, schloss ihn und schmeckte die schale Luft. Seine Hände bewegten sich über das Pult, schalteten die Lebensversorgung ab, fütterten die Waffen mit der Energie.

Grüner Bereich. Gerade so.

In seinem Helm nickte Shan und machte eine letzte Schaltung, leerte die obere Kanone und leitete alles in die untere um.

Energie schoss in die einzige Waffe, die ihm blieb. Er hätte sich mehr wünschen können. Beide Waffen vollgeladen und online zum Beispiel. Er hätte sich auch gleich ein Schiff wünschen können, das dem Verfolger ebenbürtig war, aber es war keine Zeit. Er hatte, was er brauchte.

Gerade so.

Eine weitere Schaltung entließ das Raumboot von seinem sklavischen Flug zu den angegebenen Koordinaten, es wurde langsamer, ging niedriger in Richtung eines Canyons oder Steinbruchs am Rande des Lagers.

Hinter ihm schluckte der Jäger den Köder.

Der andere Pilot beschleunigte, die Waffen drehten sich. Shan wartete, wackelte etwas tiefer – aber nicht zu tief – in Richtung der leeren Felsenlandschaft. Wartete, bis der Jäger sich entschlossen hatte, bis es keine Möglichkeit mehr gab, abzudrehen – und keine mehr, daneben zu schießen.

Die Kiefer aufeinandergepresst aktivierte er die Bremsraketen, verbrauchte den letzten Rest an Treibstoff. Das Rettungsboot taumelte schrecklich langsam. Der Jäger zischte vorbei, der Pilot sah die Falle zu spät. Shan schlug auf den Feuerknopf, und die eine Kanone sprach, heiß, hell und kurz.

Der Jäger explodierte, es regnete brennende Trümmer auf die Felsen hinunter.

Und Rettungsboot vier, Waffen und Treibstoff am Ende, fiel die wenigen verbliebenen Meter zur Oberfläche des Planeten.

Er öffnete das Außenschott und sah in die misstrauischen Gesichter von zwei Soldaten – eine Terranerin, ein Liaden –, die beide Gewehre auf ihn richteten.

Still stand er am Rand der Rampe, die behandschuhten Hände vor der Brust gefaltet. Er hatte den Helm abgenommen, zeigte sein Gesicht und sein schweißdurchtränktes Haar. Die Brise war kühl an seinen Wangen. Die Geräusche waren Vogelgezwitscher und das Rascheln von Blättern und Gras.

Es war die Terranerin, die zuerst das Wort erhob, durchaus freundlich, trotz der Waffe, die sie auf seine Brust gerichtet hielt.

»Alles klar, Flyboy? Übler Fall die letzten Meter!«

»Danke, mir geht es ausgezeichnet!«, versicherte Shan der Frau und lächelte.

Das Manöver hatte genau so funktioniert wie erhofft. Das Rettungsboot war gut zwölf Meter gefallen, um dann aufrecht und unbeschädigt zu landen, direkt auf der Felsplatte vor dem Steinbruch. Der Pilot war wild durchgeschüttelt worden und hatte einige Abschürfungen zum Vorzeigen, aber der Raumanzug und die Gurte hatten das meiste abgehalten. »Ausgezeichnet« traf die Wahrheit nicht ganz, aber es war auch keine reine Phantasterei.

Die Terranerin nickte und wandte sich an ihren Kameraden.

»Ruf an und lass sie wissen, dass wir ihn reinbringen.«

Er warf sich das Gewehr über, zog einen Kommunikator aus dem Gürtel und sprach. »Steinbruchpatrouille. Wir haben den Piloten, sicher. Wir bringen ihn rein.« Er hielt die Einheit an sein Ohr, horchte mit gerunzelter Stirn, dann schaltete er sie aus und hängte sie wieder an den Gürtel.

»Der Sub-Commander will mit ihm sprechen«, sagte er seiner Kameradin.

»Okay«, meinte sie und wandte sich wieder Shan zu. »Gut, mein Freund. Ein kleiner Spaziergang.«

Das Auge auf das Gewehr gerichtet, zögerte Shan. Die Frau verlagerte ihr Gewicht, ihre Haltung plötzlich weniger freundlich. Er hob seine Hände, die Handflächen leer und ohne Bedrohung.

»Ich entschuldige mich! Ich möchte den Sub-Commander nicht warten lassen, aber es ist so, dass ich von meinem Schiff getrennt wurde und annehmen muss, dass man versuchen wird, Kontakt mit mir aufzunehmen, sobald man feststellt, dass meine Lage stabil ist. Ich sollte hier sein und die Nachricht entgegennehmen, wenn sie kommt.«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Sorry, mein Freund. Sub-Commander Kritoulkas will dich und wir haben Befehle, dich zu bringen. Ich habe kein Interesse daran, dir ins Knie zu schießen und dich eigenhändig zu tragen, aber wir können das so machen, wenn du drauf bestehst.«

Shan senkte seine Hände und holte tief Luft, um die plötzliche Verzweiflung aus diesem Augenblick fortzuschieben.

