38 Seit dem Morgengrauen waren Jonathan und Thomas unterwegs gewesen. Von Cord hatte sie über Wiesen und Felder getrieben, Flüsse rauf und runter rudern lassen, mit Schwertern aufeinander gehetzt, Bibelzitate und Gesangsstrophen abgehört.
Kurz um, Jonathan war fix und fertig. Die Kammer, die er sich mit Thomas teilte, war muffig und düster, aber wenigstens war sie einigermaßen trocken und warm, was im Winter sicherlich nicht mehr der Fall sein würde.
Müde saß er auf einem kleinen Holzschemel vor einem einfachen Tisch und starrte auf das dort stehende große polierte Bronzekreuz. Nicht nur das Licht der wenigen Kerzen in der Kammer reflektierte auf der blanken Metalloberfläche, auch Thomas’ Feldbett war schemenhaft zu erkennen. Jonathans Freund war über seinen Bibelstudien eingeschlafen und atmete hörbar.
»Großer Gott, oh Herr«, flüsterte Jonathan dem Kreuz entgegen, »ich bitte dich, schließe die Seelen von Vater, Mutter und Corin in deine Arme und lege deine schützende Hand über Sophia«. Er öffnete den Mund, aber ihm fiel keine treffende Formulierung ein, für das, was er noch sagen wollte.
Hoffentlich hatte der liebe Gott auch genügend Geduld mit ihm. Was wäre, wenn Gott sich schon völlig genervt dem Abendgebet des nächsten Sünders zugewendet hätte, den Kopf schüttelnd darüber, dass Jonathan mal wieder nicht zur Sache kam. »Entschuldige, lieber Gott«, schob Jonathan hastig nach und faltete die Hände. »Ich möchte doch nur das richtige tun. Ein guter Mensch sein. Aber wie kann man das in einer Welt, die so kompliziert ist?«. Jonathans Flüsterstimme wurde brüchig. Und noch leiser, so, als ob ihm seine Worte unangenehm wären.
»Ich vermisse meine Familie«, sagte er fast unhörbar, »und ich vermisse Sophia. Bitte, bitte, hilf mir, großer gütiger Gott, dass ich sie«. Jonathans Stimme brach wieder. Er schnaufte. »Hilf mir sie zu vergessen«, brachte er schließlich heraus und vergrub sofort das Gesicht in seinen Händen.
Die Antwort kam umgehend und lautete »Chrrrrr«.
Jonathan drehte sich um, wischte sich die Augen trocken und betrachtete seinen neuen Freund Thomas, der immer noch die Bibel in der Hand hielt und gerade anfing zu schnarchen. Jonathan richtete sich auf und schmunzelte. So entspannt und friedlich schlafend wie Thomas dalag, sah sein Gesicht noch weicher und kindlicher aus, als ohnehin schon.
Jonathan machte einen Schritt durch die winzige Kammer und nahm vorsichtig die Bibel aus Thomas’ Hand. »Gute Nacht, Tom«, sagte er leise und grinste.
Gerade gestern hatten sie über Kurznamen diskutiert. Nun ja, erst hatten sie gestritten, nachdem Thomas sich nach einem verlorenen Kampf darüber echauffiert hatte, dass Jonathan ja wohl der dämlichste Name unter der Sonne wäre. »Jo-na-than«, hatte Thomas die einzelnen Silben immer wieder spöttisch überbetont, »Jooo-naaa-thaaan«. Das ging dann etwa eine halbe Stunde so und nach einer freundschaftlichen Rauferei in einer der Kapellen mit anschließend angeordnetem gemütlichen Fliesenschrubben hatte man sich auf einen Kompromiss geeinigt.
Kurznamen. Für Thomas war die Wahl Tom naheliegend, bei Jonathan war das schon schwieriger. Etliche saubere Fliesen weiter hatte man sich schließlich auf Joie geeinigt, wobei Jonathan darauf bestand, dass das Jo und das ie sauber voneinander getrennt ausgesprochen werden würden, also wie Jo-i, da er sonst eine schnelle Abdrift seiner Namensaussprache in Richtung Jauche befürchtete. Für diesen Hinweis war Thomas natürlich sehr dankbar gewesen, denn immer, wenn Tom schlechte Laune hätte, würde er Jonathan nun genau so nennen.
Ein Dickkopf ist er, dachte Jonathan und lächelte. Er nahm die Decke vom Fußende und zog sie langsam von unten über den Körper seines Freundes, hielt aber auf Höhe von Toms Armen inne.
Da war etwas auf Toms Unterarm, eine Zeichnung, von der nur eine kleine Ecke unter den hochgeschobenen Ärmeln zu sehen war. Jonathan nahm vorsichtig den Arm und legt das Bild frei.
Es war eine Tätowierung, so viel war klar, und die Haut um die Zeichnung herum war fast schwarz vor Dreck. Offensichtlich hatte Thomas die Stelle regelmäßig mit Kohle oder Schmutz eingerieben, damit man das nicht sonderlich kunstvoll gestochene Motiv nicht so schnell zu erkennen vermochte. Aber Jonathan kannte das Zeichen, das aus zwei um 60 Grad gegeneinander verdrehten, überlagerten Dreiecken bestand. Es war ein Stern, das Schild Davids oder Davids Stern genannt. Jonathans Kinnlade klappte herunter, ein Gehirnfass kippte um und tausende Gedankenblasen schwemmten durch seinen Kopf.
Tom war kein Christ!
Das war unfassbar.
Dann war Thomas auch bestimmt nicht sein richtiger Name. Und wenn der Hochmeister erfahren würde, dass ein Bruder in seinem Ritterorden Angehöriger des Volkes oder der Religionsgemeinschaft war, die Jesus Christus an die Römer verraten hatten - nicht auszudenken.
Seine Nase! Tom hatte gar keine große Nase, so wie Jonathan es kannte.
Es gab so viele schlimme Geschichten, von solchen wie Thomas, die Brunnen vergifteten und kleine Kinder zum Frühstück aßen. Aber das war natürlich alles Unsinn. Oder? Dywig hatte ihm von entsetzlichen Massakern erzählt, die man überall auf der Welt an Davids Volk verübt hatte. In Sevilla hatte man sie in Häuser gesperrt und lebendig verbrannt, in Frankreich vor zwei Jahren des gesamten Landes verwiesen.
Oh Mann. Was Tom wohl schon alles erlebt hatte?
Jonathan schauderte. Das Fass war leer und die letzten Gedankenblasen platzten. Der junge Giles sah in die sanften Züge seines Kameraden. Seines Kameraden? Seines Freundes? Er zog den Ärmel wieder über die Tätowierung und dann die Decke hoch bis zu Toms Kinn.
Möglicherweise war diese Begegnung eine gewichtige Prüfung. Nur das Jonathan nicht die geringste Ahnung hatte, wie die Antwort auf die Prüfung lautete. Er hatte nicht mal die geringste Ahnung, wie die Frage lautete.
»Gute Nacht, Tom«, flüsterte Jonathan und machte sich dann daran, die Kerzen zu löschen.