25 Das Portrait war jenseits einer gehörigen Frechheit. Es war einfach unglaublich. Eine Zumutung. Das Gekritzel auf dem kleinen Stück Pergament zeigte mehr Ähnlichkeit mit einem leprakranken Vampir, dem man fünf hochschwangere Igeldamen um den Kopf gebunden hatte, so zerzaust und unförmig wirkte die gemalte Gestalt.
Jonathan kicherte. Er nahm ein weiteres Mal Maß, indem er an dem Federkiel in seiner Hand vorbei auf Sophias Gesicht lugte. Die Haare, dachte sich Jonathan, die Haare stimmen noch nicht so ganz. Eifrig schwang er die Gänsefeder und zeichnete, was mit etwas Glück unter dem Begriff Sechster Igel des Schreckens in die Annalen98 grotesker Unfälle in der Porträtmalerei eingehen würde.
Sophia kritzelte derweil konzentriert auf ihrem eigenen Stückchen Pergament. Noch drei lange Schwünge für Jonathans Haare – fertig. »Los, zeigen«, forderte die Herzogin Jonathan auf und hüpfte aufgeregt auf ihrem Stuhl hin und her. »Du zuerst«, erwiderte Jonathan grinsend und hielt sich das Pergament schützend vor die Brust. Sophia zögerte einen Augenblick, dann gab sie ihr Werk preis.
»Nur drei Haare?«, prustete Jonathan los, als er das Bild sah. Die Zeichnung bestand nur aus ein paar Strichen, aber die Proportionen waren gar nicht so schlecht getroffen. Zumindest konnte man erkennen, dass es sich entweder um ein menschliches Wesen oder einen Auerochsen mit ausgerenktem Unterkiefer handeln musste, was man von Jonathans Gekritzel nicht gerade behaupten konnte. Jonathan drehte seine Zeichnung um und Sophia fiel die Kinnlade herunter.
Einen Augenblick später lagen Sophia und Jonathan gackernd und prustend auf dem Boden. Immer wenn sie dabei waren sich einigermaßen zu beruhigen, sahen sie wieder das Monster in Jonathans Zeichnung und wurden von weiteren Lachkrämpfen geschüttelt.
Es klopfte an der Tür. Das Lachen war augenblicklich vorbei. Die Herzogin fluchte leise und sauste zum nahen Balkon. Sie warf sich in einen großen Holzstuhl, schnappte sich ein auf dem Boden liegendes Buch und blätterte hektisch eine Seite auf. Jonathan machte zwei Sätze an die gegenüberliegende Wand und postierte sich diszipliniert, wie man es von einem Leibritter erwarten würde.
Es klopfe nochmals an der Tür. »Herein«, rief Sophia laut und fuhr sich noch rasch mit der Hand durch das Haar. Die Tür schwang auf und Catharine kam mit einem Krug auf einem Tablett herein. Die junge Hofdame passierte Jonathan, der ihr kurz zunickte, dann den Tisch, der glücklicherweise nicht nickte, aber auf dem sie natürlich die zwei Zeichnungen bemerkte. Catharine wusste sofort, was hier gespielt wurde.
»Ihre Abendmilch, Durchlaucht99«, servierte Catharine mit einem Knicks. »Danke«, sagte Sophia und räusperte sich, »stell sie hier her«. Die Hofdame stellte den Krug auf den nahezu stockdunklen Boden, nahm einen Bronzekelch aus einem nahen Regal und stellte ihn neben den Krug. »Soll ich ein paar Kerzen zum Lesen bringen, Durchlaucht?«, fragte Catharine mit einem freundlichen Lächeln, für das Sophia sie hätte würgen können. Es war tatsächlich so finster hier, dass es unmöglich war auch nur ein Wort zu lesen.
»Oh. Nein«, stammelte die Herzogin, »äh, ich war sowieso gerade fertig. Ein sehr langweiliges Buch. Ihr könnt jetzt gehen. Wartet, etwas Wein könnt ihr noch bringen«. Sophia schlug das Buch zu und warf es auf den Boden. Catharine verbeugte sich gehorsam und machte sich davon.
»Glaubst du, sie hat etwas gemerkt?«, flüsterte Jonathan laut durch den Raum hindurch. »Natürlich hat sie’s gemerkt«, stöhnte Sophia, »wir müssen vorsichtiger sein«. Sie stand auf und wanderte langsam zurück zu dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes, auf dem immer noch die Pergamente lagen. Jonathan kam ihr entgegen. »Wie du meinst«, flüsterte Jonathan etwas leiser, »dann wollen wir künftig vorsichtiger sein«. Er berührte sanft ihre Hand. Sie sahen sich an.
Und dann waren sie besonders vorsichtig und küssten sich. Zum ersten Mal.
Es war so wunderbar, dachte Jonathan und lustigerweise war es nicht das, was Sophia dachte, denn die konnte gar nicht mehr denken. Sie wollte auch gar nicht mehr denken, sich einfach nur fallen lassen und den Moment genießen. Sie umarmte Jonathan und presste…
Es klopfte an der Tür.
Für den Bruchteil eines Augenblickes, kurz nachdem Jonathan seine Lippen von denen Sophias gelöst hatte und sie mit aufgerissenen Augen anstarrte, überkam die Fürstin eine Vision. Sie sah Catharine und sechs Scharfrichter, die an der Hofdame vorbeistürmten und sich erbittert darüber stritten, welcher der Henker die vom Herzog zum Tode verurteilte Herzogin als erstes foltern, vierteilen, hängen, enthaupten, pfählen, noch mal hängen und schließlich rädern dürfe.
Interessanterweise hatte Jonathan eine sehr ähnliche Vision. Allerdings war seine Variante noch erheblich grauenhafter, denn in seiner Version hockte auf den Köpfen der sechs Scharfrichter jeweils ein dicker, blutlüsterner Igel mit glühenden Augen und langem, wehendem Fledermausumhang.
Jonathan und Sophia rannten auf ihre Positionen. »Herein!«, keuchte Sophia, als sie in ihrem Stuhl auf dem Balkon angekommen war und sich das Buch geschnappt hatte. Die Tür öffnete sich und Catharine kam mit einem Tablett herein. Sie passierte Jonathan und ihre Augenäpfel flitzten kurz zur Seite. Am Balkon angekommen, stellte sie einen Weinkrug vom Tablett auf den Boden.
»Das war aber flott, was Catharine?«, übte sich Sophia in freundlicher, aber beiläufiger Konversation und bemühte sich weder die Augenlider zu bösen, kleinen Schlitzen zu schließen, noch dem Impuls nachzugeben, Catherine mit dem Krug, dem geöffneten Buch oder der Gardinenstange eins überzubraten.
Catharine nickte dienstbeflissen und blieb dann mit ihrem Blick auf dem Buch in den Händen ihrer Herzogin hängen.
»Ja«, erwiderte Sophia panisch, »ich weiß. Nein. Keine Kerzen. Langweiliges Buch. Danke. Gute Nacht, Catharine«. Die junge Hofdame nickte nochmals und machte sich davon.
Als sich die Tür hinter Catharine schloss, seufzte Jonathan laut und Sophia schlug die Hände vor ihr Gesicht.
Einen Moment später standen sie sich wieder gegenüber und machten dort weiter, wo sie eben aufgehört hatten.