»Ich möchte niemandem Ärger bereiten. Bringen Sie mich zu Sub-Commander Kritoulkas.«

 

Sub-Commander Kritoulkas war eine Frau mit sauertöpfischer Miene, eisengrauen Haaren und einer künstlichen rechten Hand. Sie starrte Shan an, wie er da stand, eingeklammert zwischen seine beiden Wachen, verschwitzt und außer Atem von seinem Marsch. Schwere Raumarbeitsanzüge waren nicht mit dem Gedanken an Spaziergänge durch die Wildnis im Kopf entworfen worden.

»Was noch?«, fragte sie und starrte nun die terranische Soldatin an.

Die Frau salutierte. »Er sagte, dass er von seinem Schiff getrennt worden sei, Ma'am, und eine Kontaktaufnahme erwarte.«

Kritoulkas nickte. »Sagen Sie Kom Bescheid, die sollen die Ohren aufstellen.« Sie schaute Shan an.

»Sollen wir irgendetwas ausrichten?«

Er sah sie ausdruckslos an. »Dass ich sicher und unter Freunden sei.«

»Denken Sie das, ja?« Sie heftete ihren Blick wieder auf die Soldatin. »Weitergeben, sollte der Ruf kommen. Wegtreten.«

Die Soldaten salutierten und verschwanden, ließen ihn allein unter dem starrenden Blick des Sub-Commanders.

Sie seufzte und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tisch, die Arme vor der Brust gefaltet.

»Okay, fangen wir von oben an. Name und Rang, falls vorhanden.«

»Shan yos'Galan, Clan Korval«, sagte er. »Captain des Schlachtschiffes Dutiful Passage.«

»Schlachtschiff«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Sie sehen nicht wie ein Soldat für mich aus. Aber Sie sehen auch nicht wie ein Liaden für mich aus.« Sie zuckte mit den Achseln. »Wie dem auch sei. Was machen Sie hier, Captain?«

»Mein Schiff wurde beschädigt und ich wurde während eines Yxtrang-Angriffes von ihm getrennt, als ich mit Reparaturen beschäftigt war.«

Sie nickte. »Das ist das eine. Jetzt einen Schritt zurück und die andere Antwort: Warum ist Ihr Schlachtschiff in diesem System?«

Shan seufzte, bewegte seine Schultern im heißen, schweren Anzug. Er wünschte sich voller Kraft das Ende der Befragung durch diese sauertöpfische Frau. Er wollte duschen. Er wollte seine Lebenspartnerin, sein Schiff und die gewohnte Routine der Handelsroute. Nichts davon würde er in näherer Zukunft bekommen, falls überhaupt jemals wieder, aber die Dusche war möglicherweise in Reichweite, wenn er höflich war und die Fragen des Sub-Commanders beantwortete.

Also.

»Familienangelegenheiten. Mein Clan ist mit Erob verbündet und ich glaube, dass mein Bruder sich hier befindet.«

»Ja? Name?«

»Val Con yos'Phelium.« Shan beobachtete ihr Gesicht genau, sah kein Erkennen darin.

»Niemand, den ich getroffen habe. Sind Sie sicher, dass er hier ist?«

»Ich bin mir sicher«, sagte Shan, die Erinnerung an jene schmerzhaft vertraute Musik aus Erobs Warnboje war stark genug, um Tränen zu erzeugen. Er blinzelte.

»Vielleicht ein anderer Name?«, sagte er in Kritoulkas' Starren. »Miri Robertson?«

Das bedeutete etwas für sie. Sie reckte sich, das Starren wurde zum Erstaunen. »Rotkopf ? Sie ist hier, das stimmt. Wird sie Sie kennen?«

»Ja«, sagte sie, wenngleich er sich dessen nicht sicher war.

Sub-Commander Kritoulkas nickte.

»Ok, Captain, so machen wir es. Ich werde Sie sowieso die Hierarchie nach oben weiterreichen müssen, da sitzen die Leute, die es wirklich interessiert, wie es im Orbit aussieht. Wir werden ein Auge auf Ihr Boot halten, und wenn sich Ihr Schiff meldet, sagen wir, Sie seien unter Freunden.« Ihr Mund zuckte etwas. Hätte beinahe ein Lächeln sein können.

»In der Zwischenzeit haben wir einen Schichtwechsel in vier Stunden, was gerade genug Zeit für Sie ist, sich zu säubern, etwas zu essen und sich auszuruhen. Bewacht, wie Sie sicher verstehen. Ich bin verdammt, wenn ich glauben soll, dass Sie zu einer regulären Militäreinheit gehören und ich werde nicht zulassen, dass Sie eine Gefahr darstellen.«

Die Besorgnis um das Wohlergehen der eigenen Leute gehörte zu den natürlichen Aufgaben guter Kommandanten. Shans Meinung über die mürrisch dreinblickende Frau besserte sich leicht und er nickte.

»Ich verstehe das sehr gut, Ma'am. Danke.«

Sie grunzte und erhob ihre Stimme, um laut »Dustin!« zu rufen. Ein gedrungener Terraner kam von seinem Posten vor dem Zelt herein und salutierte.

»Ja, Ma'am!«

Sie zeigte mit dem Daumen auf Shan. »Dieser Kerl hier bekommt Kleidung und ein paar Sandwiches. Duschen und ein Check-up beim Sanitäter. Bleiben Sie bei ihm und halten Sie ihn bereit für den Abmarsch bei Schichtwechsel.«

Dustin salutierte erneut. »Ja, Ma'am!« Er wandte sich um und nickte Shan zu, Gesicht und Augen neutral. »Okay, Sir, hier entlang.«

Er drehte sich zur Tür und hörte, wie Kritoulkas sich hinter ihm räusperte.

»Eines noch, Captain.«

Er schaute über seine Schulter und sah sie erstaunlicherweise grinsen.

»Verdammt guter Abschuss, Ihr Anflug eben.«

 

Shan lag auf der harten Liege, den Kopf auf einem zerknitterten, antiseptischen Kissen und schloss seine Augen. Er hatte geduscht und die Kampfmontur angezogen, die ihm gegeben worden war. Er hatte sich gezwungen, eines der sechs Sandwiches zu essen, die Dustin aus dem Messezelt geholt hatte, und hatte mehrere Becher Wasser getrunken. Nun, mehr oder weniger allein, wenn man den Wachmann am Eingang nicht mitrechnete, bereitete er sich vor, in Trance zu gehen.

Er holte Luft, und noch einmal, bastelte am korrekten Rhythmus. Die Geräusche des Lagers verblassten, sein Herzschlag wurde langsamer. Als der Zeitpunkt richtig war, glitt er in die Trance.

Der Heilerraum ist formlos, eine Leere aus warmem, schäumendem Nebel. Es gab nichts außer Nebel im Heilerraum – bis etwas mehr verlangt wird.

Warm inmitten der Formlosigkeit sprach Shan seinen eigenen Namen. Er lächelte den Mann an, der aus dem Nebel trat, und streckte eine Hand aus, die einen violetten Ring trug, um eine Hand mit einem identischen Stein zu ergreifen, dessen Facetten im Nebel aufblitzen. Mit der Sicherheit eines Meisterheilers öffnete er eine vertrauliche Verbindung zwischen ihnen.

Der Wirrwarr, mit dem er zu kämpfen hatte, war akut: Trauer, Freude, Schuld, Wut, Schwermut, Angst, Liebe, Verwirrung, Ablehnung. Mannomann, was für ein Durcheinander, das sicher, aber letztlich nichts, was sich nicht durch ein wenig emotionales Weben wieder hinkriegen ließe. Sein Blick traf auf keine unrettbare Katastrophe, keine Resonanz, die in seiner persönlichen Matrix dermaßen unbalanciert auftauchte, dass sie nur durch Vergessen geheilt werden konnte. Die Sache war nicht so kompliziert, also konnte man gleich zur Sache kommen.

Im Heilerraum gab es keine Zeit. Es gab die Aufgabe und das Resultat der Aufgabe, gesehen durch die Augen des Heilers. Die Aufgabe verbrauchte die Zeit, der die Aufgabe bedurfte. Als diese getan war, lächelte Shan Shan zu, sie öffneten ihre Arme und umarmten sich in Einheit.

Geheilt und in Frieden, wandte er sich in der nebligen Nichtigkeit des Heilerraums um und überprüfte.

Dieser Ort war nicht der Heilerraum. Noch war er das Zelt des Sanitäters. Dieser Ort war steinern, seltsam und drückend: eine gewaltige, steinerne Höhle oder so, dachte er zuerst. Dann sah er die Waffen, die ordentlich an der Wand hingen.

Die Waffen … schimmerten an ihren Plätzen, als ob jede ihre derzeitige Form nur aufgrund eines bestimmten Willens halten würde und jederzeit etwas ganz anderes sein konnte. Er fokussierte seine Aufmerksamkeit auf ein spezielles Schwert und fühlte, wie es sich von Klinge in Schild verwandelte, von Schild zu Sprengstoff, von Sprengstoff zu …

»Einen guten Mond wünsche ich dir!«

Die Stimme des Mannes war wundervoll. Der Mann, der auf einer Steinbank rechts von Shan saß, war schlank und besaß ein Falkengesicht, die schwarzen, geflochtenen Haare verschwanden im ausgefransten Schatten seines Mantels. Ein roter Spielstein bewegte sich zwischen seinen langen Fingern, erschien, verschwand, erschien, und fort.

»Guten Mond!«, erwiderte Shan ruhig, während er versuchte, diesen Platz mit den Sinnen eines Heilers zu erfassen, der doch nicht physischer war als der Heilerraum, obgleich es nicht der Heilerraum war. Und er hatte auch noch niemals jemand anderen im Heilerraum getroffen, außer, wenn er jemanden gerufen hatte oder gerufen worden war.

»Ah, aber du hast doch gar keinen Fremden getroffen«, sagte der Mann im Mantel, seine feinen Augen glitzerten amüsiert. »Ich bin du. Du bist ich. Oh …« In seinen Fingern blitzte der Spielstein auf und verschwand. Er lächelte. »Ich denke, dass Sprache in diesem Gespräch nicht sehr hilfreich sein wird.«

»Mir ist das Konzept durchaus vertraut«, sagte Shan und versuchte, den Anderen mit seinen Heilersinnen zu berühren. Er traf auf eine kühle Glätte, sehr mit dem Schutzwall eines Heilers vergleichbar. »Aber wir können uns kaum vereinen, wenn du dich so abriegelst!«

»Kluges Kind. Aber wie du sagst, dies ist nicht der süße, schwebende Traum eines Zaubernebels. Dies …«, gestikulierte er mit seiner langen, sonnengebräunten Hand. Ein silberner Dolch erschien in seinem Griff. Er betrachtete ihn, zuckte mit den Achseln und steckte ihn in seinen Gürtel.

»Dies«, wiederholte er und zog das Wort dabei in die Länge, »ist die Halle der Waffen. Du bist hier, da du es als notwendig erachtest, bewaffnet zu sein. Erzähl mir warum.«

Shan runzelte die Stirn und stellte sich die Frage, ob dies am Ende wohl ein Ausdruck geistiger Verwirrung sein mochte. Vielleicht starb er gerade im Wrack seines Rettungsbootes, und sein Verstand gönnte ihm eine letzte, reichhaltige Fantasie, ehe er sich selbst ausschaltete.

»Nicht so negativ!«, sagte der Mann im Mantel sanft. »Wie du selbst genau weißt. Du bist stark, heil und bei Verstand. Und da das so ist, muss ich erneut fragen – warum bist du hier?«

»Ich weiß nicht, warum ich hierher gekommen bin«, sagte Shan ihm. »Es war notwendig, mich selbst zu heilen, bevor ich permanenten Schaden erleiden würde. Es gibt einen Krieg, und wie der Sub-Commander so richtig sagte, ich bin nun einmal kein Soldat. Aber diese Welt wird angegriffen. Ich muss in der Lage sein zu kämpfen. Ich muss … all meine Ressourcen einsetzen.«

»Und du bist ausgebildet als Seelenweber, möge die Mutter gepriesen sein.« Der Mann neigte seinen Kopf. »Wann bist du? Captain eines Schiffes, das zwischen den Sternen reist, und mehr als nur eine Spur des Drachen in dir. Und deine Lady ist eine Moonhawk. Ich denke, ich beginne zu verstehen.«

Er erhob sich, warf den Mantel nach hinten, zeigte eine abgenutzte, schwarze Tunika und geflickte, schwarze Leggings.

»Ich … wir … waren hier nicht mehr als sechs Mal, seit mir Moonhawk den Weg gezeigt hat. Wir schätzen diesen Ort nicht sehr, wir suchen ihn auch nicht aus Verlangen nach Macht auf. Zeit, das musst du verstehen, ist nicht sehr ordentlich, aber ich glaube, dies ist das einzige Mal, dass ich mir selbst begegnet bin.« Shan machte einen Schritt nach vorne und nahm die starke, narbige Hand.

»Shan heiße ich in deiner Zeit?«

»Ja«, sagte er, als sie die schimmernden Wände der Halle entlangzumarschieren begonnen.

»In diesem Wann«, sagte der Mann und legte eine Hand auf seine Brust, »heißt du Lute. Lass uns gute Waffen wählen.«

 

Die Welt sah anders aus, selbst mit geschlossenen Augen.

Die Informationen, die durch seine geschlossenen Lider filterten, sagten ihm, dass es wohl Nachmittag sei, sie sagten ihm auch, dass die Wand des Zeltes, in dem er ruhte, nunmehr im Schatten lag.

Sein linker Arm war geringfügig wärmer als sein rechter – die Sonne schien auf die linke Seite des Zelts.

Da waren Geräusche, jedes bedeutungsschwer: Er konnte den leisen, regelmäßigen Schritt einer Wache auf seiner Route hören, das gelegentliche Murmeln von Stimmen, was bedeutete, dass er in einer Gegend war, in der Sicherheit hohe Priorität hatte.

Auch die Geräusche, die er nicht hörte, bedeuteten etwas. Er war allein im Zelt, der Sanitäter war irgendwo anders in diesem Moment.

Er sog die Informationen auf, sortierte sie und melkte jede Bedeutung aus ihnen heraus. Irgendwo in seinem Bewusstsein sagte eine Stimme, die mit alledem nichts zu tun hatte, dass dies bedeutungslos sei. Er war ein Meisterhändler, ein Heiler – ein friedlicher Kerl, wirklich, trotz seiner direkten Abstammung von einem Schmuggler, einem Soldaten und einem Schuljungen.

Yos'Galan – die Linie des Schuljungen – war immer respektabel gewesen, wenngleich man fairerweise sagen musste, dass sich die Gene der verschiedenen Linien dermaßen oft vermischt hatten, dass es schwer zu sagen war, wo der respektable yos'Galan begann und der Pirat yos'Phelium endete.

Außerhalb des Zelts, von der sonnigen, linken Seite, kamen schnelle Schritte, begleitet vom tiefen Gemurmel einer Frau. Er hörte das Wort »Entsatz« am Rande seiner Wahrnehmung, die schärfer zu sein schien als sonst, und als die Schritte sich vom Zelt entfernten, merkte Shan, dass er ausgehungert war.

Er öffnete seine Augen und setzte sich mit einer fließenden Bewegung auf. Das Innere des Zeltes war so, wie er sich daran erinnerte. Die übrigen Sandwiches waren immer noch in einer Kühlbox auf einem Tisch.

Er machte kurzen Prozess mit ihnen, bekämpfte damit einen Hunger, so groß, dass ihm beinahe schlecht war, und wurde sich dann bewusst, dass er jederzeit einen der Konzentratriegel aus seinem Gürtel essen konnte, sollten die Sandwiches nicht ausreichen.

Während er aß, dachte er nach. Er war oft sehr hungrig nach einem Besuch im Heilerraum – ein Zwei-Sandwiches-Hunger vielleicht, dachte er ironisch, als er das letzte auspackte, das Dustin ihm aus dem Küchenzelt verschafft hatte. Als er und Priscilla geistig so weit gereist waren, um Val Con zu kontaktieren, waren beide hungrig aufgewacht und hatten ein gutes Zehntel ihrer Körpermasse verloren. Magie, hatte Priscilla damals gesagt. Starke Magie benötigt eine Riesenmenge Energie.

Also, überlegte Shan und stopfte den Rest des fünften Sandwiches mit einem Seufzen in sich hinein, war Lutes Waffenhalle sehr starke Magie. Er setzte sich wieder auf seine Liege und schüttelte den Kopf.

»Shan«, murmelte er leise, damit keiner ihn hören konnte, »worauf im geheiligten Namen der Vernunft hast du dich nur eingelassen?«

Er hatte nicht viel aus der Halle mitgenommen: ein Messer und einen Schild.

Gegenstände, die einem Soldaten gut dienen würden, hatte Lute gesagt, und dann ein dickes Manuskript präsentiert. »Soldatenkunde« hatte dort auf dem Ledereinband gestanden, geschrieben in der geschnörkelten Schrift einer Sprache, von der sich Shan sicher war, dass er sie eigentlich gar nicht kannte.

»Hier, die nützlichste Waffe von allen in der Halle«, sagte Lute gewunden, »Nimm es.«

Shan tat es, schaute seinen Mentor – sich selbst – dann aber zweifelnd an. »Es ist recht schwer, wenn man es auf einen Marsch mitnehmen will – und das scheint mir bald bevorzustehen.«

»Unsinn«, sagte Lute, »es ist alles andere als schwer.« Als Shan wieder auf seine Hände schaute, war das Buch verschwunden.

Es schien so, als sei das Wissen des guten Soldaten noch in ihm, seine Knochen fühlten sich jedenfalls so an.

Shan schüttelte den Kopf, und mit einem Instinkt, der keinesfalls sein eigener war, begann er eine Bestandsaufnahme.

Er hatte kein Gewehr, kein Schwert, keine Fernwaffen irgendeiner Art in seinem Gürtel oder in den Taschen. Das Messer, das er trug, war weder eine Kampfwaffe noch ein Bajonett, aber Teil eines kleinen Werkzeugsets.

In einem Notfall aber, so informierte ihn das neu erworbene Wissen, war eine Klinge eine Klinge, also inspizierte er sie sorgfältig, seltsamerweise erfreut über Balance und Qualität. Er hatte schlechtere in Händen gehalten und sinnvoll eingesetzt – er schüttelte den Kopf und vertrieb die Erinnerung, die nicht seine war. Es war Val Con, der eine Leidenschaft für scharfe Kanten aller Art hatte, der friedliche Shan war gut genug mit einem Gewehr, aber er hatte sich mehr auf seine Heilerfähigkeiten verlassen, um sich vor Schaden zu bewahren.

Den Waffencheck abgeschlossen, wandte sich Shan anderen Details zu, die seiner Aufmerksamkeit bedurften. Er stand auf und verließ das Zelt.

»Dustin?«

Das Herumwirbeln des überraschten Wachmannes unterbrach Shans Gedanken. Die Waffe hatte sich auf ihn gerichtet – aber nicht gefährlich.

»Sir. Ich dachte, Sie würden schlafen, bis die Kühe nach Hause kommen.«

»Erwarten wir Kühe, Corporal? Ich denke nicht …«

»Nein«, winkte der Mann den Ausdruck mit der freien Hand fort, »Ich habe nur gemeint, dass ich mir sicher war, Sie würden nicht aufstehen, bevor ich Sie wecken würde. Sie haben noch etwa eine Stunde, wenn Sie noch etwas ruhen wollen. Sir.«

»Ich habe geschlafen, danke. Gibt es eine Möglichkeit, das Boot zu überprüfen, mit dem ich gekommen bin? Es wäre gut zu wissen, ob mich Nachrichten erreicht haben – oder ob welche gesendet wurden.«

»Ich glaube nicht, dass der Sub-Commander Sie herumlaufen lassen möchte, Sir. Es wäre besser, wenn Sie einfach wieder reingingen und …« Shan seufzte in sich hinein. Die »Soldatenkunde« merkte an, dass es möglich sein sollte, den Corporal zu überwältigen, falls es nötig sein sollte. Er schätzte die Entfernung zu dem Mann in Soldatengeschwindigkeit ab, nicht in Pilotengeschwindigkeit.

Plötzlich kam ihm eine Erinnerung an seinen Cousin Luken bel'Tarda ins Gedächtnis, einen so friedvollen Menschen, wie man ihn sich nur vorstellen konnte.

»Alles, wonach ich frage«, würde der höfliche Händler sagen, als das Kind Shan ihm durch das Lagerhaus folgte, »ist ein ehrenvoller Vorteil. Wenn ich den habe, dann ist die andere Seite sich immer sicher, dass meine Position schwach ist.«

Shan neigte seinen Kopf, betont unterwürfig, griff mit seinen Heilersinnen ganz vorsichtig zu und inspirierte Dustin mit gutem Willen.

»Corporal«, sagte er, Stimme und Gesicht ein Ausdruck von Vernunft. »Ich habe den Großteil des Tages in einem Raumanzug in einem Rettungsboot verbracht. Geben Sie mir eine Chance, mir die Beine zu vertreten.«

Corporal Dustin blinzelte und Shan kam näher, schaute würdevoll in die braunen Augen. »Ich schlage vor, dass Sie mich zum Landeplatz bringen«, murmelte er. »Ich sollte ein Gefühl für meine Stiefel bekommen, wenn ich schon in ihnen marschieren soll.«

Dustin blinzelte erneut, schaute auf die Stiefel hinab, die der Nachschuboffizier Shan übergeben hatte. Nach einem Moment nickte er.

»Ja, Sir. Wir können uns in die Richtung bewegen. Es kann sein, dass wir zumindest einen Blick auf Ihre Spitfire werfen können, wenn wir an ihr vorbeikommen.«

Shan lächelte und zog die Fühler des guten Willens zurück. »Danke, Dustin.«

 

Sie hatten mehrere Wachposten passiert, aber es wurde schnell deutlich, dass Sub-Commander Kritoulkas nichts davon hielt, ihre Leute an einem Ort zu konzentrieren. Dustin führte ihn mal diesen, mal jenen Weg entlang, die alle zeigten, dass sie benutzt worden waren, aber keiner schien wichtiger zu sein als der andere.

Shan nickte sich zu, erfreut über die Arrangements des Sub-Commanders – und dann, ganz am Rande seiner Hörfähigkeit, fing er einen Laut auf.

Er lauschte, ignorierte das Geräusch von Dustins Stiefeln auf dem Felsen: ein vertrauter Laut, üblich in Häfen und Städten …

»Dustin«, sagte er sanft, »haben wir schwere Helikopter auf unserer Seite? Vielleicht zwei oder drei von ihnen?«

Der Corporal sah ihn erstaunt an, blieb stehen und nahm seinen Helm ab. Er neigte seinen Kopf zu einer Seite, lauschte – und holte seinen Kommunikator hervor.

»Verkehr«, sagte er deutlich. »Möglicherweise Helikopterlärm, Identifizierung?«

»Verkehr«, kam die leise Antwort. »Das Ohr ist gestartet. Berichte an Verkehr zwei, danke.«

Shan lauschte. Der Laut war nun deutlich, obgleich man die Richtung durch die Bäume schwer ausmachen konnte.

Er dachte an seinen letzten, spiralförmigen Anflug, das Rotorengeräusch wurde immer lauter. Soweit er es erkennen konnte, kam es aus …

»Von der Küste«, sagte er plötzlich. »Mindestens zwei!«

Dustin sah ihn ernst an, nickte und aktivierte den Kommunikator erneut. »Verkehr zwei, wir haben eine Schätzung von zwei oder mehr Rotoren aus Richtung Küste.«

»Verkehr zwei bestätigt. Das Ohr sagt drei, sehr niedrig. Danke, Sohn.« Es gab ein leichtes Knacken und das Geflüster einer neuen Nachricht von einem Dutzend Stellen im nahen Unterholz.

»Dies ist der Kartengeber, dies ist der Kartengeber. Die Karten werden gemischt und in drei Stapel geteilt. Der Spieler bestimmt die Regeln.«

»Gutes Gehör, Sir!« Dustin nickte ihm respektvoll zu. »Bleiben Sie besser bei mir. Wenn wir getrennt werden sollten – überall, wo Sie ein klares Y auf dem Pfad sehen, finden sie ein Schützenloch etwa zehn Meter in Richtung der freien Seite, solange sie sich innerhalb des Camps befinden. Wir werden wohl etwas suchen müssen. Wenn sich Pfade überschneiden, sollten Sie einen sehr schwachen, fünften Pfad erkennen – schauen Sie immer auf die gegenüberliegende Seite.«

Shan nickte, erneut zufrieden mit dem Sub-Commander.

Nun war das Geräusch das schwere Knattern von Rotoren. Sie kamen niedrig. Schnell und niedrig.

Am ersten Y führte Dustin sie geradeaus ins Gehölz. Der Corporal duckte sich unter einem Ast weg und verschwand. Einen Moment später fand Shan das Schützenloch und ließ sich neben ihn fallen.

Shan fühlte, dass das Loch tiefer in die Erde reichte, konnte sehen, wo die Wände mit herumliegendem Holz und Ästen verstärkt worden waren. Einer der Äste, so groß wie er und mit ein paar graugrünen Blättern, die immer noch an ihm hingen, zog seine Aufmerksamkeit an sich. Er lehnte sich dagegen. Er bewegte sich etwas, blieb aber stabil. Seine Hand legte sich behaglich um den Stamm.

»Hier ist der Kartengeber. Wir haben ein dreihändiges Spiel Steinpoker. Karten liegen auf dem Tisch. Buben sind wild. Zuschauer sollen bitte nicht spucken.«

Dustin nickte. »Kommen Sie, Sir. Buben sind wild bedeutet alle verfügbaren Soldaten. Steinpoker bedeutet, dass sie auf dem Weg zum Steinbruch sind.«

»Mein Boot!«

»Ja, Sir. Oder das Yxtrang-Wrack.«

Ein Dröhnen über ihren Köpfen. Dustin verbarg sich tiefer im Loch. Shan sah durch ein Loch im Blätterwald nach oben, sah drei schwarze Formen, die durch die Luft glitten – sie bewegten sich schnell wieder zurück in Richtung Küste.

»Die Sache mit dem Spucken«, sagte Dustin und glitt aus dem Loch. »Das heißt, niemand schießt ohne ausdrücklichen Befehl.«

Shan sah ihn an und hielte seine leere Hand und den schweren Ast hin.

»Ja, Sir, ich weiß. Bitte folgen Sie mir.«

Er tat es und bemerkte dann, dass sich das Geräusch der zurückziehenden Rotoren irgendwie geändert hatte. Er fiel auf seine Knie, fand die Lücke zwischen den Zweigen …

Der letzte der Helikopter bewegte sich sehr langsam, fast auf der Stelle. Vielleicht hatten sie jemanden entdeckt oder …

Eine Figur erschien aus dem Bauch des Helis, glitt ein Kabel hinunter, das durch seine Bewegung sichtbar wurde. Eine zweite Figur folgte, eine dritte, eine vierte …

Acht hatten den Boden erreicht, der letzte war ein gutes Stück gefallen, da der Helikopter schon begonnen hatte, wieder aufzusteigen.

»Sir?« Dustin hatte ihn vermisst und war zurückgekehrt, hörte sich sowohl erleichtert wie auch etwas verärgert an. »Sir? Wir müssen hier entlang …«

Shan stand, strich sich mit automatischen Bewegungen den Dreck von den lederbedeckten Knien.

»Corporal, der letzte Helikopter hat gerade acht Soldaten auf unserem Weg abgesetzt.«

»Ich habe das nicht gesehen«, sagte Dustin zweifelnd.

»Ich aber. Sie sind auf der Anhöhe da drüben. Sind schnell ein Seil heruntergeglitten.«

Der Kommunikator rülpste und ließ eine gedämpfte Stimme hören.

»Hier ist der Kartengeber. Nebenwetten sind in Ordnung, wenn Bares sichtbar ist. Wiederhole: Nebenwetten sind erlaubt, wenn Bares sichtbar ist!«

Shan schaute Dustins besorgtes Gesicht an, hob fragend seine Augenbrauen.

»Es bedeutet, dass wir kämpfen können, wenn wir müssen, die Gruppenführer können das frei entscheiden.« Er grinste. »Das bin wohl ich.«

Er griff zum Kommunikator und aktivierte ihn.

»Verkehr zwei, möglich, dass acht einen Strohhalm runtergeglitten sind in der Nähe von …« Er winkte Shan zu. Dieser nickte, zeigte, so gut es durch die Bäume ging.

»Verkehr zwei, in der Nähe von Hügel vier.«

Es gab eine Pause und dann konnte Shan fühlen, wie sich die Spannung in dem Mann verstärkte.

Schließlich: »Hier ist Verkehr. Wir haben den Strohbericht. Visuelle Bestätigung benötigt, sagt der Kartengeber. Sind Sie auf dem Weg?«

»Auf dem Weg«, sagte Dustin, schaltete aus und verstaute das Gerät.

 

Shan wünschte sich, er hätte eine Chance gehabt, die Stiefel richtig einzulaufen. Wie es aussah, würde er heute Nacht wunde Füße haben. Wenn er Glück hatte, natürlich.

Er wünschte sich auch, mehr Waffen zu haben als einen Ast und ein Werkzeugmesser. Er überlegte, aus dem Ast einen Speer zu machen – er war beinahe so groß wie er und einigermaßen gerade –, aber er hatte nicht genug Zeit dafür. Also trug er ihn und hoffte, dass er wusste, wie man einen Prügel benutzte, wenn es sich als nötig erweisen sollte.

Sie kamen nur langsam voran. Sie kletterten einen Hügel hinunter und kraxelten jetzt einen felsigen Pfad entlang, der nur spärlich bewachsen war. Teile des Pfades waren wie ein Kliff, und es war Dustins Wegekenntnis, die Shan vor einigen verhängnisvollen Abbiegungen bewahrte.

Halb den nächsten Hügel hinauf hörten sie gedämpfte Stimmen in einer Sprache, die auch Shans geschärftem Gehör fremd war. Dustin schaute zurück, berührte sein Ohr und machte eine winkende, kreisförmige Bewegung über die Gegend.

Shan nickte, konzentrierte sich. Nach einem Moment zeigte er nach links, aber immer noch bergauf.

Sie kletterten immer langsamer und Shan zuckte hin und wieder zusammen, angesichts des Lärms, den Corporal Dustin dabei machte.

Die fremden Stimmen schwankten, wurden leiser. Dustin schaute wieder zurück und Shan konzentrierte sich wieder, lauschte diesmal nicht mit seinen Ohren, sondern mit den Sinnen eines Heilers: acht Muster voller Absicht, eines davon mit den roten Funken von Schmerz. Shan schluckte und zeigte für Dustin – wieder nach links, aber nicht so weit bergauf.

Kriechend bewegten sie sich fort.

Einige Momente später erblickte Shan seinen ersten Yxtrang. Und dann seinen zweiten, dritten, vierten, fünften, sechsten und siebten. Sie standen aufmerksam am Rande einer schattigen Einbuchtung aus Büschen und Ästen genau über einem fast vertikalen Abhang.

Jeder trug eine Waffe, einige mehrere. Shan erkannte ein Scharfschützengewehr, vier Äquivalente zu Karabinern, eine schwere automatische Waffe und etwas, das wie eine Panzerfaust aussah.

Als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah Shan den achten Yxtrang. Er saß im Gebüsch, damit beschäftigt, sein linkes Bein zu schienen. Er stand auf, fiel fast hin, und ließ sich vorsichtig wieder auf den Boden sinken.

Wieder Stimmen, als zwei der Stehenden sich in die Einbuchtung lehnten, gefolgt von einem Schnarren, das wie ein Befehl klang.

Einer der Stehenden salutierte, die Faust schlug gegen die Schulter, dann ließen sich die sieben gesunden Yxtrang nieder, verschmolzen mit der Landschaft und bewegten sich fort.

Shan betrachtete den übrig gebliebenen Yxtrang, der seine Schiene gerichtet hatte und sich wieder auf die Füße stellte, indem er sein Gewehr als Krücke benutzte. Es kam ihm in den Sinn, ganz gelassen, dass ein Gewehr eine deutlich bessere Waffe war als ein Stock. Er sah Dustin an.

Es dauerte eine Weile, bis er den Corporal mental dazu bewegt hatte, seinen Wunsch zu erkennen, und es brauchte einiges an Energie, um die Gegenargumente zu unterdrücken, die in den braunen Augen des Mannes aufbegehrten.

Er bewegte sich langsam und leise über die Felsen und Zweige und kam in die Nähe des Busches. Er hatte einen Moment Schwindelgefühle, als er das steile Kliff hinunterstarrte, und wünschte sich in diesem Augenblick mit aller Kraft zurück auf die Passage, um niemals mehr der Mann sein zu müssen, der diesen Plan formuliert hatte und ihn auch noch durchführte.

Er schüttelte sich und kroch noch einige Zentimeter vorwärts, stellte sicher, dass er Ast und Messer sicher in den Händen hielt.

Der Yxtrang sah auf, überrascht von der plötzlichen Attacke auf seinen angeblich sicheren Platz, die dafür nützlichen Finger zu weit entfernt vom Abzug seines Gewehrs.

Shan bewegte sich, der Knüppel schwang in einem wissenden Bogen, schlug gegen die Hand, die am Gewehr fummelte. Der Soldat geriet aus dem Gleichgewicht, stützte sich auf sein verletztes Bein. Shan kam näher, der Stock hob sich schnell, um den Stoß des Yxtrang-Messers abzuwehren. Die Augen, die ihn in dem Moment ansahen, als der Knüppel die Kehle des Mannes zerquetschte, kannten keine Gnade.

Der Körper des Yxtrang flog über den Rand des Abgrunds, das Messer immer noch sinnlos in der verkrampften Hand.

Shan seufzte einmal, kurz und scharf, ehe er sich niederbeugte, um das Gewehr für sich zu reklamieren.

Flucht nach Lytaxin: Ein LIADEN-Roman
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